"Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagerndem Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen."
So beginnt ein unabgeschlossener Roman-Koloss von beinahe zweitausend Seiten, zu denen sich im Nachlass noch weitere tausend Seiten finden. Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" ist bis heute ein Faszinosum und ein ungeklärtes Geheimnis. Das zeigte sich auch in einer aufwändigen Hörproduktion des Bayrischen Rundfunks. Die Veröffentlichungsgeschichte des Romans verlief in mehreren Schüben. Als am 26. November 1930 der erste Band erschien, wirkte das Projekt noch wie aus einem Guss. Man erkannte vor allem ein ironisches Vexierbild aus dem Wien kurz vor dem Ersten Weltkrieg, aus dem bereits sinnentleerten Habsburgerreich.
Musil war zu diesem Zeitpunkt 50 Jahre alt und hatte bereits mit formal raffinierten Novellen Aufsehen erregt. Der meteorologisch aufgeladene Romanbeginn weist aber darauf hin, wie weit der Autor auszuholen gedachte, ihm schwebte ein großes Zeit- und Bewusstseinspanorama vor. Es gibt einen Helden namens Ulrich, der merkt, dass ihm in seinem Leben jede Richtung abhandengekommen ist. Ulrich wird vor allem dazu benötigt, die Wirklichkeit als eine Erfindung zu zeigen:
"Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen."
Essays im Gewand eines Romans
Der große Erfolg, den die erste Teilveröffentlichung des "Mannes ohne Eigenschaften" hatte, verdankte sich dem satirischen Einfall einer sogenannten Parallelaktion: am Wiener Hof arbeitet man daran, dem 30. Thronjubiläum des preußischen Kaisers Wilhelm II. eine große Feier zum 70. Regierungsjahr Kaiser Franz Josephs entgegenzusetzen. In raffiniert ausbalancierten Szenen wird deutlich, wie inhaltsleer diese "vaterländische Aktion", dieser Auswuchs eines prekären "Wirklichkeitssinns" ist. Schon hier sind aber auch die Stränge des Romans angelegt, die sich danach bis in den Nachlass hinein immer mehr verzweigen und einen "Möglichkeitssinn" erkunden.
Es geht dabei um Grenzüberschreitungen, etwa um das Dreiecksverhältnis zwischen Ulrich, seinem Freund und dessen Frau Clarisse, die in ihrer Nietzsche-Begeisterung immer mehr dem Wahnsinn verfällt. Musil versucht in essayistischen Passagen, den wissenschaftlichen Erklärungsmodellen seiner Zeit eine Spur voraus zu sein und das Irrationale, die Leerstellen zu erkunden. Das führt zu der innovativen, die Moderne von innen her aufsprengenden Form des Romans. Das Leben, so heißt es einmal, folge keinem Faden der Erzählung mehr, sondern breite sich in einer unendlich verwobenen Fläche aus.
Warum das Opus Magnum unvollendet blieb
Die Machtübergabe an Hitler 1933 führte auch zu einer Zäsur in Musils Arbeit: die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er isoliert in der Schweiz, er starb 1942. In vielen Anläufen versuchte er ein Ende für seinen Roman zu finden, und das Kapitel "Atemzüge eines Sommertags" war das gewagteste Vorhaben. Da geht es um die nicht nur geistige Vereinigung Ulrichs mit seiner Schwester Agathe, einem alle Gegensätze aufhebenden Inzest – um zu dem vorzudringen, was Musil den "anderen Zustand" nannte oder auch "taghelle Mystik".
"Ulrich fühlte die Verlockung des Lebens fast wie einen Schwindel, den man, über einen steilen Absturz gebeugt, bei dem Gedanken erleidet, daß man sich bloß loszulassen oder einen Fehlgriff zu machen hätte und dann unaufhaltsam fortgetragen würde."
Der Mann ohne Eigenschaften" ist ein großer Versuch, die zerfransende Welt der Moderne und ihre Bewusstseinsbrüche in eine Form zu bringen. Als der erste Teil erschienen war, erkannte Musil: Die Geschichte dieses Romans lief darauf hinaus, dass die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird. Wie visionär das war, begriff man erst viel später.