Am Sonntag findet in Frankreich die erste Kommunalwahlrunde statt. Mit einer äußerst unpopulären sozialistischen Regierung und Skandalen in den Reihen der Konservativen öffnet sich das wählbare Spektrum für viele frustrierte Bürger auch nach rechts – wo Marine le Pen mit ihrem Front National auf ihre Chance wartet.
Das Publikum wechselt. Die Linie 9 startet im Westen. Sieht dort die bessergestellten Bewohner von Paris. Im Zentrum steigen viele Touristen zu. Und je näher die Endhaltstelle rückt, sie ist weit im Osten, desto zahlreicher die farbigen Gesichter. Den Fahrgastraum der Metrolinie 9 schmücken Täfelchen mit Lyrik. Ein Mann in traditioneller afrikanischer Kleidung steht unter einem Sinnspruch von Baudelaire.
Endstation "Rathaus von Montreuil". Kurz hinter der östlichen Stadtgrenze von Paris. Hier regiert die einzige grüne Bürgermeisterin Frankreichs in einer Kommune mit mehr als 100.000 Einwohnern. Dominique Voynet. 2008 kam sie mithilfe eines grün-roten Wahlbündnisses auf den Posten. Bei den nun anstehenden Kommunalwahlen wird die frühere Ministerin nicht wieder antreten.
Sie habe die Gewalt, die Beleidigungen und Kämpfe im lokalen Politbetrieb satt, sagt Voynet, und auch nicht die Kraft, eine derart zerstrittene Linke zu einen. So kämpfen nun Andere um den Einzug ins Rathaus. Montreuil - das ist eine lebendige Kinoszene, Bars für die bürgerlichen "Bohémiens", die Bobos, das ist die Generation der Franzosen, deren Eltern Einwanderer waren, das ist aber auch die größte malische Gemeinde außerhalb Afrikas, das sind illegale Roma-Lager, das ist das "Brooklyn von Paris". Montreuil ist eine Kommune im Herzen des berüchtigten Departement 93, Seine-Saint-Denis - bekannt für Einwanderungsdruck, soziale Spannungen, hohe Jugendarbeitslosigkeit. Aber anders als vor gut 20 Jahren kann die extreme Rechte in diesem Departement der prekären Vorstädte kaum mehr punkten. Soziologische Veränderungen und eine zerstrittene Parteibasis haben dazu geführt, dass der "Front National" im ganzen Departement diesmal nur zwei Listen aufstellte. Montreuil ist nicht dabei. Hier haben sich Konservative und das Zentrum zusammengetan um gegen nicht weniger als acht linke Listen anzutreten:
"Seit 25 Jahren sind immer mehr Leute aus der Filmbranche, aus der Theaterbranche, hierher gezogen, weil die Mieten nicht so hoch waren."
Régis ist Kameramann von Beruf. Er lebt seit Langem in Montreuil. Die Spuren der grünen Bürgermeisterin sind schwer auszumachen, vielleicht der Radweg dort, vielleicht die Holzkonstruktion des neuen Kindergartens weiter hinten, schwer zu sagen. Manche Schmuddelecken am Straßenrand seien jedenfalls verschwunden, sagt Régis. Das Rathaus von Montreuil steht in der Wintersonne. Ein Bau im Stil der 30er-Jahre, er könnte auch in Moskau stehen. Symbol eines traditionellen Arbeiterviertels.
"Praktisch alle Städte, die Paris angrenzen, waren kommunistisch regiert."
Ein ehemaliger Kommunist plant jetzt sein "Comeback". Jean-Pierre Brard, inzwischen parteilos, war 24 Jahre lang Bürgermeister - bis 2008, bis ihm die grüne Ex-Ministerin Voynet das Rathaus streitig machte.
"Viele Leute kennen ihn hier und er kennt sich aus, kann man sagen, er war auch Abgeordneter."
Parteienbindung wird nicht allzu großgeschrieben
Brards schärfste Konkurrenten sind ein Kandidat der Linksfront, ein Grüner und der sozialistische Abgeordnete Razzi Hammadi, der frühere Chef der französischen Jungsozialisten, Protegé der Pariser Parteilinken. Der Sozialist Hammadi muss an zwei Fronten kämpfen, gegen die lokalen Herausforderer und gegen die Unpopularität seiner Parteifreunde an der Spitze der Republik. Ob lokale Themen dominieren oder ob die Kommunalwahl zur Protestwahl wird? "Schwer zu sagen", schreibt die Zeitung "Libération", aber so viel sei klar: Das Gefühl der Enttäuschung nach dem Wahlsieg der Sozialisten bei der Präsidentschaftswahl und den Parlamentswahlen 2012, dieses Gefühl, dominiere diesen Urnengang. Andererseits: Parteienbindung wird nicht allzu groß geschrieben in Frankreich, und eine Stadt wie Montreuil zeigt, dass die Grenzen, gerade bei einem lokalen Wahltest wie diesem, verschwimmen:
"Die Leute wollen nicht von der höheren Politik gestört werden. Die wollen für den Bürgermeister stimmen, den sie für gut halten, und parteienmäßig ist es manchmal nicht so wichtig."
So können die Kommunalwahlen zu Protestwahlen werden, müssen es aber nicht. Die regierenden Sozialisten fürchten vor allem den Wahlboykott ihrer traditionellen Anhänger. 2008 lag die Wahlenthaltung bei 35 Prozent. Diesmal könnte sie höher liegen. Die Schulpolitik mit einem neuen Rhythmus für die Kinder, inklusive Mittwochunterricht; die Annäherung des Präsidenten an das Arbeitgeberlager; sein Bekenntnis zur Angebotspolitik; sein "Pakt für Verantwortung"; all das hinterlässt wütende Wähler auf der Linken. In allen Parteien, die den Sozialisten 2012 ins höchste Staatsamt und zu einer breiten Mehrheit im Parlament verholfen haben, regt sich laute Kritik.
"Nach der Präsidentenpressekonferenz müssen wir zur Einheit der Linksfront aufrufen."
Sagt der Chef der Kommunistischen Partei, Pierre Laurent. Diese Pressekonferenz vom 14. Januar, die er anspricht, steht für das Bekenntnis des Sozialisten Hollande zur Sozialdemokratie, zu Wirtschaftsreformen. Noch verspricht der Präsident mehr, als er hält. Dennoch wittert die linke Basis bereits Verrat. Zu den Kommunalwahlen wollen die Kommunisten mit den regierenden Sozialisten zwar noch einmal Wahlbündnisse eingehen, in manchen Städten und nur dort, wo lokale Themen das möglich machen. Spätestens 2015 aber soll Schluss sein, dann wollen Kommunisten und Linkspartei gemeinsam Front machen gegen die Politik des sozialistischen Präsidenten.
"Régis, der Kameramann aus Montreuil, deutet Richtung Paris. Die belebte Straße führt direkt in die Hauptstadt, da vorne ist die 'Métro Porte de Montreuil', gleich hinter der Stadtgrenze liegt die Station 'Robespierre', sagt er."
Speed-Dating mit den Kandidaten
Hier, im östlichen 20. Arrondissement von Paris steht sich die rechte Opposition selbst im Weg. Die konservative UMP geht mit einem "Externen" aus einem anderen Stadtteil an den Start. Eine weitere Oppositionsliste führt Raoul Delamare an. Offiziell Kandidat der Zentrumspartei UDI, steht er an der Spitze einer Riege aus überparteilichen Kandidaten, ehemaligen Linken, Anhängern der konservativen UMP. Parteibindung ist auch hier nicht ausschlaggebend, die lokalen Belange entscheiden.
An diesem Abend sitzt Raoul Delamare in der oberen Etage einer Brasserie.
"Speed-Dating" heißt das, was derzeit viele Kandidaten in ganz Frankreich organisieren. Der Kandidat benennt einen öffentlichen Treffpunkt, Bürger können vorbeischauen, können Fragen stellen, nach Personen, Parteiprogrammen. An diesem Abend ist nur eine Handvoll Interessenten auf den Beinen.
"Das ist ein Arrondissement, in dem die Menschen tagsüber hart arbeiten, sie kommen abends nach Hause, für Politik haben sie den Kopf nicht frei, die kommen eher an den Markttagen. Es ist wirklich schwierig, an die Leute heranzukommen. Deshalb gehen wir auch von Tür zu Tür und nutzen zudem die Netzwerke, etwa die der Händler."
So ein Wahlkampf sei sehr, sehr hart, sehr ermüdend, räumt Delamare ein. Direkt nach dem Studium, erzählt er, sei er in dieses Stadtviertel gezogen, kenne es gut. Politik ist nicht sein Hauptberuf, er ist Anwalt. Jeden Abend und an den Wochenenden ist er derzeit auf den Beinen, setzt sich mit seiner Oppositionsliste für den Einzelhandel und die kleinen Gewerbetreibenden ein, will den keineswegs wohlhabenden Stadtteil für Touristen attraktiver machen, wünscht sich Sozialwohnungen, die keine Ghettos sind, fordert eine bessere Anbindung des Ostens an den Pariser Nahverkehr.
Delamare wechselt den Tisch, eine Bürgerin ist gekommen, um dem Kandidaten Fragen zu stellen. Eine ältere Dame nutzt die Gelegenheit, um zu erklären, warum sie auf der überparteilichen Liste mit Raoul Delamare antritt.
Sicherheit ist großes Thema für die Bürger
Sie lebe seit den 80er-Jahren in diesem Viertel, in einer recht schönen Wohnanlage, nicht weit vom ältesten Friedhof von Paris, dem "Père Lachaise". Aber irgendwann sei das Wohnen dort zur Hölle geworden, Drogendealer hätten die Eingangshalle besetzt, die Bewohner erpresst, bedroht, Polizei und Stadtteilregierung seien unwillig oder unfähig gewesen. Man habe nichts machen können, sei hilflos gewesen. Früher sei sie selbst eine Linke gewesen, sagt die Frau, aber das Klima, in dem alle weggeschaut hätten, habe sie umdenken lassen. Nun steht ihr Name auf der politisch bunt gemischten Liste im 20. Stadtteil von Paris.
Sicherheitsfragen sind ein großes Thema in diesem Kommunalwahlkampf. Die Zahl der Einbrüche allein in Paris stieg 2013 um mehr als 26 Prozent, rechnet das Innenministerium vor, das kriminelle, osteuropäische Banden für den Anstieg der Statistik verantwortlich macht.
"Kennen Sie diese Art von Problemen in Deutschland auch?"
… will Raoul Delamare wissen. Dass er den Kampf um das Rathaus im 20. Arrondissement gewinnt, ist ganz und gar nicht gesagt. Aber seine überparteiliche Liste wird ein Wort mitreden bei der Entscheidung für die ganze Stadt. 13 Stimmen wirft der Stadtteil für die Bürgermeisterwahl von Paris in die Waagschale. Die Wahlmänner und -Frauen entscheiden am Ende, ob die konservative Kandidatin, Nathalie Kosciusko-Morizet, vormals Sprecherin des konservativen Präsidenten Sarkozy, eines der größten Rathäuser Europas lenken wird. Oder ob Anne Hidalgo das Rennen macht. Die Sozialistin und Kronprinzessin des bisherigen Bürgermeisters von Paris und Präsidentenvertrauten, Delanoe. Die Umfragen für das Rathaus von Paris geben unterschiedliche Auskunft. Die einen sagen, die konservative Kandidatin werde als Zugewanderte über die parteiinternen Pariser Fallstricke stolpern. Die anderen zweifeln, ob der Startvorteil der regierenden Sozialisten ausreichen wird, um das Pariser Rathaus zu verteidigen.
So viel ist sicher, in der Hauptstadt wird eine Partei eher am Rande stehen, die in vielen anderen Kommunen punkten will: der rechte "Front National". Die besten Chancen rechnet sich die extreme Partei inzwischen nicht mehr in den prekären Vorstädten oder den sozial schwachen Stadtteilen der Großstädte aus. Der FN punktet im ländlicheren Raum und den Gemeinden im weiteren Umfeld der Metropolen. In den direkten Vororten der großen Städte, wie Paris und Lyon, wurde die Zahl der Wahllisten deshalb deutlich reduziert. Während die Wohlhabenden sich die Städte leisten könnten, ziehe es die Ärmeren an die Ränder, erklären die Wahlforscher das Phänomen.
"Die anderen Parteien gehen dort nicht mehr hin, in diese verödeten Gegenden, …"
... sagt Emiliano Großman, Politologe am Institut "Sciences Po" in Paris. Marine Le Pen, die Parteichefin des Front National, verspricht auf den Dörfern im Flächenland Frankreich, dass die Postämter, die Ärzte, die Schulen, die Einkaufsmöglichkeiten zurückkehrten, dass das Leben wieder Einzug halte, wenn ihre Partei das Rennen mache.
"Da muss ich sagen, bin ich sehr beeindruckt davon, wie strategisch intelligent sie diese Verödung ausschlachtet."
Teilten früher Sozialisten, Gaullisten, Liberale und das Zentrum den französischen Wählerkuchen unter sich auf, müssen sie nun ein großes Stück an den Front National abtreten. Wie groß, wird sich zeigen.
"Der Anteil der Wähler, die von Wahl zu Wahl die Parteien wechseln, wird immer größer und Marine spielt da jetzt mit."
Die Parteienbindung der französischen Wähler ist weniger fest, erklärt der Politologe.
"Es passiert durchaus, dass Leute von der Sozialistischen Partei zum Front National überwechseln."
Wechselwähler auf dem Land gehen zum Front National
Keine Massenbewegung. Aber hier auf dem Land, in der Picardie zum Beispiel, im nördlichen Frankreich, trifft Marine Le Pen auf diese Wechselwähler. An einem Vormittag ist sie mit vielen Versprechungen im Gepäck in einen Gemeindesaal am Ortsrand gekommen und hat die Zuhörer offenbar überzeugt:
"Ich habe es mit der sozialistischen Partei versucht, von Mitterrand an, und wurde enttäuscht. Dann habe ich es mit der UMP versucht und wurde enttäuscht. Am Ende habe ich mich für den Front National entschieden."
Die alte Dame sagt, sie könne von ihrer schmalen Rente nicht leben, die hohe Kriminalität mache ihr Angst und weil im Dorf alle Läden schlössen, auch das Rathaus, hoffe sie jetzt auf Marine Le Pen.
"Hören Sie – ich habe rechts gewählt, ich habe links gewählt. Und ich finde jetzt, dass sich alles ändern muss."
Auch er will Marine Le Pen wählen und hat ihr an diesem Morgen in der Wahlveranstaltung in Nordfrankreich gerne zugehört, sagt der Rentner. Allen, die ihrer Partei das Etikett "rechtsextrem" anheften wollen, droht die energische Parteichefin mit juristischen Konsequenzen. Und tatsächlich finden sich im FN inzwischen viele verschiedene Gruppen wieder: Solche, die offen rassistisch, antisemitisch agieren und argumentieren, aber auch Madame und Monsieur Jedermann, Menschen, die sich enttäuscht von anderen Parteien abwenden. Und auch unter jungen Leuten gewinnt der "Front National" an Zulauf. Dass Marine Le Pen die Partei zu Wahlzwecken in die "marineblaue Bewegung" umgetauft hat, vom "Frontbegriff" abgerückt ist, hilft zusätzlich.
Wo immer die große, blonde Frau auftritt, ist ihr der Medienrummel sicher.
Marine Le Pen: EU ist Wurzel allen Übels
Erst die Rathäuser, dann die nationale Verantwortung. Bei den Kommunalwahlen 2008 hatte die Partei keinen Bürgermeister und nur 60 Kommunalräte stellen können. Das soll jetzt anders werden: Mit 596 Listen tritt der Front National in Städten mit mehr als 1000 Einwohnern an. Ein Rekordniveau! Eine erste strategische Etappe auf dem Weg in die höchsten Institutionen der Republik. Marine Le Pen spielt nicht mit der Macht, wie ihr Vater. Sie will die Macht!
Die Kommunalwahlen sollen die lokale Verankerung bringen, den ganz großen Durchbruch erhofft sich die Partei dann bei den Europawahlen im Mai, "unser Ziel ist die erste Partei Frankreichs zu werden", sagt Le Pen und gibt sich als kluge Strategin wenn sie erklärt, dass sich alles verändert, sobald ihre Bewegung auf lokaler und regionaler Ebene etabliert sei. 2017 will sie Präsidentin werden und den Franzosen in einem Referendum die Frage nach dem Verlassen der Europäischen Union vorlegen – vor allem verspricht sie das Ende des Euro. Im Kommunalwahlkampf hört sich das so an:
"Lassen Sie mich über das erste Problem, die Wurzel allen Übels für Frankreich sprechen, die Europäische Union."
Gegen Europa und Euro, gegen Einwanderung, für nationale Abschottung - Le Pens Themen bringen vor allem die konservative Oppositionspartei, die UMP, in Verlegenheit. Die hat, nach der Wahlniederlage 2012, nicht mehr Tritt fassen können. Das Führungspersonal zerstritten, im Hintergrund ein abgewählter, aber weiterhin agiler Nicolas Sarkozy, der munter Gerüchte über sein politisches Comeback streut, und inhaltlich die totale Konfusion: Der Parteichef Jean-Francois Copé ist umstritten, Ermittlungen wegen vermeintlicher Unregelmäßigkeiten im letzten Wahlkampf und die jüngsten Affären rund um Ex-Präsident Sarkozy schwächen seine Bemühungen zusätzlich.
Er gedenke, sich ganz und gar dem Wahlkampf zu widmen, wie das Parteivolk es wolle, sagt Copé zwar, aber es gelingt ihm nicht, die Reihen zu schließen. Für alle Parteien stellt sich die Frage, wie umgehen mit einer zutiefst verunsicherten Gesellschaft. Der namhafte Soziologe Pierre Nora spricht von einem "sentimentalen Nationalismus"
Das alte Frankreich, die alten Straßen, die alten Berufe ... Nora macht einen starken Hang zur Nostalgie aus, bei dem Angst eine Rolle spielt, angesichts weitreichender Veränderungen.
"Die Globalisierung bringt alle Pfeiler ins Wanken, auf denen dieses Land seit Jahrhunderten stand, Frankreich ist eines der Länder mit dem tiefsten, nationalen Bewusstsein und auch deshalb eines der Länder, das heute die größten Schwierigkeiten hat, dieser Krise der Globalisierung zu begegnen."