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Vor dem EU-Gipfel
Das schwierige Verhältnis zum Beitrittskandidaten Türkei

Noch ist die Türkei offiziell EU-Beitrittskandidat – trotz Menschenrechtsverletzungen und der Inhaftierung deutscher Journalisten. Doch die Stimmen werden lauter, den Beitrittsprozess zumindest auszusetzen. Was beschließen die EU-Staats- und Regierungschefs beim Gipfeltreffen diese Woche in Brüssel?

Von Gunnar Köhne |
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    Türkische Metropole Istanbul: Beitrittsprozess fortsetzen, aussetzen oder beenden? (imago stock&people)
    "Seit 1959 lassen sie uns warten. Und? Haben sie es geschafft uns unterzukriegen? Nein! Aber wir sind geduldig. Wir sagen der EU: Macht euch doch aus dem Staub! Wenn ihr aufrichtig seid, dann sagt es doch endlich! Wir brauchen euch nicht."
    Wenn der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan über die Europäische Union spricht, so wie in der vergangenen Woche in einer Rede in Istanbul, dann wiederholt er stets zwei Dinge: Wir Türken brauchen die EU nicht, erstens. Und zweitens: Wenn ihr die Beitrittsgespräche mit uns beenden wollt, bitte schön! Aber den ersten Schritt müsst ihr machen.
    Europäischer Rat nicht einig
    Während einige EU-Mitgliedsstaaten – wie zum Beispiel Österreich – dieser Aufforderung gerne nachkommen würden und schon länger einen Abbruch der Beitrittsgespräche mit Ankara fordern, sind andere Länder entweder dagegen – wie Italien – oder zögerlich, wie Deutschland. Nur das EU-Parlament hatte im vergangenen November dafür plädiert, den Beitrittsprozess formell auszusetzen. Aber über einen solchen Schritt muss der Europäische Rat entscheiden, das Gremium der Mitgliedstaaten.
    Bundeskanzlerin Merkel äußerte sich im Vodcast zu den Beratungen über die Beziehungen zu Türkei
    Bundeskanzlerin Merkel äußerte sich in einem Interview für ihren Videokanal zu den Beratungen über die Beziehungen zu Türkei. (Screenshot von der Website https://www.bundeskanzlerin.de)
    Bundeskanzlerin Merkel hat angekündigt, bei dem am Donnerstag stattfindenden EU-Gipfeltreffen, über eine Fortsetzung der Beitrittsgespräche mit der Türkei beraten zu lassen. So hatte sie es im Wahlkampf versprochen. Der Forderung nach einem sofortigen Ende der Beitrittsverhandlungen hat sich Merkel aber bislang nicht angeschlossen. In einer Videobotschaft sagte die Kanzlerin vergangene Woche:
    "Wir werden hier sicherlich noch keine Entscheidungen treffen, aber ich möchte mir einmal die Meinungen meiner Kollegen anhören, wie sie die bilateralen Beziehungen mit der Türkei sehen und welche Schlussfolgerungen wir gegebenenfalls daraus ziehen können. Mit konkreten Beschlüssen rechne ich nicht, sondern mit einer sehr offenen Debatte."
    Ausstiegsklausel existiert
    Die Bundesregierung habe die EU-Kommission um einen Bericht zur Menschenrechtslage in der Türkei gebeten. Dass der Bericht vorteilhaft ausfällt, wird nicht erwartet. Am Ende könnte er den Vorwand liefern, die Beitrittsverhandlungen mit Ankara zu beenden oder zumindest auszusetzen.
    Tatsächlich bietet der Beschluss der EU von 2004, mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, eine als "Notbremse" deklarierte Ausstiegsklausel: Wenn ein Drittel der EU-Mitgliedsstaaten es fordert oder wenn die von der EU verlangten Reformen in den Bereichen Menschenrechte, Minderheitenschutz und Meinungsfreiheit ins Stocken geraten, können die Verhandlungen ausgesetzt werden.
    Allerdings wurden auch in den jährlichen Fortschrittsberichten über die Türkei in den vergangenen Jahren die massive Verfolgung von Regierungskritikern deutlich beschrieben. Zu einer Aussetzung der Beitrittsverhandlungen führte dies allerdings nicht.
    Teilnehmer einer Mahnwache halten am 13.04.2017 vor der Stadthalle in Flörsheim (Hessen) Schilder mit der Aufschrift "#FreeDeniz" und dem Porträt des in der Türkei inhaftierten deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel in den Händen. Der aus Flörsheim stammende Türkei-Korrespondent der Zeitung «Die Welt» wurde Mitte Februar in Istanbul festgenommen. Seit Anfang März sitzt er unter dem Verdacht der Terrorpropaganda in Haft. Foto: Arne Dedert/dpa | Verwendung weltweit
    Mahnwache für Deniz Yücel im hessischen Flörsheim (dpa)
    Doch seit der Inhaftierung etlicher deutscher Staatsbürger in der Türkei – darunter die Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu sowie der Menschenrechtler Peter Steudtner – und den verbalen Ausfällen Erdogans gegenüber Deutschland ist – zumindest hierzulande – alles anders. Umfragen zufolge fordert die Mehrheit der Deutschen eine härtere Gangart gegenüber der Türkei, wirtschaftliche Strafmaßnahmen eingeschlossen.
    Das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU ist, so scheint es, völlig zerrüttet. Auf beiden Seiten wird nun das Ende eines Beitrittsprozesses herbeigeredet, der ohnehin nur noch formal existiert. Gerade einmal 16 von 35 Verhandlungskapiteln wurden mit der Türkei in der vergangenen 17 Jahren eröffnet, erst eines – Wissenschaft und Forschung – konnte abgeschlossen werden.
    Eingeständnis des Scheiterns gefordert
    Mehr und mehr Politiker in der EU fordern deshalb das ehrliche Eingeständnis des Scheiterns der türkischen Beitrittsverhandlungen – und gleichzeitig, nach Alternativen zu suchen. So auch der Vize-Präsident des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff:
    Alexander Graf Lambsdorff
    FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff - Vize-Präsident des EU-Parlaments und in den Bundestag gewählt (dpa/picture-alliance/Monika Skolimowska)
    "Es geht nicht darum, den Dialog mit der Türkei zu beenden. Sondern, worum es geht, ist, einen Beitritt, den es nicht geben wird, zu ersetzen durch ehrliche Gespräche und pragmatische Zusammenarbeit; einen Grundlagenvertrag, in dem man sagen kann: Bei der Energiesicherheit müssen wir in schwierigen Zeiten zusammenarbeiten, Zusammenarbeit angesichts der sicherheitspolitischen Situation im östlichen Mittelmeerraum, Syrien muss mit den Türken bewältigt werden (…). Es gibt so viele Themen, wo man etwas tun kann: Kultur, Wissenschaft, Tourismus, Wirtschaft. Ganz viele Themen, aber alles liegt auf Eis, weil der Beitrittsprozess natürlich alles hemmt. Wenn wir eine andere Art der Zusammenarbeit hätten – das wäre immer noch schwierig, keine Frage, denn die Rechtsstaatsfrage bliebe immer noch ungelöst, aber wir hätten zumindest mal wieder einen Hebel gegenüber der Türkei, mit dem man etwas erreichen kann."
    Privilegierte Partnerschaft klingt an
    Grundlagenvertrag – das klingt nach dem, was die 2005 frisch gewählte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Gleichklang mit dem damaligen französischen Präsidenten Sarkozy eine "privilegierte Partnerschaft" mit der Türkei nannte: Größtmögliche Anbindung der Türkei an Europa bei gleichzeitigem Ausschluss einer Vollmitgliedschaft. Damals galt Recep Tayyip Erdogan aber noch als mutiger Reformer seines Landes. Er modernisierte das Strafrecht, suchte den Dialog mit den Kurden, erweiterte die Rechte nicht-muslimischer Minderheiten und schaffte die Todesstrafe ab. Zwischen 2001 und 2005 machte die Türkei besonders im Bereich der Menschenrechte zunächst Fortschritte und erfüllte damit Forderungen der EU. Neun Gesetzespakete zur Harmonisierung mit der EU wurden allein zwischen 2002 und 2004 vom Parlament beschlossen.
    Dennoch gab es schon damals keinen Fortschritt in den Verhandlungen, was einerseits an ständigen Vetos von Griechenland und Zypern, andererseits an der Ablehnung Deutschlands und Frankreichs lag. All dies führte dazu, dass sich die Türkei von den Europäern nie richtig "akzeptiert" fühlte – nicht zuletzt von der deutschen Politik.
    De-Europäisierung in der Türkei
    Die AKP von Tayyip Erdogan eilte danach von einem Wahlsieg zum anderen und es setzte eine von Vielen als "De-Europäisierung" bezeichnete Entwicklung ein: Im Bereich Menschenrechte oder bei der Behandlung von Minderheiten in der Türkei zählten die Forderungen der EU nicht mehr.
    Aber selbst die türkische Opposition fragt: Warum sollen wir uns für die Erfüllung der Beitrittskriterien anstrengen, wenn wir am Ende doch nicht in die EU aufgenommen werden? Das Gefühl, in Brüssel nicht willkommen zu sein und immer nur hingehalten zu werden, hat sich bei der Mehrheit der Türken festgesetzt. Auch Erdogan lässt in einem Interview mit der BBC erkennen, dass er persönlich gekränkt ist:
    "Nachdem ich Ministerpräsident geworden war, hieß es auf den EU-Gipfeln: Die Türkei vollzieht eine stille Revolution. Heute laden sie uns zu den Gipfeltreffen nicht einmal mehr ein. Ein Großteil meines Volkes will die EU heute nicht mehr und findet das Verhalten der Europäer nicht aufrichtig."
    Flüchtlingsabkommen birgt neuen Streit
    Nicht aufrichtig behandelt sieht sich die türkische Seite offiziell auch im Rahmen des so genannten Flüchtlingsabkommens mit der EU. Von Bundeskanzlerin Merkel eingefädelt, wurde damit seit März 2016 der Flüchtlingsstrom über die Türkei nach Westeuropa gedrosselt. Der Deal lautet im Wesentlichen: Die Türkei hält die Flüchtlinge auf und macht die Grenzen nach Europa dicht – im Gegenzug fließt Geld nach Ankara, mindestens drei Milliarden Euro, zur Unterstützung der 2,8 Millionen Flüchtlinge.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel im türkischen Flüchtlingslager Nizip.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel im türkischen Flüchtlingslager Nizip: Ankara wartet noch auf die Visa-Freiheit (Steffen Kugler/dpa)
    Erst 800 Millionen Euro seien seitdem geflossen, beklagt die Regierung in Ankara. Demgegenüber sagt Brüssel, es sei bereits mehr als die Hälfte der zugesagten Gelder ausbezahlt worden. Allerdings nicht an die türkische Regierung, sondern direkt an Hilfsprojekte im Land. Darunter ist das bis dahin größte humanitäre Einzelprojekt in der Geschichte der EU: Ein Bezahlkartensystem für das sie insgesamt 384 Millionen Euro zur Verfügung stellte. Auf diesen Karten werden ähnlich wie bei einer Prepaid-Karte monatlich umgerechnet 30 Euro aufgeladen, die zur Deckung der Grundbedürfnisse ausreichen sollen. Eine Million Bedürftige hätten inzwischen eine solche Bezahlkarte, heißt es aus Brüssel.
    Enttäuscht ist die türkische Seite auch darüber, dass bis heute nichts aus der von Brüssel in Aussicht gestellten Visa-Liberalisierung geworden ist. Nach Abschluss des Flüchtlingspaktes sollte das Problem eigentlich schnell gelöst werden. Schließlich brauchen die meisten Türken, die in die EU reisen, ein Visum. Ein Zustand, den ihre Regierung seit Jahren ändern will. Doch weil die Türkei fünf Kriterien für die Visafreiheit noch nicht erfüllt hat – eines davon ist eine Änderung der Anti-Terror-Gesetze –, bleibt die Angelegenheit in der Schwebe.
    Manche werten das Abkommen auch positiv
    Doch trotz aller Kritik: Der so genannte Flüchtlingsdeal funktioniert im Großen und Ganzen und gilt Beobachtern auf beiden Seiten als Beispiel dafür, dass Türken und Europäer auch ohne EU-Beitritt zum Wohle beider Seiten zusammenarbeiten können. Die Chefin des Europäischen Amts für humanitäre Hilfe in Ankara, Jane Lewis, sagte gegenüber der Wochenzeitung "Die Zeit":
    "Auf der technischen Ebene haben wir eine unglaublich gute Zusammenarbeit mit unseren Gegenübern in der Regierung. Ich mag das Wort nicht besonders, aber es handelt sich um eine echte Partnerschaft."
    Haben sich beide Seiten also im Stillen längst damit abgefunden, dass es zukünftig nur noch eine solche, wie auch immer geartete, besondere Partnerschaft geben wird – und keine EU-Mitgliedschaft? Um einen Eklat zu vermeiden, schlägt der EU-Politiker Graf Lambsdorff einen sanften Übergang zur privilegierten Partnerschaft vor:
    "Das Flüchtlingsabkommen beruht ja darauf, dass wir der Türkei helfen, mit der großen Zahl der Flüchtlinge umzugehen. Das würde selbstverständlich weitergehen. Und es geht auch nicht darum, einfach einen kalten Abbruch zu machen. Sondern es geht darum, wie in einer Art Scharnier, in einem Gipfeltreffen, den einen, den gescheiterten Prozess abzulösen und durch einen neuen, hoffentlich produktiveren Prozess zu ersetzen."
    Gespräche über Zollunion ausgesetzt
    Doch solange Deniz Yücel, Mesale Tolu und Peter Steudtner vor den Toren Istanbuls im Hochsicherheitsgefängnis Silivri einsitzen, wird es eine Normalisierung der deutsch-türkischen – und damit auch der europäisch-türkischen Beziehungen – schwerlich geben. Das hat die Bundesregierung mit der Verschärfung der Reisewarnungen für die Türkei und der Überprüfung von Exportbürgschaften für den Handel mit der Türkei deutlich gemacht.
    70 Kilometer außerhalb von Istanbul liegt Gefängnis und Gericht von Silivri.
    Gefängnis und Gericht von Silivri: Deniz Yücel, Mesale Tolu und Peter Steudtner sitzen in dem Hochsicherheitsgefängnis ein (imago / Le Pictorium / Stefanie Mizara)
    Besonders hart dürfte die Türkei treffen, dass auf Betreiben Berlins die Gespräche über eine Ausweitung der Zollunion ausgesetzt worden sind. Eine Modernisierung der seit 20 Jahren bestehenden Zollunion mit der EU hätte der Türkei neue Chancen etwa bei Agrarexporten oder der öffentlichen Auftragsvergabe verschafft.
    EU ist der größte Handelspartner
    Die EU ist der größte Handelspartner der Türkei. Einer Studie des Ifo-Instituts zufolge könnte eine erweiterte Zollunion zu einem Anstieg der türkischen Wirtschaftsleistung um knapp zwei Prozent führen. Die EU-Kommission hatte Ende 2016 geschätzt, dass das Land durch eine Vertiefung der Zollunion mehr Waren im Wert von fünf Milliarden Euro in die Staatengemeinschaft exportieren könnte.
    Die Aussetzung der Zollunionsverhandlungen trifft die türkische Regierung in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und könnte Erdogan zum Einlenken bewegen. Denn der Staatspräsident lässt sich von wirtschaftlichen Strafmaßnahmen durchaus beeindrucken, selbst wenn er öffentlich die Größe und Stärke seines Landes betont:
    "Die EU ist doch für uns nicht alternativlos. Die Türkei ist ein Land, das auf eigenen Beinen steht und ein durchschnittliches Jahreseinkommen von mehr als 11.000 Dollar pro Einwohner ausweist!"
    Beziehungen zu Russland
    Doch auch nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets an der syrisch-türkischen Grenze im Herbst 2015 durch türkische Abfangjäger, gab sich der Staatspräsident kompromisslos: Entschuldigen müsse sich allein Moskau für die vermeintliche Verletzung türkischen Luftraums.
    Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin bei einem Treffen in St. Petersburg (09.08.2016)
    Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin bei einem Treffen in St. Petersburg. (afp / Alexander Nemenov)
    Sein Gegenspieler, der russische Präsident Wladimir Putin, verhängte daraufhin von einem Tag auf den anderen schwerste Sanktionen: Charterflugverbot an die türkische Riviera, Importstopp türkischer Waren, Arbeitsverbot türkischer Firmen in Russland. Ein Jahr später erreichte den Kreml eine Entschuldigung für den Abschuss. Absender: Der Präsidentenpalast in Ankara. Erst danach konnten sich die russisch-türkischen Beziehungen wieder langsam normalisieren.
    Vorbeitrittshilfen in Milliardenhöhe
    Von der EU bekommt die Türkei als Noch-Beitrittskandidat umfangreiche so genannte "Vorbeitrittshilfen". Bis 2020 sind dafür im EU-Haushalt 4,45 Milliarden Euro vorgesehen. Die Financial Times berichtete Anfang dieser Woche, dass auf dem Gipfel eine Kürzung dieser Hilfen um eine Milliarde Euro als Strafmaßnahme beschlossen werden könnte. Dabei kann die Türkei diese Gelder gut gebrauchen. Auch deshalb ist sie an einer formalen Fortsetzung des Beitrittsprozesses interessiert.
    2019 will sich Erdogan in einer – vielleicht letzten – Wahl endgültig zum fast uneingeschränkten Herrscher des neuen Präsidialsystems ausrufen lassen. Das kann nach Meinung von vielen Beobachtern nur gelingen, wenn die Wirtschaft des Landes nicht noch mehr Schaden nimmt. Offiziellen – und damit ungeprüften – Zahlen zufolge liegt die Wachstumsrate derzeit bei fünf Prozent. Arbeitslosigkeit und Inflation sind jedoch auf einem Rekordhoch; die türkische Lira verliert stetig an Wert, das Haushaltsdefizit hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Am Laufen gehalten wird die Wirtschaft derzeit vor allem durch staatliche Kredite, mit denen die Regierung den Binnenmarkt flutet. Es ist quasi Stabilität auf Pump, bei der schon kleinste Verschiebungen eine Krise auslösen könnten.
    Querelen auch mit den USA
    Hinzu kommen weitere außenpolitische Querelen, die sich auf die Wirtschaft des Landes negativ auswirken: Die USA haben die Visavergabe an Türken eingestellt, nachdem zwei ihrer türkischen Konsulatsangestellten verhaftet worden waren. Im Streit um das Emirat Katar hat sich Erdogan an dessen Seite geschlagen und damit den Zorn der übrigen Golfstaaten auf sich gezogen. Und der Einmarsch türkischer Truppen nach Nordsyrien schließlich, droht eine Operation mit ungewissem Ausgang zu werden.
    In der Türkei spielen diese Entwicklungen eine viel größere Rolle als das Thema Europa. Umfragen zeigen: Mit einem EU-Beitritt des Landes rechnet dort so gut wie niemand mehr. Die regierungsnahe Istanbuler Publizistin Nihal Bengisu Karaca kann dem de facto gescheiterten EU-Annäherungsprozess in einer TV-Debatte immerhin noch etwas Gutes abgewinnen:
    "Der Beitritt zur EU ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass wir unseren eigenen Weg zum Erfolg finden – und das wird die Türkei erfolgreich machen. (…) Es gibt natürlich Felder auf denen wir noch besser werden müssen: Verkehr, Dienstleistungssektor, Rechtsstaat, Menschenrechte, Toleranz und so weiter. Hohe Standards müssen wir uns aber selber geben und einhalten. Insofern bringt das Scheitern des Beitrittsprozess eine neue Dynamik."
    In der Putschnacht wendet sich Präsident Erdogan via CNN und Facetime ans türkische Volk.
    In der Putschnacht wendet sich Präsident Erdogan via CNN und Facetime ans türkische Volk. (Imago)
    Enttäuschung in Ankara beim Putschversuch
    Doch in der türkischen Wirklichkeit kann von Menschenrechten keine Rede sein. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 gehen die türkischen Behörden massiv gegen Medienvertreter, Oppositionelle und mutmaßliche Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen vor. Sie werfen ihnen Unterstützung von Terrorismus vor. Dass darum immer mehr Türken in Deutschland Asyl suchen, darunter allein über 600 ehemalige Beamte und ihre Familien, belastet die Beziehungen zusätzlich. Ankara glaubt, Europa verharmlose den Umsturzversuch, bei dem über 250 Menschen ums Leben kamen. Europaminister Ömer Çelik sagt, die zögerliche Reaktion der EU habe die türkische Regierung getroffen:
    "Keine Frage, das war für uns eine schwere Enttäuschung. Das war eine der schwersten Zeiten unserer Geschichte und wir wurden von unseren Freunden und Alliierten allein gelassen."
    Seit dem Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems scheint der Umbau der Türkei zu einem autoritären Staat nicht mehr aufzuhalten zu sein. Die Europäische Union kann darüber nicht hinwegsehen. Gleichzeitig kann die Union die Türkei nicht einfach so gehen lassen: Zu groß ist die Bedeutung des Landes für Europa, vor allem geographisch und sicherheitspolitisch: Ob es um die Bekämpfung des internationalen Terrorismus geht, die so genannte "Flüchtlingskrise" oder die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten.
    Ankara bietet sich als Partner an
    Europaminister Çelik, der erste Politiker in diesem Amt, der keine Fremdsprache beherrscht, hofft denn auch, dass sich die EU trotz aller Meinungsverschiedenheiten wieder der Türkei zuwendet – und bietet sich als Partner in der Krise an:
    "Die EU hat intern eine Menge Probleme. Der Ausgang des Brexit ist unsicher; sie sind nicht in der Lage die illegale Einwanderung zu steuern, ihre Anti-Terror-Kapazitäten sind begrenzt und es gibt einen Stau notwendiger Reformen. Aber anstatt sich darum zu kümmern, fällt ihnen nicht anderes ein als über die Türkei zu reden."
    Polens Präsident Andrzej Duda (rechts) reicht dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Warschau die Hand.
    Polens Präsident Andrzej Duda (rechts) reicht dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Warschau die Hand. (dpa / picture alliance / Bartlomiej Zborowski)
    Noch Anfang dieses Jahres sprach der türkische Präsident Erdogan davon, das Volk über eine Fortsetzung des Beitrittsprozesses abstimmen zu lassen. Davon ist schon länger keine Rede mehr. Stattdessen gilt: Wir werden die Verhandlungen von uns aus nicht abbrechen:
    "Wir halten unsere Zusagen ein. Aber wenn die EU uns gegenüber ehrlich wäre und uns sagen würde: Wir nehmen die Türkei nicht in die EU auf, dann würde uns das erleichtern. Dann würden wir uns Plan B oder C zuwenden."
    Aber welche Alternativen hätte die Türkei auf Dauer zu ihrem größten Wirtschaftspartner Europa? Nicht sehr viele, weiß vermutlich auch Erdogan. Zufall oder nicht: Ausgerechnet zwei Tage vor dem EU-Gipfel reist der türkische Präsident zu Gesprächen in die EU. Er stattet Polen einen Staatsbesuch ab.