"Ein stiller, unermüdlicher Organisator war er, ein kühler Historiker, ein leidenschaftlicher Archivar, ein erstaunlich beherrschter und zielbewußter Mann."
So charakterisierte Marcel Reich-Ranicki in seiner Autobiografie Emanuel Ringelblum. Jenen Mann, der in dem von den Nazis eingerichteten Warschauer Getto ein geheimes jüdisches Archiv begründet hat, mit vielen Helfern und trotz aller Widrigkeiten. "Oyneg Shabbat", Freude am Shabbat, so der Tarnname der bald "Ringelblum Archiv" genannten Sammlung.
Der Osteuropahistoriker Samuel Kassow charakterisiert in seinem Buch "Ringelblums Vermächtnis" die Motive der Archivare:
"Zu ihrer Mission gehörte es auch, künftige Generationen daran zu erinnern, dass sie Individuen gewesen waren. Verständnis und Erinnerung sollten nicht nur die kollektive Katastrophe würdigen, sondern auch die individuellen Existenzen, die auszulöschen Absicht der Deutschen war."
Leid und Alltag dokumentieren
Neben der Organisation von Hausgemeinschaften, Suppenküchen oder Kinderheimen zielte Ringelblum darauf ab, alles zu sammeln, was den grauenhaften Alltag der Juden im Getto und die Verbrechen ihrer deutschen Mörder zu dokumentieren wusste: Anordnungen, Befehle, Passierscheine, Arbeitsbescheinigungen, aber auch Untergrundzeitungen, Einladungen zu Konzerten und Vorträgen, Tagebücher, Briefe, Zeichnungen, Fotografien und nicht zuletzt zahllose Schreibhefte, in die Ringelblum und seine Helfer eintrugen, was Gettobewohner beobachtet hatten und hoffen konnten. Das begann bereits im November 1940, als das Getto von den Deutschen errichtet wurde. Eine Frau erinnerte sich an den Bau der Gettomauer:
"Von Nazisoldaten bewacht, schichten jüdische Maurer Ziegel auf Ziegel. Wenn einer nicht schnell genug arbeitet, wird er von den Aufsehern geschlagen. Das Gespenst des Hungertodes steht uns allen vor Augen."
Ein Archiv versteckt in Milchkannen
Emanuel Ringelblum, geboren am 12. November 1900 in Ostgalizien, Gymnasiallehrer, Publizist, promovierter Historiker und ein engagierter sozialistisch-zionistischer Politiker. Schon vor Beginn des deutschen Überfalls auf die Republik Polen am 1. September 1939 hatte Ringelblum begonnen, ein konspiratives Netz zu gründen, immer in der Absicht, jüdischen Mitmenschen zu helfen, ihren Widerstand zu wecken und ihre Würde zu schützen. Deshalb sorgte er auch dafür, dass das Archiv versteckt und schließlich, verpackt in Metallkästen und Milchkannen, auf dem Gettogelände vergraben wurde. Fast 25.000 Blatt umfasste die Sammlung schließlich – jedenfalls konnte soviel Material nach 1945 gesichert werden. Die Nachwelt sollte einst von der von Demütigungen, Hunger und Deportation bedrohten Existenz fast einer halben Million Gettobewohner erfahren. Dabei war sich Wladyslaw Bartoszewski – der 2015 gestorbene polnische Widerstandkämpfer, Historiker und Politiker – anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung über das Ringelblum-Archiv sicher:
"Es sind Beweise, diese konkreten Texte, Schilderungen, waren nicht unbekannt den entsprechenden politischen Kreisen Großbritanniens im Kriege schon. Dank guter Zusammenarbeit dieser Gruppe der heldenhaften, mutigen Menschen im Getto."
Eigene Geschichte schreiben
Tatsächlich berichtete die BBC erstmals im Juni 1942 über die von "Oyneg Shabbat" dokumentierte systematische Ermordung polnischer Juden. Einer von zwei jungen Männern, die das Archiv in Sicherheit brachten, der damals 19-jährige und kurz darauf im deutschen Vernichtungslager Treblinka ermordete David Graber, hat der Nachwelt in einem der Kästen eine Nachricht hinterlassen:
"Nur zu gerne würde ich den Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird und der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreit. Möge dieser Schatz in gute Hände fallen, möge er bis in bessere Zeiten überdauern, möge er die Welt alarmieren und auf das aufmerksam machen, was geschehen ist im 20. Jahrhundert."
Das geheime Archiv konnte zu großen Teilen gerettet werden. Es bildet die Antwort auf die Fragen, die Ringelblum einst gestellt hatte:
"Wer schreibt unsere Geschichte? Wie können wir sicherstellen, dass unsere Erlebnisse, unsere Traditionen, unser Leid durch unsere eigenen Zeugnisse und nicht nur aus der menschenverachtenden Perspektive der Nazis überliefert werden?"
Emanuel Ringelblum wurde am 7. März 1944 - gemeinsam mit seiner Frau Józia Yehudit und seinem Sohn Uri - von seinen deutschen Verfolgern festgenommen. Der Vater kam mit Uri in die Männerabteilung, Yehudit in den Frauentrakt des berüchtigten Pawiak Gefängnisses in Warschau. Kurz darauf wurde die Familie ermordet.