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Vor 75 Jahren in Auschwitz
Der Tod der jüdischen Ärztin Lilli Jahn

Am 19. Juni 1944 starb die jüdische Ärztin Lilli Jahn in Auschwitz. Ihr nichtjüdischer Ehemann hatte sich von ihr scheiden lassen und sie damit dem Zugriff der Nazis preisgegeben. Die Briefe, die sich Lilli Jahn während ihrer Haft mit ihren Kindern schrieb, sind ein bewegendes Zeugnis des Holocaust.

Von Volker Ullrich |
    "Arbeit macht frei" steht über einem Tor zum ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz.
    Vor ihrer Deportation nach Auschwitz gelang es Lilli Jahn, die Briefe von ihren Kindern aus dem Lager Breitenau hinauszuschmuggeln (picture alliance / Bernd Thissen)
    Im März 1944 wurde Lilli Jahn, eine deutsche Ärztin jüdischen Glaubens, mit einem Sammeltransport ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Während einer Zwischenstation in Dresden konnte sie ihrer Familie eine Nachricht zukommen lassen:
    "Morgen werden wir dann in Auschwitz sein. Die Mitteilungen darüber, wie es dort sein soll, sind sehr widersprechend (...) Ich werde weiter tapfer sein und fest die Zähne zusammenbeißen und an Euch denken und durchhalten, wenn’s auch noch so schwer sein wird."
    Todesursache bis heute unbekannt
    Ob Lilli Jahn wusste, was sie in Auschwitz erwartete? Geahnt hat sie es wohl. Nur noch einmal erhielten ihre Kinder ein Lebenszeichen – einen Brief von Anfang Juni, den sie, schon zu sehr geschwächt, nicht mehr selbst hatte schreiben können, sondern einer Leidensgenossin diktieren musste:
    "Meine Gedanken sind ununterbrochen immer bei Euch. Hoffentlich seid Ihr alle gesund. Ich grüße und küsse jeden einzelnen tausend Mal."
    Wenige Tage später, am 19. Juni 1944, starb Lilli Jahn. Über die Todesursache gab die Sterbeurkunde, die erst Monate später ausgestellt wurde, keinerlei Auskunft.
    Die am 5. März 1900 geborene Tochter eines wohlhabenden Kölner Fabrikanten hatte 1919 ihr Abitur gemacht und danach ein Studium der Medizin begonnen, das sie erfolgreich mit Staatsexamen und Promotion abschloss. Noch während des Studiums lernte sie den jungen Arzt Ernst Jahn kennen und verliebte sich in ihn. Unterschiedlicher hätten die Temperamente nicht sein können: Sie, eine lebenslustige emanzipierte Frau, vielseitig interessiert an Kunst, Literatur und Musik – er, ein früh verwaister Eigenbrötler mit einem Hang zu Schwermut und Frömmelei.
    Es bedurfte einiger Überredungskunst Lillis, um den Widerstand ihrer Eltern gegen die Verbindung mit einem Nichtjuden zu überwinden. Nach der Heirat im August 1926 zog das ungleiche Paar nach Immenhausen bei Kassel, wo sie eine gemeinsame Hausarztpraxis eröffneten.
    In rascher Folge wurden fünf Kinder geboren. Mit der Machtübernahme Hitlers änderte sich das Leben der jungen Familie schlagartig. Nach dem 1. April 1933, dem Tag des von den Nationalsozialisten organisierten Boykotts jüdischer Geschäfte, Arzt- und Anwaltspraxen, schrieb Lilli Jahn einer Freundin:
    "Wir haben Erschütterndes erlebt! Und könnt Ihr Euch vorstellen, wie mir zumute ist? Könnt Ihr begreifen, wie schwer mir ums Herz ist und wie bitter weh das alles tut?"
    Verlassen für eine Nicht-Jüdin
    Die eben noch geachtete Arztfamilie war plötzlich geächtet. Lilli Jahn durfte ihren Beruf nicht weiter ausüben und zog sich ganz auf die Familie zurück. In der Situation extremer Not und Bedrängnis hielt Eva Klemperer in Dresden bedingungslos zu ihrem jüdischen Mann Victor und rettete ihm dadurch das Leben. Ernst Jahn hingegen hielt dem Druck, der auf die nichtjüdischen Partner in so genannten Mischehen ausgeübt wurde, nicht stand. Er liierte sich mit einer jungen Ärztin und ließ sich im Oktober 1942 scheiden. Damit lieferte er seine Frau schutzlos der Verfolgung aus.
    "Ich fühlte mich im Innersten grenzenlos einsam und verlassen",
    Im Juli 1943 wurde sie gezwungen, mit ihren Kindern Immenhausen zu verlassen und in das von schweren Bombenangriffen heimgesuchte Kassel umzuziehen. Ende August 1943 wurde sie verhaftet und ins "Arbeitserziehungslager" Breitenau bei Guxhagen südlich von Kassel gebracht. Dort musste sie Zwangsarbeit in einer Pharmafabrik leisten, zwölf Stunden am Tag bei völlig unzureichender Ernährung. Von einem Tag auf den anderen waren die fünf Kinder sich weitgehend selbst überlassen, alle schrieben sie Briefe, fast jeden zweiten Tag.
    Herausragendes Zeugnis des Holocaust
    Unmittelbar vor ihrer Deportation nach Auschwitz gelang es Lilli Jahn, die Briefe aus dem Lager Breitenau hinauszuschmuggeln. Ihr Sohn Gerhard, von 1969 bis 1974 Justizminister im Kabinett Willy Brandts, bewahrte sie in seiner Marburger Wohnung auf. Dort entdeckten sie seine vier jüngeren Schwestern nach seinem Tod 1998. Martin Doerry, ein Sohn der ältesten Schwester Ilse, übernahm es, den kostbaren Nachlass zu ordnen und ihn zusammen mit anderen Dokumenten zu veröffentlichen. Seine Biographie der Lilli Jahn und ihrer Kinder erschien 2002 unter dem Titel "Mein verwundetes Herz". Das Buch wurde zu einem großen Erfolg – zu recht, denn es zählt neben dem Tagebuch der Anne Frank und den Aufzeichnungen Victor Klemperers zu den herausragenden Zeugnissen des Holocaust.