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Vor 75 Jahren: Erste Ausgabe der "Frankfurter Hefte"
Debattenkultur in der jungen Bundesrepublik

Die Hoffnung auf einen christlichen Sozialismus trieb Eugen Kogon und Walter Dirks an, als sie am 1. April 1946 das erste ihrer "Frankfurter Hefte" herausgaben. Die Zeitschrift wurde zu einem wichtigen Debatten-Forum der frühen Bundesrepublik – das sich als erstaunlich langlebig erwies.

Von Rolf Wiggershaus |
    Kogon war von 1949 bis 1953 der erste Präsident der Europa-Union in Deutschland. Er wurde am 2. Februar 1903 in München geboren und starb am 24. Dezember 1987 in Falkenstein (Taunus).
    Eugen Kogon Mitbegründer der "Frankfurter Hefte" während eines Vortrags 1949 (picture alliance / dpa / Günter Bratke)
    "Wir waren Christen, die sich für die Erneuerung der Kirche einsetzten; für die gesellschaftlichen Strukturen aber, die alle angehen, Christen, Juden und Heiden alter und neuer Prägung, hatten wir nicht spezifisch christliche, wohl aber übergreifende humane Lösungen anzubieten. Sie liefen auf einen ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ hinaus, wie er bisher noch von keinem Staat der Welt verwirklicht worden ist."
    Mit emphatischen Sätzen kündigten Eugen Kogon und Walter Dirks 1984 in der Oktober-Nummer der "Frankfurter Hefte" das Ende der von ihnen herausgegebenen "Zeitschrift für Kultur und Politik" an. Einige Monate vorher hatte Kogon in einer Radiosendung noch begeistert von den Anfängen der erstmals am 1. April 1946 erschienenen Zeitschrift geschwärmt:
    "Meine Damen und Herren, wir hatten 70 000 Abonnenten und hätten sicherlich 200 000 haben können, wenn wir genügend Papier besessen hätten. Es war die aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurückkehrende jüngere Generation, die sich neu orientierte und diese Zeitschriften wirklich las, und wir hatten wirklichen Einfluss."

    Sendungsbewusster österreichischer Publizist


    Die "Frankfurter Hefte" gehörten zu den ersten von den Alliierten lizensierten Publikationen, und sie erwiesen sich als eine der langlebigsten. Für die Gründer, Herausgeber und häufig auch Autoren Kogon und Dirks hatten sie geradezu existenzielle Bedeutung.
    Eugen Kogon - unbequemer Mahner und Menschenfreund
    Nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald schrieb Eugen Kogon ein Buch über den Terror des Naziregimes, das zum Standardwerk wurde. Für die junge Bundesrepublik war er ein hoch geachteter Vordenker, der für eine gemeinsame europäische Gesellschaft und gegen die Atomrüstung eintrat. Eugen Kogon starb am 24. Dezember 1987.

    Eugen Kogon, 1903 in München geboren als unehelicher Sohn einer jüdischen Ärztin, war bei Pflegeeltern und in katholischen Internaten groß geworden. Das Studium beschloss er 1927 in Wien mit einer Dissertation über "Faschismus und Korporativstaat". Er wurde ein sendungsbewusster österreichischer Publizist, der später im Rückblick auf seine Jahre als Redakteur der "Schöneren Zukunft" meinte:
    "Das war ein großes katholisches Wochenblatt, das eine gründliche antikapitalistische Sozialreform wollte, aber in jeder anderen Hinsicht sehr konservativ war, zum Beispiel gegen den parlamentarischen Staat."

    Kogons Standardwerk "Der SS-Staat"

    Beim Einmarsch deutscher Truppen in Wien 1938 wurde Kogon sofort verhaftet. Es folgten sieben Jahre im Konzentrationslager Buchenwald. Nach der Befreiung durch die U.S. Army verfasste ein von Kogon geleitetes Team früherer Häftlinge einen Bericht über das Lager. Er wurde zu einer der Grundlagen für Kogons Buch "Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager". Dessen letztes Kapitel bildete unter dem Titel "Gericht und Gewissen" Kogons Beitrag zur ersten Nummer der "Frankfurter Hefte". Es war der Beitrag eines Autors, der von sich sagte, er könne nicht hassen:
    "Ein Volk, das in luftkriegsgeschlagenen Städten allüberall die verkohlten Reste seiner Frauen und Kinder gesehen hatte, konnte durch die massierten Haufen nackter Leichen, die ihm aus den letzten Zeiten der Konzentrationslager vor Augen geführt wurden, nicht erschüttert werden, und es war nur allzu leicht geneigt, hartgeworden die toten Fremden und Verfemten mitleidsloser anzusehen als das eigene in Phosphorregen und Granatsplitterhagel getötete Fleisch und Blut."
    Ein Schwarzweißbild zeigt einen Mann mit Hornbrille an einem Schreibtisch vor einem Bücherregal sitzend 
    Walter Dirks, Mitbegründer der "Frankfurter Hefte" 1975 an seinem Arbeitsplatz in Freiburg (dpa)

    Projekt eines christlichen Sozialismus

    Die Hoffnung auf einen Neuanfang im Zeichen eines christlichen Sozialismus teilte Kogon mit Walter Dirks, für den diese Kombination allerdings eine Bedeutung mit stärker klassenkämpferischen und marxistischen Anklängen hatte. Der 1901 in Hörde bei Dortmund geborene Sohn aus verarmtem bürgerlichem Elternhause hatte ein Theologiestudium abgebrochen und wurde u. a. Mitarbeiter der linkskatholischen "Rhein-Mainischen Volkszeitung". Nach dem Zweiten Weltkrieg sah er wie Kogon die beste Chance, sich für das Projekt eines christlichen Sozialismus einzusetzen, in einer Zeitschrift, die eine offene Plattform für die Diskussion eines "Dritten Weges" jenseits von Kapitalismus und Kommunismus bot. "Die Zweite Republik. Zum Ziel und zum Weg der deutschen Demokratie" lautete der Titel seines programmatischen Beitrags zur ersten Nummer der "Frankfurter Hefte". Charakteristisch für Dirks war die Idee einer geradezu revolutionären Rolle des Christentums.
    Während des zweiten Tages des Bundesparteitags der Christlich-Demokratischen Union (CDU) spricht Kurt Georg Kiesinger über das Thema "Der geschichtliche Auftrag der CDU". Vom 20. bis 22. Oktober 1950 hielt die CDU im Odeonsaal der alten Kaiserstadt Goslar ihren ersten Bundesparteitag seit ihrer Gründung 1945 ab. 
    1945 - Christliche Enteignungsforderungen und die Anfänge der CDU
    Vor 75 Jahren gründete sich in Berlin die CDU. Die Partei suchte einen Dritten Weg zwischen einer Restauration der bürgerlichen Gesellschaft und dem Sozialismus, zur verbindenden Klammer wurde dabei das Christentum. Konrad Adenauer brachte die Partei später auf einen marktwirtschaftlicheren Kurs.
    Nach der baldigen Enttäuschung solcher Hoffnungen blieben die "Frankfurter Hefte" eine offene Diskussionsplattform. Als wegen zu geringer Verkaufszahlen 1984 das Ende bereits angekündigt war, fanden sie Zuflucht bei der sozialdemokratischen Zeitschrift "Die Neue Gesellschaft", die seit 1985 "Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte" heißt.