Wie Berge sollen sich die Wassermassen aufgetürmt, Inseln und Dörfer unter sich begraben, die Leichen der Ertrunkenen meilenweit ins Binnenland gespült haben. Die Katastrophe, die in der Nacht zum 17. Februar 1164 über die friesische Küste hereinbrach, muss unter den Zeitgenossen weithin Schrecken verbreitet haben. Bis ins ferne Köln sprach sich die Nachricht herum. Die Annalen des am Harz gelegenen Klosters Pöhlde berichten darüber. Und im ostholsteinischen Bosau notierte der Geistliche Helmold in seiner Slawenchronik:
""In jenen Tagen erhob sich ein großes Unwetter mit heftigem Sturmwind, leuchtenden Blitzen und krachendem Donner. Dazu entstand eine solche Überschwemmung des Meeres, wie man sie seit alten Zeiten nicht erlebt hatte. Sie überflutete die gesamte Küste von Friesland und Hadeln und das ganze Marschland der Elbe und Weser sowie aller Flüsse, die in den Ozean münden. Viele tausend Menschen sind ertrunken und eine zahllose Menge Vieh."
Die Julianenflut ging in die Geschichte ein als das erste historisch belegte große Hochwasser an der deutschen Nordseeküste. Die Namensgeberin, die heilige Juliane von Nikomedien, war eine christliche Märtyrerin aus dem vierten Jahrhundert. Die Kirche erinnert an sie am 16. Februar, wahrscheinlich begann die Naturkatastrophe aber nach Mitternacht. Denkwürdige Sturmfluten nach dem jeweiligen Tagesheiligen zu benennen, war im Mittelalter üblich. So verzeichnen die Annalen Norddeutschlands unter anderen zwei Marcellusfluten, eine Clemens-, eine Elisabeth-, Antonius-, Lucia-, Burchardiflut. In manchen Jahrhunderten ereignete sich alle zwei Jahre eine heftige Überschwemmung.
"Die Deiche waren noch nicht so stark wie heute, und das waren zum größten Teil noch keine Steinhäuser, das waren Erdhäuser, und wenn das Wasser so ein bisschen um die Erdhäuser herumplätschert, dann kippen sie eben dann mal um",
erläutert der Küstenforscher Helmut Bahnsen. Die Julianenflut blieb in Friesland lange unvergessen. Noch 55 Jahre später erwähnte sie der Mönch Emo von Wittewierum. Sein Bericht über die Marcellusflut von 1219 ist die älteste überlieferte Schilderung einer Hochwasser-Katastrophe durch einen Augenzeugen.
"O Kummer und Betrübnis, zu sehen, wie die Menschen in den Fluten hin und hergeworfen wurden, als wären sie Meeresgetier. Bei dieser Sintflut sind Tausende Männer, Frauen und Kinder untergegangen und auch Kirchen sind zerstört worden."
Erst nach 1200 schützte eine durchgehende Deichlinie die Küsten zwischen Westfriesland und Dänemark. Doch auch sie konnte nicht verhindern, dass immer wieder ganze Landstriche versanken. In Ostfriesland fraß sich das Meer in Jahrhunderten in zwei tiefe Buchten, den Dollart und den Jadebusen. In Nordfriesland verschlang es 1362 einen ganzen Ort mit nach heutiger Schätzung bis zu 2000 Einwohnern.
"Heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor 600 Jahren. Noch schlagen die Wellen gar wild und empört wie damals, als sie die Marschen zerstört ...
Bis vor 80 Jahren hielten Historiker die Geschichte der versunkenen Stadt Rungholt für ein Gespinst aus Seemannsgarn. Erst dann fanden sich im Watt vor der Insel Nordstrand archäologische Spuren, Jahrzehnte später auch ein urkundlicher Nachweis. Rungholt ist an der Nordseeküste nicht der einzige Ort, um dessen Untergang und vermeintlich märchenhaften Reichtum sich Legenden ranken. Auch dass Sturmfluten eine Strafe Gottes seien, war im Mittelalter allgemeine Überzeugung. Der Heimatforscher Edmar Daub:
"Die Rungholter hatten sich 'nen Spaß erlaubt und hatten den Pastor gebeten, mit dem Sakrament zu kommen, es läge jemand im Sterben, und als der Geistliche ankam, da hatten sie eine schlachtreife Sau ins Bett gelegt und zwangen den Geistlichen, der Sau das Sakrament zu geben. ... Und daraufhin hat der Pastor den Herrgott gebeten, er möge die Rungholter doch mal kräftig bestrafen, und daraufhin ist dann der blanke Hans gekommen und hat Rungholt mit Mann und Maus verschluckt."
Die bisher letzte Katastrophe brach 1962 über Norddeutschland herein, als in Hamburg 315 Menschen ertranken. Auch dies ereignete sich in der Nacht zum 17. Februar.