Peter Lange: Herr Minister, im Oktober wird in Tschechien gewählt. Die Meinungsumfragen sind eigentlich seit Wochen sehr stabil. Sie sehen die Bewegung ANO von Herrn Babis weit in Front, die Sozialdemokraten abgeschlagen, Ihre Partei irgendwo bei sechs bis sieben Prozent, die Christdemokraten. Nun ist das ja von außen betrachtet eine erfolgreiche Regierung. Die letzten drei, vier Jahre hat sich dieses Land gut entwickelt. Wie erklären Sie sich, dass die Bürger offenbar das nur einer Partei anrechnen und den anderen beiden nicht?
Daniel Hermann: Auf Lateinisch gesagt: variatio delectat. Die Verschiedenheit macht eine Freude, oder so ist es. Das ist auf einer Seite vielleicht nur mal. Auf der anderen Seite ist es auch in der Welt zu sehen heute, dass der Trend zu wechseln wächst jetzt, und einige Personen oder Persönlichkeiten, die sehr stark sind, sind populär.
Auf der anderen Seite empfinde ich unsere Regierung als eine sehr gute, erfolgreiche Regierung zu sein, und zwar mindestens die ganze Periode, also vier Jahre. Das ist schon etwas. Das ist schon ein Bonus, kann man sagen. Und unsere Koalition, die Koalition von drei Parteien – die stärkste ist die Sozialdemokratische Partei, dann eine neue liberale Bewegung ANO, geführt von dem früheren Finanzminister Andrej Babis, und die dritte Koalitionspartei sind wir, die Christdemokraten, die Tschechoslowakische Volkspartei. Die Zusammenarbeit war gut, funktionierend, und ich hoffe, dass es etwas Interessantes für die Wähler auch für die Zukunft sein könnte.
"Christentum einer der Steine unseres Fundaments"
Lange: Jetzt ist Tschechien nun nicht bekannt dafür, dass es ein besonders christliches Land ist. Ist das ein Hemmnis, dass es eine christliche Partei ist, wo doch 80 Prozent ungefähr überhaupt nicht christlich konfessionell gebunden sind?
Hermann: Ja, das ist nicht so einfach. Auf der einen Seite verstehe ich, was Sie meinen. Aber auf der anderen Seite ist es nicht ganz so. Die Mehrheit der Leute ist zwar nicht mit einer Kirche oder Religionsgemeinschaft identifiziert, aber das bedeutet nicht, dass die Leute dagegen stehen oder so was. Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung ist nominal christlich. Aber wie Sie gesagt haben, sicherlich weniger als zehn Prozent sind praktizierend. Aber wie ich schon gesagt habe, bedeutet das nicht, dass die Leute dagegen stehen. Einige sind Tabula rasa, wissen nicht, worum es geht. Aber unter der jüngeren Generation finde ich relativ großes Interesse an der spirituellen, vertikalen Dimension des Lebens, und das ist natürlich interessant. Aber sicherlich sind wir nicht eine antireligiöse oder so was Gesellschaft. Das heißt, dass jeder weiß, dass das Christentum einer der Steine unseres Fundaments oder unserer Identität ist. Das ist auf jeden Fall so.
"Homo Sovieticus ist kein leeres Wort"
Lange: Aber wie erklären Sie sich, dass dann eine Partei, die doch von ihrem Grundgehalt so sehr verwurzelt ist in der Gesellschaft, dann doch nur immer so auf sechs, sieben, acht Prozent kommt?
Hermann: Natürlich spielt hier eine Rolle auch die massive Gehirnwäsche in der Zeit des kommunistischen Regimes. Das Wort Homo Sovieticus ist kein leeres Wort. Das ist ein Faktum. Nach 40 Jahren der massiven kommunistischen Propaganda ist etwas zurückgeblieben. Die Spuren sind immer noch da.
"Verantwortung für das eigene Leben ist nicht so einfach"
Lange: Woran machen Sie das fest, oder was genau ist das, was da zurückgeblieben ist?
Hermann: Vor allem die Werteliste. Erst nach dem Zusammenbruch des alten Regimes habe ich verstanden die Geschichte über den Exodus der Juden vor 3000 Jahren so ungefähr. Aus den Ägyptern ist die Generation der Sklaven herausgegangen. Die Reise über die Wüste hat 40 Jahre gedauert. Es ist zu einem Generationswechsel gekommen und in das Land Kanaan ist dann eine neue Generation der frei denkenden Leute hineingetreten. Eine Rekonstruktion der Ökonomie oder der Fassaden oder so was, das ist nicht so kompliziert. Aber eine Rekonstruktion des Herzens, der Mentalität, das ist ein Generationsprozess und meiner Ansicht nach ein Prozess mehr als nur für eine Generation nur. Wir sind – wieder zurück zum Exodus – irgendwo auf der Mitte des Weges. Das hängt damit zusammen: Das Leben in der Freiheit ist schön. Meiner Ansicht nach ist das das Größte, was wir als Menschen bekommen haben. Aber auf der anderen Seite ist es nicht so einfach wie ein Leben in einer Atmosphäre, wo ein Führer oder eine Partei sagt, Du musst das so machen oder dort hingehen, das ist nicht erlaubt, das ist verboten. Die Verantwortung für das eigene Leben ist nicht so einfach.
Über Babis: "Was für mich wichtig ist: Er ist westorientiert"
Lange: Jetzt gibt es einen relativ neuen politischen Führer, der sagt, ich bin gar kein Politiker, ich bin ja Geschäftsmann – Andrej Babis. Den haben Sie jetzt dreieinhalb Jahre am Kabinettstisch erlebt. Wenn ich mit Leuten hier rede, dann gibt es eine Mehrheit die sagt, oh, Babis, schwierig, die Verknüpfung von politischer, wirtschaftlicher und Medienmacht ist problematisch, da kriegen wir eine Art tschechischen Berlusconi oder eine Art Trump. Andere sagen, das ist eine Minderheit: Nein, so ist der gar nicht, der ist leutselig, der ist aufgeschlossen, der ist lernfähig, zuhörend, und er ist ein starker politischer Führer. Was ist Ihr Bild von Andrej Babis?
Hermann: Ich selber muss sagen, dass ich mit dem früheren Finanzminister Babis sprechen kann ohne Weiteres. Er hat verstanden, dass auch die Kultur eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielt. Aber auf der anderen Seite: Natürlich sind das politische Konkurrenten, aber mit einem Koalitionspotenzial, finde ich. Herr Babis ist in Nordafrika aufgewachsen, in Marokko. Er war mit seinem Vater dort. Dann hat er studiert, glaube ich, in der Schweiz, hat sein Business in Deutschland, in Frankreich gelernt. Und was für mich wichtig ist: Er ist westorientiert, überhaupt nicht nach Moskau oder nach Peking orientiert. Das finde ich wichtig. Und sonst wird man sehen.
Lange: Ist Babis jemand, vor dem man dann wegen seiner Machtfülle Angst haben muss?
Hermann: Wie ich gesagt habe. Eine Zusammenarbeit war möglich und ich würde das nicht so formulieren.
Lange: Man kann ihm die Macht anvertrauen?
Hermann: Das müssen die Wähler sagen.
"Wir sind ein Ziel für die Flüchtlinge aus der Ukraine"
Lange: Jetzt hat sich Ihre Regierung ja in den letzten zwei Jahren immer etwas schwer getan, wenn es um das Thema Flüchtlinge ging. Die berüchtigte Quote, wo man erst zwar dagegen war, aber mitmachen wollte und dann gesagt hat, nein, wir machen doch nicht mit. Wie sähe eine vernünftige Flüchtlingspolitik unter Beteiligung Tschechiens aus Ihrer Sicht aus?
Hermann: Wir müssen international offen sein und zusammenarbeiten mit den anderen. Das ist die Position der Volkspartei. Das was Sie gesagt haben, war meiner Ansicht nach wie so eine populistische Erklärung einiger konkreter Politiker von anderen Parteien. Aber eine internationale Zusammenarbeit ist sehr, sehr wichtig.
Wir sind nicht eine präferierte Destination für die Leute aus Nordafrika oder aus Asien. Aber wir sind ein Ziel für die Flüchtlinge aus der Ukraine. Wir haben ein paar Hunderttausend von diesen Leuten hier. Und das ist auch etwas. Wir als Christdemokraten sind offen für diese internationale Zusammenarbeit.
Jetzt bin ich aus Italien zurückgekehrt und ich habe in Italien mit einigen Leuten auch davon gesprochen, und was ich dort erfahren habe, dass dort nicht ganz koscher alles geführt wird. Dass diese Mafia, Taktiker und die Schleuserkriminalität, die Schmuggler mit dieser humanitären Katastrophe arbeiten, das ist sehr traurig.
Lange: Aber es ist ein Dilemma.
Hermann: Natürlich ist es ein Dilemma. Wir sind alle zuständig für unsere eigene Zukunft, aber wir müssen solidarisch handeln. Die Leute, die in einer großen humanitären Katastrophe sind oder sich befinden, die sind keine Nummern, die sind Leute. Und wir müssen vor allem die Kriege in den Regionen, in den betroffenen Regionen stoppen und vor allem dort helfen und nicht nur auf dem europäischen Boden. Aber auf der anderen Seite sind die Leute schon da.
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