"Meine Familie war mit 2.500 anderen im letzten der drei Züge. Es war April 1945 und die Russen kamen von Osten und die Engländer und Amerikaner von Westen."
Marion Blumenthal war neun Jahre alt, als die Nazis sie 1944 mit ihrer Familie aus dem niederländischen Exil in das KZ Bergen-Belsen verschleppten. Als sich im Frühjahr 1945 britische Truppen dem Lager unweit von Celle näherten, pferchte die SS rund 6.800 Jüdinnen und Juden in drei Transportzüge. Der letzte verließ Bergen-Belsen am 11. April. Das Ziel: das KZ Theresienstadt.
Odyssee durch das Deutsche Reich
"Damit unser Transport nicht in die Hände der Alliierten fallen sollte, waren wir zwei lange Wochen unterwegs, ohne Essen, ohne Wasser, ohne Medizin."
"Der Waggon, in dem ich mich befand, schien ein umgebauter Güterwaggon zu sein. Die Fenster ließen sich ein wenig öffnen." Notierte die aus den Niederlanden stammende Renata Laqueur in ihrem Tagebuch.
"Hier lagen Kranke mit Flecktyphus, offenen, eiternden Wunden und TBC, alle völlig verlaust. Dreißig von uns konnten mit angezogenen Knien auf dem Boden liegen, die restlichen siebenundzwanzig mussten sitzen."
Der schwerkranke Schlomo Samson, ein 20-jähriger Jude aus Leipzig, musste in den Zug einsteigen, mit hohem Fieber und Ohnmachtsanfällen. Von der Fahrt bekam er kaum etwas mit.
"Viel kann ich dazu selbst nicht sagen, weil ich selbst mit Flecktyphus krank war. Die meisten sind daran gestorben. Und ich habe die letzten Tage dieser Krankheit im Zug verbracht und bin am Leben geblieben."
KZ-Häftlinge als Himmlers Faustpfand?
Warum die SS noch in den letzten Kriegswochen die Gefangenen vor der näher rückenden Front mit großem logistischen Aufwand von einem Lager zum nächsten transportierte, ist unklar. Womöglich betrachtete der Reichsführer SS Heinrich Himmler die jüdischen Häftlinge als Faustpfand für erhoffte Verhandlungen mit den Alliierten.
Nur ein Zug erreichte Theresienstadt. Ein weiterer Zug mit rund 2.500 Häftlingen kam nach sechstägiger Fahrt nördlich von Magdeburg zum Stehen. Die deutschen Bewacher flüchteten, bevor amerikanische Truppen die KZ-Häftlinge befreiten.
Der letzte der drei Transporte ging als "Verlorener Zug" in die Geschichte ein. Unterwegs griffen alliierte Jagdflieger den Zug an. Daraufhin wurden weiße Tücher über die Waggons gespannt.
"Damit man sieht, dass das keine Militärzüge sind, man soll uns nicht bombardieren."
"Wenn der Zug hielt, durften Leute, die noch kräftig genug waren, hinaus, um Wasser aus dem Fluss zu trinken." Schreibt Marion Blumenthal in ihren Aufzeichnungen.
"Immer, wenn der Zug gehalten hat, wurden die Toten entlang der Schienen begraben. Dieser Zug war die Hölle auf Rädern. 500 Menschen, also ein Fünftel des Transports, sind auf der Fahrt oder kurz danach gestorben."
Rote Armee befreite die Häftlinge aus verriegeltem Zug
Der Zug fuhr über Lüneburg, Berlin und Finsterwalde bis in den kleinen brandenburgischen Ort Tröbitz, wo er vor einer kurz zuvor gesprengten Eisenbahnbrücke stehen blieb. Ein Teil des Wachpersonals setzte sich daraufhin mit der abgehängten Lokomotive ab. In den Morgenstunden des 23. April 1945 stießen Angehörige der Roten Armee auf die größtenteils noch verriegelten Waggons und befreiten die völlig ausgehungerten, entkräfteten und kranken Häftlinge.
"Es gab in dem Tröbitz einen russischen Kommandanten, er hat den Leuten gesagt, sie müssen alle ihre Wohnungen verlassen."
Die Schwerkranken verblieben zunächst im Zug. In einem ehemaligen Barackenlager für ukrainische Zwangsarbeiter richtete man ein Notlazarett für die Typhuskranken ein und stellte den Ort unter Quarantäne. Wer noch laufen konnte, suchte sich eine Unterkunft in der kleinen Gemeinde.
Hunderttausende starben in den letzten Kriegsmonaten
"Die Küchen waren voll mit gutem Essen, doch unsere ausgehungerten Körper konnten das ungewohnte, nahrhafte Essen nicht vertragen. Um diese Zeit wog ich als Zehnjährige nur zehn Kilo. Als ich kräftiger wurde, habe ich auch wieder laufen gelernt."
Trotz der Hilfe starben in den folgenden Wochen noch über 300 Menschen. Von rund 700.000 KZ-Häftlingen Anfang 1945 kamen bis zum Ende des Krieges ein Drittel ums Leben: durch Zwangsarbeit und Todesmärsche, Misshandlungen und Tötungen, Hunger und Kälte, Erschöpfung und Krankheit.
Marion Blumenthal hatte Glück. "Ich kann mich gut an das Frühjahr 1945 erinnern: Das Wetter war schön, klar und sonnig, und die Vögel sangen. Es war ein wunderbares Gefühl endlich frei zu sein."