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Vor 75 Jahren
Die Befreiung Leningrads durch die Rote Armee

Am 27. Januar 1944 gelang es der Roten Armee, den deutschen Belagerungsring um Leningrad zu sprengen und die Stadt an der Newa, das heutige St. Petersburg, zu befreien. Fast 900 Tage hatte die Belagerung angedauert und unermessliches Leid über die Menschen in der Stadt und in der Region gebracht.

Von Bernd Ulrich |
    Zwei weibliche Personen sammeln aus Hunger Überreste von toten Pferden während der Leningrader Belagerung auf.
    Hunger: Zwei Frauen sammeln während der Leningrader Belagerung Überreste von Pferdekadavern auf (imago / United Archives International)
    "Hier ist Leningrad. 27. Januar 1944, am Abend, 7 Uhr 59. Noch eine Minute bis zum Siegessalut Leningrads."
    Es werden 324 Salutschüsse sein, die von den Geschützen der Roten Armee verschossen werden. Kurz zuvor waren die letzten Kämpfe um die Befreiung Leningrads, dem heutigen St. Petersburg, siegreich zuende gegangen. Und mit ihnen die 872 Tage der Belagerung, die nach der Einschließung der Stadt durch die Wehrmacht am 8. September 1941 durchlitten werden mussten. Insgesamt fast eine Million tote Menschen waren zu beklagen, Soldaten und Zivilisten, davon nahezu eine halbe Million Hungertote. In einem vom sowjetischen Geheimdienst festgehaltenen und zensierten Brief eines Leningrader Bürgers heißt es:
    "Wir haben uns in eine Herde hungriger Bestien verwandelt. Wenn du auf der Straße gehst, begegnest du Menschen, die wie Betrunkene schwanken, plötzlich umfallen und sterben."
    Stärkster Gegner: Hunger
    Die höchste Todesrate durch den Hunger war im Januar 1942 zu verzeichnen, als binnen eines Monats über 96.000 Menschen starben. Die Literaturkritikerin und Historikerin Lydia Ginzburg, - eine Überlebende, die beim Leningrader Radiodienst arbeitete, bis ihr Anfang 1943 aus antisemitischen Motiven gekündigt worden war -, schrieb in ihren "Aufzeichnungen eines Blockademenschen":
    "Weshalb war der Hunger der stärkste Gegner? Weil Hunger permanent gegenwärtig ist, sich nicht abstellen lässt. Er ist überall anwesend und macht sich unaufhörlich bemerkbar; am qualvollsten, am schlimmsten ist er während des Essens, wenn sich das Essen mit entsetzlicher Geschwindigkeit dem Ende nähert, ohne den Hunger zu stillen."
    Kaum überraschend, dass solche Schrecken ihre Spuren in der Literatur und in der Musik hinterlassen haben. Am bekanntesten dürfte die 7. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch sein, deren erste Sätze er noch im belagerten Leningrad komponiert hatte.
    Schostakowitsch erinnerte auch an den Mut und die Kraft der Leningrader. Jedenfalls jener, die in der Stadt an der Newa bleiben mussten. Die Evakuierungen begannen bereits Ende November 1941. Es flüchteten in erster Linie Frauen mit Kindern, Kranke, Verwundete und Invaliden. Sie taten gut daran. Denn schon kurz nach Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion war klar geworden: Die Deutschen planten im Rahmen eines gigantischen Massenmordes auch den Genozid an den Bürgern russischer Städte im Allgemeinen und den Moskaus und des damaligen Leningrads im Besonderen. In einer von Hitler angeordneten geheimen Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht hieß es am
    22. September 1941 unter anderem:
    "Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden zu vertilgen. Die Stadt ist mit einem festen Ring zu umschließen und durch Artilleriefeuer aller Kaliber und pausenlose Luftangriffe dem Erdboden gleichzumachen. Wenn das dazu führt, daß die Kapitulation der Stadt angeboten wird, ist dies abzulehnen."
    Stalinscher Terror gegen die eigene Bevölkerung
    Stalin hatte sofort die Verteidigung Leningrads angeordnet. Zu Tausenden wurden schlecht bewaffnete Volkswehren gegen den Feind in Marsch gesetzt - und verreckten elend. Auch der stalinsche Terror gegen die eigene Bevölkerung ging weiter. Der ganze Zorn der jungen Medizinstudentin Rimma Nerakova richtete sich auf das Haus des NKWD, des "Volkskommissariats des Innern":
    "Wie alle Leningrader hofften wir inbrünstig, dass Bomben auf das NKWD Gebäude fallen und sämtliche Unterlagen zerstören würden. Aber es blieb mit seinem eindrucksvollen Marmoreingang - enorm und schrecklich - einfach stehen."
    Die Inhaftierten wurden gefoltert, exekutiert oder verhungerten. Allein im Krestny-Gefängnis am Finnischen Bahnhof starben seit Mitte Oktober 1941 binnen zweier Monate fast 2000 Menschen. Der städtische Statistikdienst berichtete:
    "Täglich holten wir 25 bis 40 Verstorbene heraus. Das Innere ihrer Kleidung war mit einer sich bewegenden Läusekruste bedeckt. Wir trugen die Leichen hinaus in den Hof, wo sie auf Lastwagen geladen und dann fortgebracht wurden. Schließlich gab es niemanden mehr, den man einschließen konnte."
    Aber es gab noch mehr Gefängnisse in der Stadt. Und - der Terror endete auch nicht nach der Befreiung Leningrads. Für viele Bewohner aber stand am 27. Januar 1944 die Vertreibung der "Faschisten" im Mittelpunkt. Wenigstens von dieser Geißel gelang die Befreiung.