Die Entstehung einer neuen Sinfonie, die Dimitri Schostakowitsch nach der siegreichen Beendigung des Krieges im Sommer 1945 ankündigt, ist für die kulturelle und politische Führung der Sowjetunion unter Stalin keine Überraschung. Mit seiner siebten, der sogenannten Leningrader Sinfonie, hatte er wenige Jahre zuvor ein bekenntnishaftes Werk geschrieben.
"Sie sollte vom Ideal eines patriotischen Kampfes Zeugnis ablegen. Die Arbeit nahm mich ganz gefangen. Weder grausame Luftangriffe noch die bedrückende Atmosphäre der belagerten Stadt konnten meine schöpferische Fantasie beeinträchtigen."
Ruhm als sozialistischer Vorzeigekünstler
Eine persönliche, aus der umzingelten Stadt übertragene Rundfunkansprache und ein Foto - Schostakowitsch mit Feuerwehrhelm auf dem Dach des Leningrader Konservatoriums - hatten seinen Ruhm als sozialistischer Vorzeigekünstler gefestigt. Nun soll seine bereits neunte Sinfonie folgen. Eine Nummerierung, die aufhorchen lässt. Schubert, Bruckner, Dvořák, Mahler - sie alle hatten neun Sinfonien geschrieben, danach waren sie gestorben. Allen voran: Beethoven mit einem Werk, dessen Schlusschor die gesamte Menschheit zu umarmen versuchte. Der Dirigent Rudolf Barschai, damals Schüler Schostakowitschs:
"Stalin hat von ihm eine große Neunte mit Chor erwartet (...) Stalin, über Stalin musste da ein Chor sein."
Stalins Lob und Tadel
Die Nachrichtenagentur TASS meldet vorauseilend, die Sinfonie werde "unserem großen Sieg" gewidmet, es wird kolportiert, sie werde zu einer Hymne auf Stalin. Eine Hymne von einem, der neun Jahre zuvor durch Stalins persönliche Missbilligung seiner Oper "Lady Macbeth von Mzensk" in Ungnade gefallen war?
Schostakowitschs "Lady Macbeth" war seit Jahren an zahlreichen Theatern, sogar in Westeuropa und Amerika, gefeiert worden. Doch einem Vorstellungsbesuch durch Stalin folgte plötzlich eine Neubewertung seiner Musik:
"Von der ersten Minute an verblüfft den Hörer in dieser Oper die betont disharmonische, chaotische Flut von Tönen.Das ist 'linksradikale' Zügellosigkeit anstelle einer natürlichen, menschlichen Musik. (...) Das alles ist grob, primitiv und vulgär."
Gefährlicher Balanceakt
Die Kritik, die Schostakowitsch im Januar 1936 zur Kenntnis nehmen musste, brachte den Musiker in unmittelbare Lebensgefahr. Denn in jenen Jahren waren willkürliche Verhaftungen an der Tagesordnung. Schostakowitsch und seine Familie lebten seitdem in Angst, saßen mitunter auf gepackten Koffern. Von nun an wurde Komponieren für ihn zu einem gefährlichen Balanceakt: zwischen kreativem, unabhängigem Arbeiten und staatstreuer Anpassung.
Als am 3. November 1945 die Neunte mit kleinem Orchester, ohne Solisten, ohne Chor in Moskau uraufgeführt wird, ist das Publikum enttäuscht. Es erklingt ein beinahe verspieltes Werk, ohne Pathos, eher witzig und voller akademischer Anspielungen, bei dem irgendetwas nicht recht zu stimmen scheint. Ein musikalisches Versteckspiel, eine Clownerie? Zahlreiche zitierte Motive, ironische Brechungen, ja Karikaturen pathetischer Triumphmusik charakterisieren das Werk. Es ist eine Maskerade, von der Zensur zwar als solche erkannt, aber nicht entschlüsselt.
Wie in den verbalen Äußerungen seines politischen Lebens, in denen er oft angepasst erscheint, schreibt Schostakowitsch Klänge, hinter denen sich erst bei genauerem Hinhören Abgründe auftun. Er selbst verweigert sich wortreichen Interpretationen:
"Ich komponiere, meine Musik wird aufgeführt. Man kann sie hören. Wer hören will, hört. (...) Ich brauche keine kühnen Worte, sondern kühne Musik ..."
"Stalin war verspottet"
Er verwendet Chiffren, die ihn kaum angreifbar machen, die sein Leben schützen. Und der Nachwelt Zeugnis geben von der widerständigen Kraft von Kunstmusik, die sich den Forderungen nach politischen Plattitüden verweigert. Dazu Schostakowitsch-Schüler Rudolf Barschai:
"Laut, drei Forte fortississimo gespielt und so endet sie, die Sinfonie, (..) Stalin war verspottet, zum Glück Stalin hat das nicht verstanden, zum Glück."