"Als ich Deutschland im Jahr 1946 besuchte, habe ich viele schreckliche und herzzerreißende Bilder gesehen. Nichts hat mich mehr betrübt als die Kinder und Jugendlichen, die ich in den Straßen herumwandern und um die Bahnhofsbunker herumsitzen sah."
Gollancz' Reisebericht: "In Darkest Germany"
Mit diesen Worten beschrieb Victor Gollancz in einer Radioansprache die Eindrücke seiner Reise nach Deutschland. Gegen den Rat seiner Freunde hatte der britisch-jüdische Verleger beschlossen, sich selbst ein Bild von den Zuständen in der britischen Besatzungszone zu machen. Am 2. Oktober 1946 machte er sich auf den Weg nach Hamburg, Kiel, Düsseldorf und in das völlig zerstörte Ruhrgebiet und schrieb von dort Artikel über den schlechten Ernährungs- und Gesundheitszustand vieler Deutscher.
Mit seiner "Zuneigung" zu leidenden Deutschen schockiert Gollancz viele
Fast noch schockierender als seine Worte waren die Fotos von abgemagerten Alten und Kranken sowie Kindern in zerlumpten Schuhen. Seine Berichte wurden meist unverändert von britischen Zeitungen gedruckt, schrieb er im Vorwort zu seinem Buch "In Darkest Germany", in dem er die Erlebnisse seiner sechswöchigen Reise zusammenfasste, doch ein Artikel wurde zurückgewiesen, weil er darin von Zuneigung zu den betroffenen Deutschen gesprochen hatte.
"Ich habe überlegt, das Wort wegzulassen, aber dann habe ich mich daran erinnert, dass ich nicht nur einen wahrheitsgetreuen Bericht darüber schreiben wollte, was ich gesehen, sondern auch, was ich gefühlt habe."
Grauen im Lager Bergen-Belsen
Es war genau dieses Mitgefühl, das viele in Großbritannien schockierte. Wie konnte ein Jude, der seit 1933 gegen die Nazis angeschrieben und viele Verwandte im Holocaust verloren hatte, Zuneigung für die empfinden, die kurz zuvor noch Hitler unterstützt oder ihn zumindest nicht wirksam bekämpft hatten? Für Victor Gollancz war das kein Widerspruch, wie er nach einem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen schrieb:
"Ich werde die unsägliche Bösartigkeit der Nazis nie vergessen, aber wenn ich die aufgedunsenen Körper und die lebenden Skelette in den Krankenhäusern hier sehe, dann denke ich nicht an ‚die Deutschen‘, sondern an Männer und Frauen."
Victor Gollancz wurde 1893 als Sohn eines Juwelenhändlers und Enkel eines orthodoxen Rabbiners in London geboren und machte nach dem Ersten Weltkrieg schnell Karriere als Verleger. Als überzeugter Humanist und Sozialist engagierte er sich in der Labour Party und gründete 1936 den Left Book Club. Die zeitweise über 50.000 Mitglieder erhielten Bücher von Arthur Koestler oder George Orwell, aber auch seine eigenen Schriften, in denen er über den Holocaust aufklären wollte.
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Hitler habe ihn entscheidend geprägt, erklärte Gollancz 1960 in Frankfurt, als er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm. Mit Entsetzen habe er in London verfolgt, was sich in deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern ereignete:
"Wenn ich schließlich las, dass die menschlichen Körper von Millionen meiner Brüder – meiner Brüder, nicht weil sie Juden waren, sondern weil sie Menschen waren – erst gefoltert und dann zu Asche verbrannt wurden, dann wusste ich, was mir schon immer nahezu bewusst gewesen war – nämlich: Soll zu dieser Untat jene hinzugefügt werden, die, so gering sie auch sein mag, man selbst verübt, oder sollte man nicht mit jeder Faser seines Willens dem Übel sein Gegenteil entgegensetzen – soviel Liebe, soviel Güte, soviel Verzeihen, als in einem nur schlummert?"
Gollancz' Verlag wurde Ziel von Anschlägen
Auf seine Überzeugungen folgte stets die Tat. Bereits kurz nach dem Krieg hatte Gollancz die Organisation "Save Europe Now" gegründet, mit der er die britische Öffentlichkeit auf den Hunger in Europa und besonders in Deutschland aufmerksam machte. Zunächst gegen den Willen der Regierung schickten britische Bürger Lebensmittelpakete nach Deutschland. Was ihm aus der britischen Besatzungszone Tausende Dankesbriefe einbrachte, sorgte in England für wütende Reaktionen. Sein Verlag wurde Ziel von Anschlägen, ebenso wie 1948, als er im israelischen Unabhängigkeitskrieg auch zu Spenden für die arabische Zivilbevölkerung aufrief. Der Vorwurf war immer der gleiche: Parteinahme für den Gegner oder Feind:
"Ich war niemals mehr prodeutsch als ich profranzösisch, projüdisch, proarabisch oder sonstwas war. Ich hasse alles, was pro und anti ist. Ich bin nur eins: ich bin pro Menschheit."
Im Februar 1967 starb Victor Gollancz in London. Heute ist er hierzulande weitgehend vergessen. Für sein Beharren darauf, Menschen nicht in feste Täter- und Opfergruppen zu unterteilen, sondern den leidenden Menschen zu sehen, scheint in der Erinnerungskultur in Deutschland kaum Platz zu sein.