"Es sind 46 Jahre her und die Erregung dieses Tages liegt mir heute noch in den Knochen. Es ist das Nächste zu einer Revolution, was ich am eigenen Leib erlebt habe. Seither weiß ich ganz genau, ich müsste kein Wort darüber lesen, wie es beim Sturm auf die Bastille zuging. Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm."
Am 15. Juli 1927 empfand der junge Student Elias Canetti das gleiche wie die zahllosen Arbeiter, die es an diesem Tag auf die Straßen Wiens drängte. Wie sie war der spätere Literaturnobelpreisträger empört über ein Gerichtsurteil, das am Vorabend bekannt geworden war.
Am 15. Juli 1927 empfand der junge Student Elias Canetti das gleiche wie die zahllosen Arbeiter, die es an diesem Tag auf die Straßen Wiens drängte. Wie sie war der spätere Literaturnobelpreisträger empört über ein Gerichtsurteil, das am Vorabend bekannt geworden war.
Freisprechung sorgt für Empörung
Drei Angehörige des nationalistischen Frontkämpferverbandes, die in Schattendorf im Burgenland aus dem Hinterhalt in eine Gruppe des Republikanischen Schutzbundes geschossen und dabei ein sechsjähriges Kind und einen Kriegsinvaliden getötet hatten, waren von einem Geschworenengericht aus fadenscheinigen Gründen freigesprochen worden. Die Arbeiter-Zeitung, das Parteiorgan der Sozialdemokraten, stellte die rhetorische Frage:
"Die bürgerliche Welt warnt immerzu vor dem Bürgerkrieg. Aber ist nicht diese glatte, diese aufreizende Freisprechung von Menschen, die Arbeiter töteten, nicht schon selbst der Bürgerkrieg?"
Ohne auf ein Kommando der Partei zu warten, legten die Belegschaften in den Großbetrieben Wiens am Morgen des 15. Juli die Arbeit nieder - zu Tausenden strömten empörte Demonstranten ins Regierungsviertel.
"Die bürgerliche Welt warnt immerzu vor dem Bürgerkrieg. Aber ist nicht diese glatte, diese aufreizende Freisprechung von Menschen, die Arbeiter töteten, nicht schon selbst der Bürgerkrieg?"
Ohne auf ein Kommando der Partei zu warten, legten die Belegschaften in den Großbetrieben Wiens am Morgen des 15. Juli die Arbeit nieder - zu Tausenden strömten empörte Demonstranten ins Regierungsviertel.
Demonstration eskaliert - Justizpalast brennt
Die sozialdemokratische Parteiführung wurde davon ebenso wie die Polizei völlig überrascht. Es sollte sich nun rächen, dass man versäumt hatte, den Republikanischen Schutzbund zu mobilisieren, der sonst bei Demonstrationen in Wien für Disziplin und Ordnung sorgte. Als vor dem Parlament berittene Polizei erschien und mit blank gezogenen Säbeln vorrückte, warfen die Demonstranten Steine und bauten Barrikaden.
Die nun vollends aufgebrachte Menge zog hinüber zum Justizpalast - dem Symbol der verhassten Klassenjustiz. Heißsporne drangen in das kaum gesicherte Gebäude ein, Akten wurden aus den Fenstern geworfen, schließlich wurde Feuer gelegt. Die anrückenden Löschfahrzeuge drangen nicht zum brennenden Justizpalast durch, Feuerwehrleute und selbst der herbeigeeilte populäre Bürgermeister Karl Seitz, der zugleich Vorsitzender der österreichischen Sozialdemokraten war, wurden tätlich angegriffen. Als es schließlich doch noch gelang, der Feuerwehr einen Weg zu bahnen, brannte der gesamte Justizpalast bereits lichterloh.
Gegengewalt der Polizei - zahlreiche Tote im Kugelhagel
Unterdessen hatte Polizeipräsident Schober in Rücksprache mit der konservativen Bundesregierung einen verhängnisvollen Befehl erteilt. Ungeübte Polizisten und Polizeischüler wurden mit Karabinern des Bundesheeres ausgerüstet und sollten, obwohl selbst voller Angst und Wut auf die Demonstranten, für Ordnung sorgen. Was nun geschah, beobachtete der Sozialdemokrat Otto Bauer vom Parlamentsgebäude aus:
"Leute, die zum großen Teil nicht schießen gelernt haben, sie stützten den Kolben auch beim Schießen auf den Bauch und schossen links und rechts auf die Seite. Der Menschen bemächtigte sich eine wahnsinnige Angst - sie hatten zum großen Teil die Abteilung gar nicht gesehen. Man sah die Leute in blinder Angst davonlaufen und die Wachleute schießen den Laufenden nach."
Drei Stunden lang beschossen Polizisten fliehende Demonstranten, auch in Seitengassen. Innenminister Karl Hartleb gab später zu:
"Natürlich, fallweise hat’s ausgeschaut wie eine Hasenjagd!"
Die Bilanz dieses Tages: 89 tote Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, ein ebenfalls im Kugelhagel der Polizei getöteter Kriminalbeamter, drei getötete Wachpolizisten und ungezählte Verwundete.
"Leute, die zum großen Teil nicht schießen gelernt haben, sie stützten den Kolben auch beim Schießen auf den Bauch und schossen links und rechts auf die Seite. Der Menschen bemächtigte sich eine wahnsinnige Angst - sie hatten zum großen Teil die Abteilung gar nicht gesehen. Man sah die Leute in blinder Angst davonlaufen und die Wachleute schießen den Laufenden nach."
Drei Stunden lang beschossen Polizisten fliehende Demonstranten, auch in Seitengassen. Innenminister Karl Hartleb gab später zu:
"Natürlich, fallweise hat’s ausgeschaut wie eine Hasenjagd!"
Die Bilanz dieses Tages: 89 tote Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, ein ebenfalls im Kugelhagel der Polizei getöteter Kriminalbeamter, drei getötete Wachpolizisten und ungezählte Verwundete.
Unüberwindbarer Riss zwischen Parteiführung und Arbeiterschaft
Der politische Verlierer des 15. Juli 1927 war die Sozialdemokratische Partei: Ausgerechnet im "Roten Wien", der Vorzeigestadt einer modernen Kommunalpolitik, hatte sich ein Riss zwischen Parteiführung und Arbeiterschaft aufgetan. Und auch die Rücktrittsforderung der Partei an Bundeskanzler Ignaz Seipel verpuffte wirkungslos, selbst Innenminister Hartleb und Polizeipräsident Schober blieben im Amt. Ein deshalb von den Sozialdemokraten am
16. Juli ausgerufener Eisenbahnerstreik brach bald zusammen, er stärkte ungewollt das politische Gewicht der faschistischen Heimwehr, die sich in der Provinz als Streikbrecher betätigte und schon zum Marsch auf Wien bereitstand.
16. Juli ausgerufener Eisenbahnerstreik brach bald zusammen, er stärkte ungewollt das politische Gewicht der faschistischen Heimwehr, die sich in der Provinz als Streikbrecher betätigte und schon zum Marsch auf Wien bereitstand.
Eine Zusammenarbeit zwischen der Sozialdemokratie und dem Bürgerblock war nach den Ereignissen des 15. Juli 1927 kaum noch möglich. Das Ende der Ersten Republik Österreich rückte näher.