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Vor 75 Jahren brach in New York die Börse zusammen

Thomas Heyer: Es war der 24. Oktober 1929, heute vor genau 75 Jahren. In New York brach die Börse zusammen. Es war der erste große Crash und der Beginn einer Wirtschaftsdepression, wie sie die Welt bis dahin noch nie erlebt hatte. Es war, wenn man so will, die erste große Krise der Globalisierung. Der 24. Oktober 1929, das war ein Donnerstag, und er sollte zum schwarzen Freitag der Weltwirtschaftsgeschichte werden. Professor Carl-Ludwig Holtfrerich, Wirtschaftswissenschaftler an der Freien Universität in Berlin, eine Reihe von Aufsätzen und Büchern zur Weltwirtschaftskrise haben Sie publiziert. Sie kennen sich aus mit diesem Thema wie kaum ein anderer. Wie erklärt sich, dass der Donnerstag als "Schwarzer Freitag" in die Geschichte einging?

    Carl-Ludwig Holtfrerich: Ja, das erklärt sich durch eine Verwechslung. Es hatte zwei Jahre zuvor in Deutschland einen Börsencrash auf Deutschland beschränkt gegeben, und das war an einem Freitag. Deswegen war in Deutschland der Name "Schwarzer Freitag" bekannt und ist auf diese Weise auf den Crash an jenem Donnerstag in New York übertragen worden.

    Heyer: Inwiefern war dieser Börsencrash denn tatsächlich die erste Krise der Globalisierung, wenn man so will?

    Holtfrerich: Ja, da würde ich Ihnen widersprechen. Die erste Krise der Globalisierung hat bereits im 19. Jahrhundert stattgefunden. Man spricht von der ersten Weltwirtschaftskrise als der, die 1857 stattgefunden hat und alle Länder Europas und die USA erfasst hatte.

    Heyer: Was war das damals ganz genau? Was ist da passiert? In New York fielen die Kurse, und das Ende der zwanziger Jahre war eingeläutet. Dieser Börsenunfall hatte enorme Auswirkungen auf die reale Wirtschaft.

    Holfrerich: Ja, darüber können wir noch streiten. Tatsache ist, dass es zuvor eine Überspekulation gegeben hatte. Das kann man an dem Kursgewinnverhältnis ablesen, das war auf einem absoluten Rekordniveau für damalige Zeiten. Inzwischen ist das sicher übertroffen worden, darüber können wir auch noch sprechen. Aber es ist zu bezweifeln, dass der Aktiencrash allein die Ursache der großen Weltwirtschaftskrise war.

    Heyer: Also hat man damals auf den Crash nur falsch reagiert, oder wie?

    Holtfrerich: Ja, man hat schon in der richtigen Richtung reagiert. Die Fed hat beispielsweise die Leitzinssätze gesenkt im November und danach, aber man hat eben nicht genügend reagiert. Das Problem war, dass bis zu dem Höhepunkt der Krise im Jahre 1932/33 die Geldmenge der amerikanischen Wirtschaft geschrumpft ist, und zwar drastisch geschrumpft ist, und dies ist zugelassen worden. Das ist praktisch auch dadurch zu Stande gekommen, dass Leute ihre Gelder von den Banken abgezogen haben, die Banken sind Bankrott gegangen, und das führt natürlich zu einem Schrumpfen der Geldmenge, wenn es nicht auf andere Weise von der Zentralbank kompensiert wird.

    Heyer: Dieser Börsenunfall hatte enorme Auswirkungen auf die reale Wirtschaft, habe ich eben gesagt. Da haben Sie entgegnet, darüber kann man noch streiten. Warum streiten?

    Holtfrerich: Weil die meisten Notenbanker damals in Amerika bei der Fed und auch Präsident Huber der Meinung waren, dass der Finanzsektor, also die Aktienkurse das eine sind, dass aber die Amerika Wirtschaft im Grunde genommen gesund sei und dass das wenig Auswirkungen auf die reale Wirtschaft haben würde. Das ist natürlich eine überspitzte Meinung. Ich teile sie nicht ganz, denn wenn es einen Crash gibt, dann fällt es den Unternehmen schwerer, sich zu refinanzieren, weil sie nicht mehr so leicht Kapitalerhöhungen machen können, und gerade in Amerika ist das der Weg, um sich Kapital oder Geld von außerhalb der Firma zu beschaffen. Insofern hat es schon einige Auswirkungen gehabt, aber es wäre alles nicht so schlimm gekommen, wenn eine bessere Geldpolitik gemacht worden wäre.

    Heyer: Warum brachen die Kurse ausgerechnet an diesem 24. Oktober 1929 denn derart zusammen?

    Holtfrerich: Ja, dazu gibt es verschiedene Theorien. Die eine Theorie ist, dass ja die Leitzinsen seit der zweiten Jahreshälfte 1928 mehrfach erhöht worden waren, weil die Fed diese Überspekulation bremsen wollte, obwohl es sonst keine inflationären Anzeichen in der amerikanischen Wirtschaft gab. Dass es genau an jenem Tag zum Crash kam, dafür gibt es auch verschiedene Erklärungen. Die eine ist, dass eine entscheidende Sitzung eines Ausschusses im amerikanischen Kongress am Tag zuvor stattgefunden hatte, in der es um eine drastische Vollsatzerhöhung ging, und das soll die Anleger so verunsichert haben, dass sie auch die Überspekulation erkannt haben und sich dann eben von Aktien trennten. Wenn einmal eine solche Baisse-Stimmung an der Börse herrscht, dann springen natürlich viele andere auf diesen Zug auf, und dann kann es sehr schnell zu einem Kollaps kommen.

    Heyer: Dann herrscht einfach schlechte Stimmung. Sie haben sich auch mit den Parallelen zur aktuellen Situation der Weltbörsen beschäftigt, unter anderem auch 1999 auf einem Symposium der Akademie für politische Bildung in Tutzing gewarnt. Da befanden sich noch viele im Börsenfieber. Aber warum ist der Crash zu Beginn des neuen Jahrtausends nur schwer vergleichbar mit dem, was da vor 75 Jahren in New York passiert ist?

    Holtfrerich: Erstens, die Überspekulation, die sich in den neunziger Jahren gebildet hatte, war noch viel größer als die in den zwanziger Jahren. Das Kursgewinnverhältnis war nach einer Studie des Amerikaners Robert Shiller ungefähr doppelt so hoch wie es im Oktober 1929 gewesen war, und der Schiller hat das im Jahr 2000 vor dem Crash veröffentlicht und davor gewarnt, auf diesem Zug weiterzufahren. Das andere ist, dass die Auswirkungen auf den realen Sektor der Wirtschaft wesentlich geringer waren. Es gab eben nicht die Rückgänge im Preisniveau um 30 Prozent ungefähr wie Anfang der dreißiger Jahre. Es gab eben nicht die hohen negativen Wachstumsraten, also das Schrumpfen der Wirtschaft, sondern es war ein Einbruch bei den Wachstumsraten. Die Wachstumsraten sind seit 2000 unbefriedigend geblieben.

    Heyer: Anders als 1929 - Sie haben es gerade angedeutet - haben die Crashs der jüngsten Vergangenheit kaum Auswirkungen auf die reale Wirtschaft gehabt. Heute scheint es, als führten die Schlagzeilen der Vergangenheit, die Schlagzeilen, die global vernetzte Unternehmen ja nun machen - Siemens, Daimler, Opel und andere -, dass die Börse vor sich hindümpelt, Börsenfantasie kaum mehr eine Rolle spielt. Ist es so?

    Holtfrerich: Das würde ich nicht sagen. Wenn Sie in neue Industrien reingehen, zum Beispiel Google, da hat es seit dem Börsengang vor ein paar Wochen eine Explosion der Kurse auf das Doppelte gegeben. Also bei neuen Unternehmen spielen solche Fantasien noch immer eine große Rolle. Das hat einen Dämpfer bekommen durch das Ende der New Economy, also des Internetbooms usw., aber das scheint auch wieder anzulaufen bei modernen Industrien. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass die Industrien, die damals eine große Rolle gespielt haben, also Automobilindustrie, Elektroindustrie usw., das waren eben damals die modernen Industrien. Heute ist eine Automobilindustrie etwas anderes.

    Heyer: Kann sich ein schwarzer Freitag denn Ihrer Meinung nach wiederholen, Börse in der Hand der Märkte, oder Märkte in der Hand der Börse wie 1929?

    Holftrerich: Die Notenbanken haben heute ganz andere Möglichkeiten, die Auswirkungen zu bremsen, und das haben sie auch genutzt. Das haben Sie gesehen bei dem Crash 1987, als Alan Greenspan gerade die Regie übernommen hatte in der Fed, und das haben Sie gesehen nach dem Jahr 2000. Geldpolitik hat gegengesteuert, sie hat der Wirtschaft Liquidität bereitgestellt, die Leitzinsen in Amerika drastisch gesenkt, und dadurch sind die Auswirkungen abgemildert worden. In bestimmten Bereichen, in denen es ja nach 1929 zu ganz großen Einbrüchen gekommen ist, hat es diesmal gar keinen Einbruch gegeben. Ich nenne nur den Immobiliensektor. In Deutschland sind die Preise rückläufig gewesen, aber das waren sie seit der ersten Hälfte der neunziger Jahre. Aber in den USA, in Großbritannien, in den Niederlanden und in vielen anderen Ländern sind die Immobilienpreise weiter gestiegen.

    Heyer: Wenn wir den Fachmann jetzt schon am Telefon haben, dann sind wir natürlich alle neugierig, in welchen Markt, in welche Aktien, in welchen Sektor würden Sie denn unbedingt investieren?

    Holtfrerich: Ich halte überhaupt nichts davon, in Aktien zu investieren.

    Heyer: Die Frage kann ich anders stellen: Wann haben Sie aufgehört, selber in Aktien zu investieren, spätestens nach Ihrer Habilitation oder schon vorher?

    Holtfrerich: Ich habe zum letzten Mal ungefähr Mitte der neunziger Jahre Aktien gehabt, und da zeichnete sich für mich schon ab, dass das Ganze in eine Überspekulation reingehen würde. Außerdem soll man in Aktien nicht investieren, weil man denkt, man könne in kurzer Zeit durch Kurssteigerung sehr viel Geld verdienen, und so muss man denken. Diese Aufs und Abs, die können irgendwelche Anlageexperten bei der Bank vielleicht nutzen, aber die sollte man als Privatmann möglichst meiden.

    Heyer: Vielen Dank für das Gespräch.