"Er stand immer am Bahnhof Wannsee mit seiner Kutsche. Und da hat man ihn schon den Eisernen Gustav genannt, weil er eisern auf den letzten Zug gewartet hat."
Das sagt Ursula Buchwitz-Wiebach über ihren Großvater Gustav Hartmann, der Ende der 1920er Jahre der älteste Pferde-Droschenkutscher Berlins war.
"Dann kam eines Tages eine Französin, Madame Rachel Dorange, und hat mit ihm gesprochen. 'Ja, wo kommt denn Madame her?' 'Aus Paris aufm Pferd.' 'Ach, was eine Frau kann, das kann ich auch! Ich werde Sie im nächsten Jahr besuchen.'"
Nach der Begegnung mit dieser tollkühnen Reiterin nahm sich Gustav Hartmann vor, an seinem 69. Geburtstag mit Pferd und Wagen über die Champs-Élysées zu kutschieren. Sportliche Rekorde sorgten in den 20er Jahren für Begeisterung. Charles Lindbergh hatte gerade den Atlantik überflogen und der englische Rennfahrer Malcolm Campbell stellte einen Geschwindigkeitsrekord nach dem anderen auf. Auf die nostalgische Idee, sich über zwei Monate lang mit einem Einspänner auf den gut 1000 Kilometer langen Weg zu machen, war bisher noch niemand gekommen, erzählt der Technikhistoriker Uwe Fraunholz:
"Er ist sicherlich nicht der strahlende Held, der die technisch avancierten Mittel nutzt, wie die Fliegerhelden oder auch die Rennfahrer, die ja sehr populäre Figuren sind in den 20er Jahren. Da ist er ein Gegenmodell. Dieser Beiname ‚Eiserner Gustav‘ symbolisiert seinen Durchhaltewillen, sein Beharrungsvermögen gegen die neue Zeit."
Ein Rotbärtiger in dunklem Rock und mit weißem Zylinder
Der Ullstein Verlag sponserte die Tour mit 1000 Mark und schickte den Berliner Morgenpost-Reporter Hans Hermann Theobald mit. Anfang April brachen sie auf.
10.000 Postkarten, die den Rotbärtigen in dunklem Rock und mit weißem Wachstuchzylinder auf seinem Kutschbock zeigten, wollte Hartmann unterwegs verkaufen. An seinem Wagen prangte die Aufschrift:
"Der älteste Fuhrherr von Wannsee, Gründer der Wannseedroschken, erlaubt sich mit der Droschke 120 die letzte Fahrt Berlin - Paris zu machen, da das Pferde-Material im Aussterbeetat steht."
Gerade 200 Kutschpferde gab es Ende der 20er Jahre noch in Berlin. Die Verdrängung der Pferdedroschken durch Automobile, gegen die Gustav Hartmann mit seiner Fahrt protestierte, war von handfesten Auseinandersetzungen begleitet.
"Es gibt Berichte darüber, dass es direkt zu Konflikten mit den Pferdefuhrwerkern kommt, die dann gerne ihre Peitsche benutzten und den Autofahrern eins überziehen, oder die bewusst den Verkehr behindern, indem sie in Schlangenlinien fahren, sich in einer Art Machtkampf dann nicht überholen lassen wollen. Aber 1928, wo diese Geschichte mit dem 'Eisernen Gustav' spielt, da ist die Kraftdroschke fest etabliert."
Auch Hartmann hatte in seinem Fuhrpark bereits zwei Motortaxen, die er allerdings nicht selbst steuerte, da er ein schlechter Fahrer gewesen sein soll.
In Verdun hielt er an und gedachte der gefallenen Soldaten
Die spektakuläre Kutschfahrt führte durch Magdeburg, Hannover, Dortmund, Köln, Trier und Perl an der Mosel, wo er die Grenze nach Frankreich passierte. Als er an den einstigen Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs von Metz, Épernay und Verdun anhielt und der gefallenen Soldaten gedachte, brachte ihm das Sympathien bei der französischen Bevölkerung ein. Viele nannten ihn sogar einen Friedensbotschafter. Denn obwohl der Krieg zehn Jahre vorbei war, fiel es Deutschland und Frankreich immer noch schwer, sich zu versöhnen. Am 4. Juni 1928 traf Gustav Hartmann in Paris ein und wurde von einer jubelnden Menschenmenge erwartet. Der deutsche Botschafter lud ihn zum Geburtstagsbankett ein und die Pariser Fuhrunternehmer ernannten ihn zum Ehrenkutscher. Am nächsten Tag titelte die Morgenpost:
"Der Berliner Droschkenkutscher wie ein Fürst empfangen - Aus den großen Caféhäusern, aus den Waren- und Bürohäusern strömten die Menschen herbei, aus den Fenstern warfen ihm Frauen und Mädchen Kusshände zu. Man drückte ihm im Vorbeifahren die Hand und rief: 'Bravo! Gut gemacht, Gustav!'"
Gut zwei Monate später wurde Hartmann von über hunderttausend Schaulustigen am Brandenburger Tor wieder empfangen. Hans Fallada verarbeitete die Reise in seinem Roman "Der eiserne Gustav". Und Erich Kästner widmete Gustav Hartmann eins seiner Montagsgedichte:
"Obwohl er nicht französisch kann, hat er sich in Paris verständigt.
Denn dort, wo das Verstehen endigt, fängt die Verständigung erst an."
Denn dort, wo das Verstehen endigt, fängt die Verständigung erst an."