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Vor 95 Jahren
Kafkas "Der Prozess": Schlüsseltext des 20. Jahrhunderts veröffentlicht

Franz Kafkas Wunsch, sein zu Lebzeiten unvollendetes Werk möge nach seinem Tod durch den Freund Max Brod vernichtet werden, kam dieser nicht nach. Brod hatte den weltliterarischen Rang von Kafkas Texten erkannt. Zu den folgenreichsten Veröffentlichungen gehörte das Romanfragment "Der Prozess" vor 95 Jahren.

Von Christian Linder |
    Undatiertes Porträt des Schriftstellers Franz Kafka.
    Als das Verfassen der Zwischenkapitel auf Widerstände stieß, legte Kafka nach fünfmonatiger Arbeit im Januar 1915 das Manuskript von "Der Prozess" als misslungen zur Seite. (picture-alliance / dpa / CTK)
    Sonderbarer Wunsch, den Franz Kafka am 20. Dezember 1910 im Tagebuch notierte:
    "Kämest du, unsichtbares Gericht!"
    Knapp vier Jahre später, im August 1914, begann er dieses unsichtbare Gericht herbeizuschreiben.
    "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet."
    Franz Kafkas Roman "Der Prozess", am 26. April 1925, knapp zehn Monate nach Kafkas Tod aus dem Nachlass vom Freund Max Brod im kleinen Berliner Verlag "Die Schmiede" erstveröffentlicht, wurde bald als einer der Signaltexte des 20. Jahrhunderts erkannt – ohne dass jemand seine Geheimnisse bis heute auf befriedigende Weise entschlüsseln konnte.
    Textsammelsurium im Fragmentzustand
    Warum wird der 30-jährige Bankprokurist Josef K. eines Morgens ohne ihm mitgeteilten Grund verhaftet und darf sich gleichwohl weiter frei bewegen? Welcher Schuld wird er bezichtigt? Wer erhebt Anklage? Und vor welchem Gericht? So sehr Josef K. auch grübelt und in eigener Sache recherchiert, die Hintergründe erfährt er nicht. Sein schäbiges Ende inszeniert Kafka in einem Steinbruch, wohin ihn zwei Wächter des unsichtbar gebliebenen Gerichts verschleppen: Während der eine Wächter ihm an die Gurgel greift, stößt der andere ihm ein Messer ins Herz. K.‘s letzte Worte und Kafkas darüber gelegter Kommentar:
    "‚Wie ein Hund!‘ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben."
    Den Schluss des Romans hat Kafka sofort nach dem Anfangskapitel geschrieben. Doch als das Verfassen der Zwischenkapitel auf Widerstände stieß, legte er nach fünfmonatiger Arbeit im Januar 1915 das Manuskript als misslungen zur Seite. Was Max Brod nach Kafkas Tod vorfand, war ein Torso von zumeist beidseitig beschriebenen und unpaginierten Blättern – daraus einen druckfertigen Text herzustellen, bedeutete Schwerstarbeit. Denn da lediglich das Anfangs- und das Schlusskapitel als fertig erkennbar waren, konnte und musste Brod – auch infolge eines fehlenden Inhaltsverzeichnisses von Kafkas Hand – aus dem Sammelsurium des im Fragmentzustand vorliegenden restlichen Materials eine plausible Kapitelfolge erst einmal erfinden. Wenn heute auch authentischere Fassungen vorliegen, attestierte ein so gründlicher Kafka-Biograph wie Reiner Stach Brod letztlich doch gute Arbeit:
    "Gemessen an den Umständen, die widriger kaum sein konnten."
    Ob Kafka selbst ein Inhaltsverzeichnis seines Romans hätte erstellen können, kann man bezweifeln. Denn da er nach dem Anfangs- gleich das Schlusskapitel schrieb, ging es ihm folglich nicht darum, einen Inhalt im Schreiben zu entwickeln, sondern während der Arbeit übernahm eine künstlerische Absicht das Kommando sogar über den Inhalt, instrumentalisierte ihn, beutete ihn aus und trieb ihn ins Extreme.
    Von daher auch die in die Struktur eingegangene schockierende Radikalität des Romans, die wuchtigen, unheimlichen, weil im Unsichtbaren wirkenden Mächte, die Josef K. niederdrücken. Zum Verständnis dessen, was da geschieht, bietet ein Geistlicher Josef K. die Geschichte von einem Mann an, der zum Gesetz kommt und um Einlass bittet. Vor dem Gesetz steht ein Türhüter und sagt, der Einlass sei zwar möglich, gerade aber nicht. Der Mann könne ja warten und auf einem Schemel Platz nehmen.
    Möglicher Schlüssel zum Verständnis
    "Dort sitzt er Tage und Jahre … Vor seinem Tod sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage … ‚Wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat.‘ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon am Ende ist, und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ‚Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‘"
    Kafka war diese Episode so wichtig, dass er sie aus dem als gescheitert angesehenen und nach seinem Tod testamentarisch zur Vernichtung bestimmten "Prozess"-Projekt ausgelagert und als Gleichnis unter dem Titel "Vor dem Gesetz" in dem Erzählungsband "Ein Landarzt" separat veröffentlicht und in Sicherheit gebracht hat. Vielleicht ein Hinweis des Autors, wo er eine geheime Botschaft versteckt haben und ein möglicher Schlüssel zum Verständnis des Romans "Der Prozess" zu finden sein könnte. Im selben Moment hat Kafka diese Botschaft allerdings auch schon wieder zu versiegeln versucht, indem er den Geistlichen Josef K. den Rat geben lässt:
    "Du musst nicht zu viel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber …"