Es ist schon fast ein sommerliches Ritual. Seit Jahren sieht sich der Präsident des Bundestages, Norbert Lammert, veranlasst, seine Kolleginnen und Kollegen bei den letzten Sitzungen vor den Parlamentsferien und vor der Abreise in den Urlaub zu ermahnen: "Ich wiederhole meine frühere Empfehlung: Schwimmen sie nicht zu weit raus. Vielleicht wäre es auch zu überlegen, Kurzurlaube in Berlin in fußläufiger Entfernung zum Reichstagsgebäude für die diesjährige Sommerpause einzuplanen, um auf alle Eventualitäten gerüstet zu sein."
Alle Eventualitäten: das heißt, Sondersitzungen des Bundestages, Entscheidungen über weitere Hilfen für Griechenland, egal wie das Referendum am Sonntag ausgeht. Dass weder ein Nein der Griechen zu den Programmauflagen der Gläubiger noch ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone dem deutschen Parlament schwierige Entscheidungen ersparen würde, ist inzwischen allen bewusst. Mehr als ein paar Tage in der sommerlichen Hitze dahinschmelzender Zeit ist auch für die Politik in Berlin nicht gewonnen.
"Es liegt ja gar nichts vor. Man weiß ja gar nicht, worüber man abstimmen muss. Insofern ist das eine hypothetische Frage, die kann ich nicht beantworten", sagt der CDU-Wirtschaftspolitiker Carsten Linnemann. Er gehört zu den Unionsabgeordneten, die der Kanzlerin schon bei den letzten Griechenlandabstimmungen die Gefolgschaft verweigert und gegen die Hilfsprogramme gestimmt haben. Viele in Berlin fürchten, dass Angela Merkel mit Blick auf die Kritiker in den eigenen Reihen vor allem dann in eine schwierige Situation käme, wenn die Griechen am Sonntag mit knapper Mehrheit mit Ja und damit für die Angebote Europas und des IWF stimmen. Die europäischen Partner kämen dann kaum umhin, das Votum der Griechen mit Geld zu belohnen. Der Wirtschaftswissenschaftler Clemens Fuest spricht aus, was viele Politiker eher hinter vorgehaltener Hand sagen: "Aus meiner Sicht wäre ein Ja eindeutig besser, denn das würde wohl dazu führen, dass diese Regierung zurücktreten muss. Die Regierung hat in den letzten sechs Monaten Griechenland noch viel tiefer in die Rezession befördert. Es wäre wichtig, dass diese Regierung zunächst mal ausgewechselt wird. Und dann kann man sehen, wie es weiter geht."
Aus Berliner Sicht heißt das aber eben auch: Die Entscheidung liegt zunächst allein in Griechenland. Bis Sonntagabend liegt man hier im Windschatten der Ereignisse. Solange vertreiben sich Abgeordnete, Minister und Journalisten die Zeit auf den Sommerfesten, die allabendlich von Verbänden, Fraktionen und Ministerien gegeben werden, gestern Abend auf der Dachterrasse des Auswärtigen Amtes. Die Stimmung wirkt gelöst, man erfreut sich am spektakulären Blick über das nächtliche Berlin, doch in den Gesprächen wird deutlich, mit welcher Besorgnis man wahrnimmt, was sich zeitgleich in Athen zusammenbrauen könnte.
Viele haben auch in Berlin den gemeinsamen Auftritt von Alexis Tsipras und seinem rechtsradikalen Verteidigungsminister Kammenos wahrgenommen, der versprach, die Armee werde die Stabilität des Landes gewährleisten. Was heißt das? Wer kann hier schon die Rolle der griechischen Armee einschätzen? Ein NATO-Partner immerhin, einer der besten Kunden der deutschen Rüstungsindustrie – aber auch eine Armee, die schon einmal gegen eine linke Regierung geputscht hat. Was heißt das in diesen Tagen? wird gefragt und niemand hat eine Antwort. Man kennt sich weniger im vereinten Europa, als man das lange geglaubt hatte.