´Oumuamua
Eine "mörderische Angelegenheit" komme am 19. April 1951 ab 20:50 Uhr auf sie zu, hatte das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" die Hörer des damaligen Nordwestdeutschen Rundfunks in einem Vorbericht gewarnt:
"Am 1. Juni 1949 wurde in Dortmund ein Kind mit zwei Köpfen und drei Armen geboren. Der zuständige Standesbeamte hatte indessen lediglich die allerdings schwierige Frage zu entscheiden, ob eine oder zwei Geburten zu registrieren waren."
Nach diesem Prolog zur Einstimmung und als Zeichen, was alles in der Welt passieren kann, entfaltete Günter Eich in seinem vom Regisseur Fritz Schröder-Jahn realistisch dargebotenen Hörspiel "Träume" fünf Szenarien, die schon während der laufenden Sendung viele Hörer zum Telefon greifen ließen.
Gleich der erste Alptraum führte die unheimliche Situation eines Ehepaars vor, das vor 40 Jahren in den fensterlosen, früher offenbar zum Transport von Vieh benutzten Waggon eines Zuges gepfercht wurde und seither als mittlerweile »uralt« gewordenes Paar zusammen mit ihrem Enkel und dessen Frau und Kind auf ein unbekanntes Ziel zu rollt. Gelegentlich heranwehende Erinnerungen des Großvaters an das frühere Erlebnis der Welt, an Blumen, Tiere, an ein Bett oder den Geschmack von Wein lehnt der Enkel ab – weil er all diese Dinge nie gesehen und erlebt hat:
"Alles Wörter, Wörter – was sollen wir damit? Es gibt keine andere Welt außer dieser hier."
Im Funkhaus glühten Telefondrähte
Im zweiten Traum wurden die Zuhörer Zeuge, wie in China ein sechsjähriges Kind an eine reiche Familie verkauft wird, um geradezu kannibalisch »geschlachtet« zu werden – das Blut und die Innereien des Kindes werden anschließend einem kranken alten Mann als Heilnahrung serviert. Da liefen im Hamburger Funkhaus die Telefone heiß:
"Hallo!"
"Ja, bitte, Böning."
"Ja, bitte, Böning."
"Scheint mir höchste Zeit, dass da mal die Polizei einschreitet ... Das grenzt ja an Wahnsinn. So was in der heutigen schweren Zeit, wo jeder zu kämpfen hat, bringen Sie so was, dass es einem geradezu hochkommt. Ekelerregend ist das ja."
1951: Es war die Zeit, als der Korea-Krieg die Menschen ängstigte und viele in der jungen Bundesrepublik fürchteten, die gerade aufgegangene Wirtschaftswundersonne könne bald im Dritten Weltkrieg wieder untergehen. Dass Günter Eich angesichts dieser Welt- und Lebensstimmung darauf bestand, dass man sich dem Leiden, wo auch immer in der Welt, nicht versperren dürfe, hat seinerzeit sicher den ungeheuren Proteststurm mit hervorgerufen. Zu seiner Einsicht hat Eich sich auch später immer wieder bekannt:
"Sieht man das Leiden gar nicht, sondern das Leiden muss übersehen werden, wenn man überhaupt existieren will, es muss ununterbrochen davon weggesehen werden, dass in diesem Moment auf der Welt so und so viel Furchtbares passiert. Dass das nicht übersehen wird, das ist eigentlich mein Anliegen."
"Tappend im Nebel überkommt mich oft Furcht vorm Dickicht und vorm verborgenen Abgrund … Straßen, die kein Ziel haben, ein Gebiet ohne Ausweg, verfallene Markierung."
Da verlieren zwei russische Forscher im afrikanischen Urwald ihr Gedächtnis. Oder da entpuppt sich in New York innerhalb einer Familie das Leben als Fassade, ihre Körper nur noch verfaultes Fleisch, äußerlich und innerlich zerfressen von Termiten, deren Nagen als Hintergrundgeräusch zu hören ist.
"Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt"
Mann: "Jetzt sitzen sie mir am Herzen. Wenn Du mich anfasst, zerfalle ich … (entfernter Donner) Das Gewitter kommt näher. Das Haus wird zerfallen unter dem Donner."
Tochter: "Aber du doch nicht."
Mann: "Ich auch." (Lautes Gewitter und ein Entsetzensschrei der Tochter)
Tochter: "Aber du doch nicht."
Mann: "Ich auch." (Lautes Gewitter und ein Entsetzensschrei der Tochter)
Nach der Ursendung des Hörspiels hat Günter Eich als Schlusswort noch einige Gedicht-Verse hinzugefügt, die heute die Druckfassung des Textes beschließen:
"Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! / Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt."