"Er wollte es ihnen leichter machen. Sie würden aufs Land fahren, ein Grund zur Freude, erklärte er den Waisenkindern. Endlich könnten sie die abscheulichen, stickigen Mauern gegen Wiesen eintauschen, auf denen Blumen wüchsen, gegen Bäche, in denen man würde baden können, gegen Wälder, wo es so viele Beeren und Pilze gäbe. ... Die kleine Kolonne führte ein SS-Mann an, der als Deutscher Kinder liebte, selbst solche, die er in Kürze ins Jenseits befördern würde."
Das Warschauer Ghetto am 5. August 1942. Zeuge des Todesmarsches von 200 Waisenkindern wurde der Pianist und Komponist Władysław Szpilman. Gemeinsam mit Erziehern und dem Leiter des jüdischen Waisenhauses, dem in ganz Polen bekannten Arzt, Pädagogen und Schriftsteller Janusz Korczak, brach die Kinderkolonne zum sogenannten Umschlagplatz auf, dem Verladebahnhof vor dem Warschauer Ghetto. Transporte von dort führten nur in das Vernichtungslager Treblinka II. Dann verlor sich ihre Spur ...
"Ohne eine heitere, echte Kindheit ist das ganze spätere Leben verkrüppelt"
Geboren wurde Henryk Goldszmit, so Korczaks eigentlicher Name, am 22. Juli 1878 oder 1879 in einer assimilierten jüdischen Familie in Warschau. Als der frühe Tod des Vaters 1896 die Familie in finanzielle Schwierigkeiten stürzte, gab er Nachhilfestunden, um zum Unterhalt beizutragen – vielleicht entdeckte er dabei sein pädagogisches Talent. Er studierte Medizin in Warschau, arbeitete anschließend als Kinderarzt in einem Warschauer Krankenhaus und bildete sich in Berlin, Paris und London weiter, bevor er sein Leben den Schwächsten und Ausgestoßenen der Gesellschaft widmete: den Waisenkindern.
"Ohne eine heitere, echte Kindheit ist das ganze spätere Leben verkrüppelt."
1896 debütierte er mit ersten Texten und gewann 1899 einen literarischen Wettbewerb unter dem Pseudonym "Janusz Korczak", das er fortan beibehielt. Er schrieb Kinder- und Jugendbücher und meldete sich in zahlreichen pädagogischen Werken und Artikeln als Verteidiger der Kinder zu Wort. Sein wichtigster pädagogischer Leitfaden entstand während des Armeedienstes im Ersten Weltkrieg: "Wie man ein Kind lieben soll". Darin heißt es:
"Ein Kind hat das Recht zu wollen, zu mahnen, zu fordern - es hat das Recht zu wachsen und zu reifen und, wenn es reif geworden ist, Früchte zu bringen."
Als ihm 1912 die Leitung des jüdischen Waisenhauses "Dom Sierot" in der Warschauer Krochmalnastraße angeboten wurde, sagte er zu und gab den Arztberuf auf. Korczak entwickelte ein System demokratischen Zusammenlebens, das die Kinder aktiv einbezog. Sie sollten, ihrem Alter angemessen, so viel wie möglich selbst entscheiden. Reformpädagogen aus der ganzen Welt kamen zu ihm zu Besuch.
Mitte der 30er-Jahre bot ihm der polnische Rundfunk eine Radiosendung an. Jeden Donnerstag nachmittag sprach er als "alter Doktor" 15 Minuten lang mit Kindern. Als seine Identität bekannt wurde, scheiterte eine Vertragsverlängerung - vielleicht auf Betreiben von Antisemiten im Rundfunk. Zweimal reiste Korczak nach Palästina und dachte darüber nach, Polen zu verlassen. Er entschied sich für das Bleiben.
Nach dem deutschen Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges richteten Hitlers Truppen ab Oktober 1940 in Warschau ein Ghetto für die jüdischen Bewohner der Stadt ein. Auch das Waisenhaus "Dom Sierot" musste dorthin umziehen. Korczak wurde verhaftet und kam nach Monaten gebrochen wieder. 1942 begann der planmäßige Abtransport der Ghettobewohner in Vernichtungslager.
Er hielt seinen Schutzbefohlenen die Treue
Am Morgen des 5. August 1942 drangen Nationalsozialisten in das Haus in der Śliska-Straße ein, in dem die Kinder untergebracht waren. Innerhalb weniger Minuten mussten sie zum Abmarsch bereit stehen. Noch am Bahnhof hätte Korczak gehen können, aber er hielt seinen Schutzbefohlenen die Treue – bis zuletzt. Er, der Freund und Beschützer der Kinder, schaffte es, ihnen noch zuletzt die Angst zu nehmen – so stellte es sich Władysław Szpilman vor:
"Bestimmt hat der 'Alte Doktor' noch in der Gaskammer, als das Zyklon schon die kindlichen Kehlen würgte und in den Herzen der Waisen Angst an die Stelle von Freude und Hoffnung trat, mit letzter Anstrengung geflüstert: 'Nichts, das ist nichts, Kinder' um wenigstens seinen kleinen Zöglingen den Schrecken des Übergangs vom Leben in den Tod zu ersparen."