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Konjunkturlage
Vor allem Deutschlands Wirtschaft taumelt - Experten sehen verschiedene Gründe

Anders als in anderen großen Industriestaaten ist die aktuelle Konjunkturlage in Deutschland ungewohnt angespannt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Der CDU-Vorsitzende Merz warnte erneut vor der Gefahr eines wirtschaftlichen Abstiegs und verlangte ein Gegensteuern der Bundesregierung.

    Getriebeproduktion für Windkraftanlagen.
    Merz (CDU): "Wir erleben einen schleichenden Prozess der Deindustrialisierung unseres Landes. (imago/Rainer Weisflog)
    Mitten im Sommer stiegen die Arbeitslosenzahlen, und die Zahl der Insolvenzen habe im ersten Halbjahr 2023 um 16 Prozent über der im Vorjahr gelegen, sagte Merz der Deutschen Presse-Agentur. Zudem sei die Industrieproduktion rückläufig. Das müsse Deutschland als Land mit hohem Industrieanteil zutiefst besorgen. Die Wettbewerbsfähigkeit nehme ab, führte der Chef der größten Oppositionsfraktion im Bundestag aus. Das sei kein abrupter Prozess, der eine Wirtschaftskrise über Nacht auslöse. Der Prozess der Deindustrialisierung verlaufe schleichend. Das müsse man aber dennoch sehr ernst nehmen.
    Merz rief die Bundesregierung zum Handeln auf. Dabei verwies er auf hunderttausende offene Stellen bei mehr als 2,5 Millionen Arbeitslosen. Zugleich dauerten die Verfahren bei der Einwanderung von Fachkräften zu lange, meinte Merz. Die Bearbeitung von Anträgen und die Anerkennung von Zeugnissen und Berufsabschlüssen benötigten dringend modernste digitale Verfahren.

    Habeck und Lindner mit unterschiedlichen Vorstellungen

    Bundeswirtschaftsminister Habeck (Grüne) hatte zuletzt erklärt, nötig seien jetzt eine zielgerichtete Unterstützung für Investitionen durch steuerliche Abschreibungen, ein Industriestrompreis und schnell viel erneuerbare Energie. Bundesfinanzminister Lindner drängte unter anderem auf Bürokratieabbau und steuerliche Entlastungen der Unternehmen. Der FDP-Chef hatte bereits Pläne vorgestellt, mit denen vor allem kleineren und mittelständischen Betrieben im Volumen von rund sechs Milliarden Euro pro Jahr geholfen werde soll. Einen Industriestrompreis als neue Subvention lehnt Lindner ab. Klassische Konjunkturprogramme wollen beide nicht: Wer in Zeiten hoher Inflation Geld mit der Gießkanne verteile, bringe nur eines zum Wachsen: die Inflation.
    Laut dem Statistischen Bundesamt stagnierte das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal von April bis Juni. Davor hatte es einen Rückgang gegeben. Deutschland befindet sich - anders als andere große Industrieländer - in einer technischen Rezession. Laut Internationalem Währungsfonds dürfte die Bundesrepublik im Gesamtjahr 2023 das einzige große Land sein, dessen Wirtschaft insgesamt schrumpfen wird. Die Zahl der Arbeitslosen stieg im Juni auf 2.555.000 Millionen, wie die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg mitteilte. Das waren 11.000 mehr als im Mai und 192.000 mehr als vor einem Jahr. Laut der Wirtschaftsauskunftei Creditreform meldeten dieses Jahr bereits 8.400 Unternehmen bis Ende Juni Insolvenz an. Das bedeutet demnach eine Steigerung um 16,2 Prozent im Vergleich zum ersten Halbjahr 2022. Eine höhere prozentuale Zunahme im Vergleichszeitraum gab es zuletzt 2002.

    Viele Wirtschaftsindikatoren zeigen nach unten

    Bundeswirtschaftsminister Habeck führte als Gründe für die negative Entwicklungen vor allem die hohen deutschen Energiepreise an. Sie seien eine direkte Konsequenz aus dem Ausstieg aus russischen Energieimporten nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, sagte er im ARD-Fernsehen: "Das haben andere Regionen so gar nicht gehabt, schon gar nicht die USA, aber auch Großbritannien oder Spanien. Die hatten faktisch kein russisches Gas."
    Experten sehen verschiedene Ursachen für die angespannte Wirtschaftslage speziell in Deutschland. Der wichtigste Frühindikator für die Entwicklung der deutschen Wirtschaft zeigt nach unten: Der Ifo-Geschäftsklimaindex sank im Juli bereits den dritten Monat in Folge und landete auf einem Jahrestief. Mit dem Einkaufsmanagerindex für die Industrie zeigt ein weiterer Frühindikator steil nach unten. Höhere Zins- und Materialkosten belasten die Baubranche immer mehr. Von Januar bis Mai brachen die Aufträge im Bauhauptgewerbe inflationsbereinigt um 15,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ein.

    "Made in Germany" wird fürs Ausland immer teurer

    In der deutschen Exportindustrie ist die Stimmung so schlecht wie seit mehr als drei Jahren nicht mehr. Im Ausland entwickelt sich die Nachfrage eher schwach, was auch als eine Folge der restriktiven Geldpolitik in den USA und Europa gilt. Die Zentralbanken haben auf beiden Seiten des Atlantiks ihre Zinsen kräftig heraufgesetzt, um die Inflation zu bekämpfen. Das treibt die Finanzierungskosten in die Höhe, etwa für den Kauf von Waren "Made in Germany". Parallel schrumpft das Neugeschäft der Industrie. Von März bis Mai fielen die Aufträge um 6,1 Prozent niedriger aus als in den vorangegangenen drei Monaten.
    Ein weiterer Grund für die Konjunkturlage ist die Inflation. Sie hat zwar ihren Höchststand hinter sich; da sind sich die meisten Ökonomen einig. Bis Jahresende dürfte sich die Teuerungsrate in Richtung drei Prozent bewegen. Dass dies die Schwäche von Industrie, Bau- und Exportwirtschaft kompensiert, ist aber nicht zwingend zu erwarten. Das zeigt etwa die Verbraucherumfrage der GfK-Konsumforscher. Das daraus ermittelte Konsumklima-Barometer stieg zwar im August um 0,8 Punkte, verharrte aber mit minus 24,4 Zähler tief im negativen Bereich.
    Diese Nachricht wurde am 30.07.2023 im Programm Deutschlandfunk gesendet.