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Vor dem Urteil im Abu-Walaa-Prozess
Eine Regalwand voller Akten und 120 Zeugen

Abu Walaa soll Deutschland-Chef der Terrororganisation "Islamischer Staat" gewesen sein. Seit 2017 stehen er und drei Mitangeklagte vor Gericht. Im Februar soll das Urteil fallen. Es ist das bislang größte Verfahren, das der deutsche Staat gegen Islamisten führte.

Von Alexander Budde |
Der angeklagte Abu Walaa steht im Oberlandesgericht in Celle (Niedersachsen), er hält einen Ordner vor dem Gesicht
Abu Walaa vor dem Oberlandesgericht Celle (picture alliance / Julian Stratenschulte/dpa | Julian Stratenschulte)
Gefangenen-Transporter rasen im Konvoi durch Celle. Schwerbewaffnete Polizisten sichern die Zugänge zum Oberlandesgericht. Das historische Gerichtsgebäude liegt am Rande der Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern. Im niedersächsischen Celle nimmt kaum noch jemand Notiz davon, wenn die geballte Staatsmacht stets dienstags und mittwochs in der beschaulichen Kreisstadt sichtbar wird. Mehr als drei Jahre lang hat der Staatschutzsenat verhandelt. In diesen Tagen steht das Urteil an - im größten Terrorprozess, den der deutsche Staat bislang gegen Islamisten führte.
Ahmed Abdelasis A. alias Abu Walaa von hinten bei einer Video-Botschaft.
Im Internet, bei Youtube, Facebook und auch auf dem Messengerdienst Telegram posierte Abdullah A., auch bekannt als Abu Walaa, stets mit dem Rücken zur Kamera (dpa / Screenshot)
Der Hauptangeklagte ist Ahmad Abdulaziz Abdullah A., besser bekannt unter seinem szenetypischen Beinamen "Abu Walaa". Ihm wird vorgeworfen, in den Jahren 2014 und 2015 der Statthalter der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) in Deutschland gewesen zu sein. In der Moschee des inzwischen verbotenen Deutschsprachigen Islamkreises in Hildesheim predigte Abu Walaa eine besonders extreme Lesart des Islams.

Propagandafilme mit klarem Subtext

Auch in seinen Propagandafilmen übte sich der mutmaßliche Deutschland-Chef des IS nicht länger nur in frommer Nabelschau. Die Islamisten aus der Szene hätten stets verstanden, welcher Subtext gemeint ist, davon sind die Ermittler überzeugt. Etwa wenn der Prediger verklausuliert dazu aufrief, die sogenannte Hidschra anzutreten. In salafistischen Kreisen ist damit die Auswanderung aus dem Land der Ungläubigen, der Kuffar, gemeint, hier also die Ausreise aus Deutschland.
"Die Hidschra zu machen, ist Pflicht für jeden Moslem. Dass er das Land des Kuffar verlässt und zu dem Land des Islam geht."
Salafismus - Prozess gegen "Abu Walaa" vor dem Ende
Unterstützung einer terroristischen Vereinigung lautet der Vorwurf gegen die vier Männer, die in Celle vor Gericht stehen, darunter der Prediger "Abu Walaa". Über drei Jahre dauert der Prozess schon, in dem auch der V-Mann des Attentäters Anis Amri eine Rolle spielte.
Im Internet, bei Youtube, Facebook und auch auf dem Messengerdienst Telegram posierte Abdullah A. stets mit dem Rücken zur Kamera, weshalb der gebürtige Iraker auch als "Prediger ohne Gesicht" bezeichnet wird. Die Vorwürfe gegen ihn und drei weitere mutmaßliche Angeklagte wiegen schwer, sagt Holger Schneider-Glockzin. Er ist Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof und hier Vertreter der Bundesanwaltschaft. "Den vier Angeklagten wird zur Last gelegt, als Mitglied beziehungsweise Unterstützer des sogenannten Islamischen Staates überwiegend sehr junge Menschen indoktriniert, für die terroristische Vereinigung rekrutiert und deren Ausreisen nach Syrien gefördert zu haben."
Boban S. und Hasan C. sollen im Ruhrgebiet Ausreisewillige um sich geschart haben, junge Leute, die als IS-Kämpfer nach Syrien und in den Irak geschickt worden sein sollen. Mahmoud O. wird vorgeworfen, diese Ausreisen zum IS mitorganisiert zu haben. Abu Walaa soll aus Sicht der Anklagebehörde der führende Kopf dieses Netzwerks mit besten Verbindungen in die damaligen Herrschaftsgebiete der Terrororganisation gewesen sein. Der Prediger habe die Ausreisen autorisiert, Kontakte hergestellt, Unentschlossene indoktriniert, so die Anklagebehörde.

Die Angeklagten sitzen hinter Panzerglas. Weiter hinten im Saal drängen sich zum Prozess-Auftakt im September 2017 Medienvertreter und Zuschauer. Ihre Reihen werden sich über die Jahre hinweg und zuletzt wegen der Corona-Pandemie stark lichten. Die NDR-Fernsehjournalistin Angelika Henkel erinnert sich. "Das war eine sehr schwierige Situation für Zeugen, die gegen diese Islamisten aussagen mussten. Da so nahe bei denen zu sitzen, sie quasi buchstäblich im Nacken zu haben. Und dann sitzt da eine ganze Phalanx von Anwälten, die nur darauf warten, dass man sich irgendwie verstrickt und das einem vorzuhalten - natürlich, das ist auch deren Aufgabe."
Der Angeklagte (r) unterhält sich im Oberlandesgericht Celle mit seinem Verteidiger durch eine Glasscheibe am 28.01.2020
Die Angeklagten sitzen hinter Panzerglas und können sich mit ihren Verteidigern durch die Scheibe unterhalten (dpa/Ole Spata)

Anil O. packte schließlich aus

Die Anklage stützt sich vor allem auf die Aussagen des IS-Aussteigers Anil O., der zum Hauptbelastungszeugen wurde. Mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn war er im August 2015 trotz eines gültigen Ausreiseverbots selbst in das syrische Kriegsgebiet aufgebrochen. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen hatte den Deutsch-Türken da längst als Gefährder eingestuft. Doch der Traum vom gottesfürchtigen Leben währte angesichts der erlebten Kriegsgräuel in Syrien nicht lange. Anil O. sagte sich los, floh ein halbes Jahr nach seiner Ausreise mitsamt seiner Familie in die Türkei.
Reporter von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung trafen den ehemaligen Medizinstudenten dort - als der noch seine Rückkehr nach Deutschland organisierte. Schon damals beschrieb Anil O. die besondere Anziehungskraft, die von Abu Walaa als entscheidender Autorität für junge Islamisten ausgegangen sei.
"In der Szene weiß jeder, dass Abu Walaa einer von wenigen Predigern in Deutschland ist, der den IS auch unterstützt. Und der auch mitunter die Reise nach Syrien organisiert für Jugendliche, die tatsächlich die Absicht haben, zum IS zu gehen und sich dem anzuschließen."

Gegen einen ordentlichen Rabatt in Form einer zweijährigen Bewährungsstrafe im eigenen Strafverfahren packte Anil O. bei den deutschen Sicherheitsbehörden aus. Insbesondere den Prediger Abu Walaa belastet der Kronzeuge schwer. Der Prediger habe IS-Sympathisanten wie ihn für den Dschihad begeistert. Die Hildesheimer Moschee sei ein Sammelbecken für selbsternannte Gotteskrieger aus ganz Europa gewesen. Bei Propagandaschulungen hätten die Islamisten zu Dutzenden in den verwinkelten Räumen der ehemaligen Schlecker-Filiale campiert.
Screenshot eines Videos, das von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) aufgenommen worden sein soll und angeblich die Enthauptung des US-Fotografen James Foley zeigt. Der Reporter wird nach Angaben seiner Unterstützer seit 2012 vermisst. Er habe sich zuletzt in Syrien aufgehalten. 
Einer der Angeklagten soll Schülern im Hinterzimmer seines Duisburger Reisebüros IS-Propagandavideos vorgeführt haben, die die bestialische Ermordung von Gefangenen zeigten (dpa / picture alliance)

Verkleidet mit blonder Perücke und schwarzer Hornbrille

Der heute 25-Jährige befindet sich im Zeugenschutzprogramm. In Celle begleiteten ihn Personenschützer bis in den Gerichtssaal hinein. Verkleidet mit blonder Perücke und schwarzer Hornbrille schilderte Anil O. seinen Werdegang vom begabten Musterschüler zum fanatischen Islamisten.
"Er ist da sehr selbstbewusst aufmarschiert. Und sein Auftritt war schon eben sehr souverän und sehr überzeugend und er hat einfach auch an diesen 20 Verhandlungstagen unter sehr scharfer Befragung durch die Verteidiger ja auch in wesentlichen Punkten keine Widersprüche gezeigt."
So erlebte es die Chefreporterin der Braunschweiger Zeitung, Katrin Schiebold. Doch es gab auch Momente der Irritation, die den Hauptbelastungszeugen ins Zwielicht rückten, so die Prozessbeobachterin Angelika Henkel. Etwa, als das Gericht auf Wunsch der Verteidigung eine belastende Tonaufnahme abspielte. Die Ermittler hatten das Telefon des Zeugen angezapft.
"Wo Anil O. aus der Türkei heraus offenkundig versucht hatte, Computer-Betrug zu begehen. Und er hatte da angerufen bei einer Firma - und die nach Strich und Faden belogen. Ohne mit der Wimper zu zucken. Mit der gleichen Nonchalance, mit der er im Gericht auftrat. Und das waren Momente, wo man dachte: Stimmt das, was der sagt?"

Ein Informant der Polizei war tief in die Islamistenszene eingetaucht

Nach Ansicht der Verteidigung ist Anil O. ein notorischer Lügner. Ein Ex-Islamist, der die Verantwortung für eigene Verbrechen kleinredet - und sich der Justiz mit fabrizierten Geschichten über seine früheren Glaubensgenossen geradezu auf dem Silbertablett angeboten habe.
"Es ist ja nicht überraschend, dass jemand, der selber nach Syrien gereist ist, um sich dort dem Islamischen Staat anzuschließen, uns schildern kann, wie es in Rakka aussieht und wen er dort getroffen hat. Aber zu den konkreten strafrechtlichen Vorwürfen betreffend die Angeklagten, da bleiben seine Angaben extrem vage und ohne jede Details." Thomas Koll, der Strafverteidiger von Abu Walaa sagt, der Kronzeuge habe lediglich geliefert, was von Seiten der Ermittlungsbehörde von ihm erwartet wurde. "Und was die Bundesanwaltschaft dabei gerne unter den Teppich kehrt, ist, dass dieser Kronzeuge, bevor er die Aussagen tätigte, umfassende Aktenkenntnis erhalten hat, unter anderem natürlich von den Aussagen dieser VP01."
VP01: Unter diesem Codenamen war ein bezahlter Informant der Polizei in Nordrhein-Westfalen tief in die Islamistenszene eingetaucht. Murat Cem, so der Name, den die Vertrauensperson zur Tarnung trug, war zunächst auf den damals noch als Top-Islamisten eingeschätzten Anil O. angesetzt worden. Über ihn und weitere Zielpersonen will VP01 auf die Gruppe um Abu Walaa gestoßen sein. Auch Cem berichtete den Kriminalbeamten, die ihn regelmäßig abschöpften, von den arbeitsteiligen Strukturen des mutmaßlichen Schleusernetzwerks. Der Mitangeklagte Hasan C. soll Schülern im Hinterzimmer seines Duisburger Reisebüros IS-Propagandavideos vorgeführt haben, die die bestialische Ermordung von Gefangenen zeigten. Die private Koranschule, die Boban S., ein weiterer Mitangeklagter, in Dortmund unterhielt, sei kein seriöses Bildungsangebot gewesen, sondern das "Versteck eines Hasspredigers".
Prozessauftakt in Celle - "Prediger ohne Gesicht" vor Gericht
Vor dem Oberlandesgericht Celle begann der Prozess gegen den IS-Prediger Abu Walaa und vier weitere mutmaßliche Top-Islamisten. Sie sollen von einer Hildesheimer Moschee Freiwillige für den "Islamischen Staat" angeworben haben.
Die brisanten Berichte der VP01 hatten umfangreiche Ermittlungen ausgelöst. Im November 2016 hob das Landeskriminalamt die mutmaßliche Terrorzelle um den Prediger aus. Früh, aber vergeblich hatte Murat Cem die Sicherheitsbehörden vor Anis Amri gewarnt - auch der spätere Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz soll die Moschee in Hildesheim besucht haben. Ali Aydin, der Verteidiger des Angeklagten Hasan C., hat noch Fragen:
"In wieweit hat diese Vertrauensperson nur mitgemacht, also so getan als wäre sie zum Beispiel in diesem Kontext anschlagsbereit? Und inwieweit war die Vertrauensperson die Person, die angeheizt hat? Ich persönlich habe mit Zeugen gesprochen, außerhalb des Gerichtssaales, die mir sagten, diese Vertrauensperson, die hat am meisten gehetzt." Aydin sieht in "VP01" einen zwielichtigen Zeugen und Provokateur, seinerseits Anstifter zu schwersten Straftaten. "Es muss auch jedem klar sein: eine Vertrauensperson ist ja kein Beamter im Dienst, der in Zivil tätig ist. Eine Vertrauensperson ist jemand, der selbst sich im kriminellen Milieu bewegt - und davon entweder durch Zahlung oder anderweitig profitiert. Und wir hatten hier das Problem, dass wir die Vertrauensperson, auf die sehr viel gestützt wird, nie gesehen haben."
Denn Murat Cem, die Vertrauensperson, durfte in Celle nicht aussagen. So werde der Verteidigung das Recht genommen, den Zeugen konfrontativ zu befragen. "Das ist vom Grundsatz her in der Tat ein Problem, dass regelmäßig in solchen Verfahren auftaucht, weil einfach die Ermittlungen häufig durch Vertrauenspersonen in Gang kommen."

Einige machten reinen Tisch

Der Wahrheitsfindung wäre es überaus dienlich gewesen, wenn der bezahlte Polizei-Informant persönlich als Zeuge der Anklage in der Hauptverhandlung hätte auftreten können, sagt auch Andreas Keppler, der Sprecher des Oberlandesgerichts.
Wiederholt betonte Richter Rosenow in schriftlichen Ersuchen die Bedeutung einer solchen Vernehmung im wohl wichtigsten Terrorprozess der jüngeren Zeit - vergebens:
"Das Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat die VP01 genannte Vertrauensperson hier gesperrt. Das eine ist die Lebensgefahr, die dem Zeugen selber droht, wenn er hier aussagen müsse und dann enttarnt werden könnte. Das andere ist auch, dass die wirksame Bekämpfung schwerer terroristischer Gewalttaten im Allgemeinen davon abhängt, dass Vertraulichkeitszusagen eingehalten werden. Weil sonst die Gefahr besteht, dass sich niemand mehr bereiterklären würde, als Vertrauensperson mit den Ermittlungsbehörden zusammenzuarbeiten."

Doch andere kamen zu Wort - und nutzten den Prozess, um reinen Tisch zu machen: Nach drei Jahren Verhandlung rang sich Ahmed F. zu einem umfassenden Geständnis durch, bei dem er seine früheren Mit-Angeklagten schwer belastete. Der Familienvater hatte in der Untersuchungshaft ein Aussteigerprogramm durchlaufen. In seiner Einlassung bezeugte F., Abu Walaa habe tatsächlich einen direkten Draht zum IS nach Syrien gehabt. Der 30-Jährige räumte ein, neben Anil O. auch einem zweiten Mann Kontaktnummern zur Ausreise übermittelt sowie konkrete Reiserouten und Verhaltenstipps besprochen zu haben.
Polizeifahrzeuge bringen Abu Walaa, den mutmaßlichen Anführer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Deutschland, zu einer Verhandlung im Oberlandesgericht Celle
Abu Walaa wird von Polizeifahrzeugen zum Gericht gebracht (picture alliance/dpa | Holger Hollemann)

Castrop-Rauxeler gingen als Selbstmordattentäter in den Irak

Eine solche Reise in den Irak traten auch Mark und Kevin K. an, Zwillingsbrüder aus Castrop-Rauxel, die zum Islam konvertiert waren. Beide starben als Selbstmordattentäter im Irak und rissen mehr als 150 Menschen mit in den Tod. Im Februar 2018 schilderten die Angehörigen im Zeugenstand, wie Mark und Kevin sich radikalisiert hatten. Auch die Ausreise der Brüder als Kämpfer für den IS schreibt der Generalbundesanwalt den Angeklagten zu. Der IS veröffentlichte Propagandavideos der Sprengstoffanschläge, die Mark und Kevin K. verübt hatten. Katrin Schiebold von der Braunschweiger Zeitung:
"Detlef K., der Vater der Zwillinge, hatte schon vorweg in einem Zeitungsinterview mal gesagt, er würde dem Mann, der seine Jungs verführt hat, gern einmal in die Augen sehen. Er ist in diesen Saal marschiert, hat sich dann tatsächlich zu Abu Walaa gedreht und ihm erstmal sekundenlang wirklich ganz direkt ins Gesicht gesehen. Und dann hat er auch sehr sehr emotional und bewegt und manchmal auch nah an den Tränen beschrieben, wie seine Jungs immer mehr abgedriftet sind. Wie sie quasi nachdem sie konvertiert waren für die Eltern eigentlich gar nicht mehr richtig erreichbar waren. Und später liest der Vater in der Zeitung von den Terror-Zwillingen und muss dann halt sehen, das sind meine Kinder. Und sich diese Fragen stellen, was ist falsch gelaufen? Das ist schon ein Moment, der einen selber auch als Prozessbeobachter unglaublich bewegt."

Das Verfahren gilt schon jetzt als Meilenstein

Viele weitere Ausreisefälle kamen vor dem Oberlandesgericht in Celle zur Sprache - dabei wurde der Ton immer frostiger. Ein ganzes Jahr lang stellte die Verteidigung nur noch Beweisanträge. Immer wieder hatte der Senat durchklingen lassen, dass der Prozess dadurch unnötig in die Länge gezogen wurde. Das Gericht kam den Strafverteidigern entgegen. Zeugen wurden nachgeladen, sofern das möglich war. Deutsche IS-Kämpfer, die in Nordsyrien und im Irak inhaftiert sind, gehörten nicht dazu. Gerichtssprecher Keppler:
"Der Senat hat sich darum letztlich erfolglos bemüht. Die Zeugen, die sich im Gewahrsam kurdischer Kräfte in Nordsyrien befinden, können schon deshalb nicht vernommen werden, weil es dorthin eben keinen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen gibt. Da fehlen die zwischenstaatlichen Vereinbarungen."
Irak, Syrien, Afghanistan - Wo der Islamische Staat wieder an Stärke gewinnt
Im Nordirak gilt die Terrororganisation "Islamischer Staat" als militärisch besiegt. Doch längst bauen die Kämpfer neue Strukturen auf, im Irak und auch in Syrien. Experten sehen eine gefährlichere Entwicklung in Afghanistan.
Sicherheitsexperten werten das Staatsschutzverfahren schon jetzt als Meilenstein, weil es erstmals detailliert dokumentierte, mit welchen Methoden charismatische Führungspersönlichkeiten ihre jugendlichen Anhänger in die Kriegsgebiete lockten. War der salafistische Prediger Abu Walaa wirklich die Nummer 1 des IS in Deutschland? Gab es die Terrorzelle wirklich - und wenn ja: War sie der Zufallsfund eines besonders talentierten Informanten?

Die Bundesanwaltschaft zumindest sieht den Beweis ihrer zentralen Ermittlungshypothesen erbracht. In ihrem Plädoyer fordert die Anklagebehörde Freiheitsstrafen zwischen 11 Jahren und 6 Monaten sowie 4 Jahren und 6 Monaten - abhängig von der jeweiligen Rolle und Tatbeteiligung. Oberstaatsanwalt Holger Schneider-Glockzin:
"Die wesentlichen Tatvorwürfe konnten aus unserer Sicht nachgewiesen werden. Die Angeklagten waren, als Prediger, Mentoren und Logistiker für den IS tätig. Zahlreiche Beweismittel unterschiedlichster Herkunft belegen die Anklagepunkte in diesem komplexen Verfahren. Hervorzuheben sind insbesondere glaubhafte Aussagen von Aussteigern, sowie Angaben polizeilicher Vertrauenspersonen, die verdeckt in der radikalislamistischen Szene eingesetzt waren."

Die Anklage habe keine Beweise, nur Gerüchte

Thomas Koll überzeugt das nicht. Die Anklage habe keine Beweise, nur Gerüchte präsentiert. Der Strafverteidiger fordert einen Freispruch für seinen Mandanten Abu Walaa. "Abu Walaa selbst hat sich zu den Vorwürfen ja nicht geäußert. Ich denke, man muss da nicht drüber sprechen, dass er einen salafistischen Islam vertritt. Das ist aber, jedenfalls auch die Auffassung der Verteidigung, in unserem Land nicht verboten. Die Verteidigung ist der Auffassung, dass wir auch nach über drei Jahren Hauptverhandlung keine belastbaren Beweise für die Vorwürfe der Anklage gefunden haben."
Ali Aydin, der Verteidiger des Angeklagten Hasan C., hat eine weitere These: Aus Begeisterung über jeden, der die Angeklagten belastet, habe sich die Anklagebehörde voll und ganz auf den Kronzeugen Anil O. eingelassen - und ihn mit einer milden Strafe davonkommen lassen.
"Wir haben kritisiert, dass in dieser Beweisaufnahme tatsächlich man eigentlich sehr früh schon zu einem Ergebnis gekommen ist auf Seiten des Senats - und eigentlich nur noch daran gearbeitet hat, dieses Ergebnis bestätigt zu wissen. Indem man eine Beweisaufnahme durchgeführt hat, die man sich eigentlich auch hätte sparen können. Und das, obwohl es viele Beweis-Anzeichen dafür gibt, dass die Hauptbelastungszeugen hier massiv gelogen haben. Weil sie selbst davon profitiert haben. Und wenn man diese Zeugen hier eigentlich rausrechnet aus diesem Verfahren, dann gibt es nichts. Dann gibt es nichts, warum diese Leute schon so lange in Haft sitzen und wahrscheinlich auch sitzen werden."

"Der Rechtsstaat ist unbezahlbar"

Ein Ausnahmeverfahren neigt sich dem Ende zu: Mitte Februar wird das Urteil erwartet. Gerichtssprecher Andreas Keppler zieht eine vorläufige Bilanz: "243 Verhandlungstage, über 120 Zeugen, mehrere Sachverständige, mehrere Dolmetscher, eine ganze Regalwand voller Akten. Wir haben ein Großaufgebot von Wachtmeistern und Polizisten, um den Prozess abzusichern. Das ist ein Aufwand, der die Sicherheitskräfte und alle Verfahrensbeteiligten vor besondere Herausforderungen gestellt hat. Der aber erforderlich war, um die angeklagten Taten in einem fairen Verfahren umfassend beurteilen zu können."
Allein bei der Justiz sind nach grober Schätzung rund vier Millionen Euro Kosten aufgelaufen - etwa an Gebühren für Pflichtverteidiger, Sachverständige und Dolmetscher. Hinzu kommt der Posten der Bereitschaftspolizei. Letztlich muss zahlen, wer den Prozess verliert - aber man kann sich denken, dass das in diesem Fall eher theoretisch ist.
War es das wert? So was können auch nur Journalisten fragen, findet Andreas Keppler. Der Gerichtssprecher zieht seine Augenbraue hoch: "Was ist der Rechtsstaat wert? In meinen Augen: unbezahlbar!"