Am Sonntag sind rund 20 Millionen Bürger in Venezuela aufgerufen, zur Wahl zu gehen. Es geht um das neue Parlament, in dem bislang die Opposition unter dem selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaido die Mehrheit hat. Aber dieses Bollwerk könnte demnächst bröckeln, denn im Machtkampf mit Präsident Nicolas Maduro gibt es keinerlei Bewegung. Die Opposition hat deshalb zum Wahlboykott aufgerufen.
Es sei aber nicht so, dass die ganze gesamte Opposition die Wahl boykottiere, die sozial- und christdemokratischen Teile der Opposition träten sehr wohl an, sagte die Linken-Bundestagsabgeordnete Simone Barrientos im Dlf. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Anden-Parlamentariergruppe.
Jörg Münchenberg: Frau Barrientos, es gibt keine unabhängigen Wahlbeobachter. Wie fair werden diese Wahlen in Venezuela am Sonntag sein?
Simone Barrientos: Na ja. Man muss der Vollständigkeit halber dazu sagen, dass es eigentlich den Wunsch gab, dass Europa Wahlbeobachter schickt, und Europa hat das abgelehnt. Jetzt hat das sicherlich auch mit Corona zu tun. Andererseits: In den USA gab es auch Wahlbeobachter. Es hätte schon die Möglichkeit gegeben. Und es gibt natürlich trotzdem Leute, die da hinfahren und die Wahlen begleiten werden und beobachten werden. Dass es da jetzt gar keine gibt, stimmt ja so nicht.
Als ich 2018 in Venezuela zu den Wahlen war, muss ich sagen, war ich sehr überrascht, weil die Realität dort eine andere war, als sie mir hier dargestellt wurde. Zum Beispiel hieß es damals, es gäbe im Prinzip keine Gegenkandidaten, aber das stimmte nicht, sondern es gab Falcon, dessen Lager ja diesmal auch wieder antritt. Es ist diesmal auch nicht so, dass die ganze gesamte Opposition sagt, sie boykottiert die Wahlen, sondern es gibt die sozial- und christdemokratischen Teile der Opposition, die sehr wohl antreten. Es gibt übrigens auch linke Opposition, die antritt.
"Viel größere soziale Verwerfungen als hier"
Münchenberg: Wenn ich da kurz einhaken darf? Die großen Oppositionsparteien werden sich wohl nicht an der Wahl beteiligen. Es gibt ja auch den Aufruf, diese Wahlen zu boykottieren.
Barrientos: Das ist richtig und das war damals ja auch so. Ich finde, wir machen schon dann einen Fehler, wenn wir von "den Venezolanern" sprechen. Wenn wir diesen eurozentrischen Blick haben und davon ausgehen, da gibt es eine Bevölkerung, die praktisch relativ gleich ist, dann machen wir schon einen Riesen-Fehler, denn wir haben ja viel, viel größere soziale Verwerfungen als hier.
Ich kann mich erinnern, die Situation ist wirklich ähnlich wie damals. Da gab es auch diesen Boykott-Aufruf und so. Dem wurde übrigens gar nicht so sehr nachgegangen, wie er angekündigt war. Auch damals ist Falcon ausgeschert und ist angetreten. Aber ich war damals in den Banlieues unterwegs in Caracas und habe mich besonders mit Frauen unterhalten, auch mit alten Frauen, und die erinnern sich noch sehr gut an die Zeiten, in denen sie kein Wahlrecht hatten, weil sie gar keine Identität hatten, weil sie keine Papiere hatten. Es ist eine ganz andere Bevölkerungsstruktur als hier bei uns. Da ist wirklich das Volk im marxschen Sinne auf der einen Seite und da sind die Eliten, die gern die Macht behalten wollen. Das müssen wir mitdenken, um dieses Land auch zu begreifen.
Münchenberg: Lassen Sie mich trotzdem noch mal einhaken. Bislang hat ja die Opposition im Parlament die Mehrheit. Jetzt durch diesen Wahlboykott könnte das Maduro in die Hände spielen, sprich dass die Opposition auch die Mehrheit im Parlament verliert. Ist es klug aus Ihrer Sicht, dass die Oppositionsparteien oder manche jetzt zu diesem Wahlboykott aufrufen?
Barrientos: Nein, das ist natürlich nicht klug, weil damals hat sich auch herausgestellt, wenn die Opposition angetreten wäre, hätte sie möglicherweise sogar gewonnen. Diesmal scheinen sie zu ahnen, dass eine Niederlage ins Haus stehen könnte, und um das Ergebnis im Vorfeld schon zu diskreditieren, treten sie dann gar nicht an. Ich halte es für unklug, aber natürlich ein taktisches Manöver.
"Die sind so dumm nicht"
Münchenberg: Auf der anderen Seite: Was man aus Venezuela hört, ist ja schon, dass Maduro und seine Partei gezielt die Armen mit Geschenken versuchen, auf ihre Seite zu ziehen.
Barrientos: Das kann man sicherlich nicht von der Hand weisen und natürlich haben wir da jetzt keine Verhältnisse, wo man aus europäischer Sicht sagen kann, da ist alles super und das läuft alles prima. Aber ich finde, die haben wir in den USA auch nicht, und dann ist es auch eine Frage der Maßstäbe.
Ja, ich gehe davon aus, dass die arme Bevölkerung da irgendwie auch gelockt wird, aber die sind so dumm nicht, wie man vielleicht meint. Ich kann mich erinnern, dass damals, 2018, gerade diese Frauen, die ich da besucht habe, die mich wirklich sehr beeindruckt haben, die mir gesagt haben, die wählen Maduro, aber nicht, weil sie Maduro wählen, sondern weil sie den Chavismo wählen, weil sie wissen, was sie zu verlieren haben.
Münchenberg: Sie zeichnen ja trotzdem ein relativ positives Bild von den Zuständen in Venezuela. Es gibt aber auch eine ganz andere Einschätzung, zum Beispiel, dass die Präsidentenwahl 2018 gefälscht war. Sie wird ja auch von vielen nicht anerkannt. Es gibt Versuche von Maduro und seinem Umfeld, das Parlament auszuhebeln. Man hat Abgeordneten die Immunität entzogen. Selbst die Generalstaatsanwältin spricht ja schon von Verfassungsbruch. Dass man Maduro mittlerweile als Diktator einstufen kann, davon gehen zumindest doch einige Beobachter aus.
Barrientos: Er ist mit Sicherheit ein Autokrat. Das würde ich auch sagen. Ich finde gar nicht, dass ich Venezuela schönrede, sondern was Sie da sagen ist ja alles richtig. Gerade dieser Sündenfall, das Parlament auszuhebeln, das war ein Kardinalsfehler. Den hätte er nicht tun dürfen. Damit hat er auch in gewisser Weise aus meiner persönlichen Sicht seine Legitimation verspielt. Andererseits war Guaido nie der Wunschpräsident der Bevölkerung und des Volkes, der armen Bevölkerung, der Campesinos, der Frauen, der Indigenen und so weiter und so fort. Das ist er nie gewesen.
Und wie gesagt: Diese Menschen wissen, was sie zu verlieren haben. Das ist Teil des Problems. Wie haben mir die Frauen damals gesagt: Letztlich ist Maduro der einzige Verbündete, der ihnen geblieben ist, obwohl er gar nicht mehr mit ihnen zusammenarbeitet. Die haben damals im Chavismo gelernt, wir müssen eine Gesellschaft miteinander aufbauen, und die fühlen sich da auch allein gelassen. Aber es gibt ja auch linke Opposition, die sich genau dagegen stellt.
Maduro? "Es kann nur ohne ihn gehen"
Münchenberg: Frau Barrientos, noch eine Frage. Guaido wird ja von über 50 Staaten als Interimspräsident anerkannt. Wenn jetzt die Opposition auch die Mehrheit im Parlament verlieren sollte, dann stellt sich ja schon die Frage, wie soll Deutschland, die EU sich gegenüber Venezuela positionieren.
Barrientos: Vielleicht erst mal zurückhaltend. Vielleicht erst mal abwarten, wie sich das da entwickelt. Vielleicht nicht gleich einmischen und schon gar nicht jemanden anerkennen, einen selbsternannten Präsidenten anerkennen, sondern was Venezuela jetzt braucht, ist eine Chance auf Dialog. Ich hoffe eigentlich, dass sich die Kräfteverhältnisse dort so entwickeln, dass ein Dialog unumgänglich ist, dass da aber auch Akteure dann zum Zuge kommen, die dialogfähig und dialogbereit sind. Das habe ich bei Guaido nie gesehen, das ist bei Maduro auch mit Sicherheit schwierig, aber vielleicht dann doch nicht mehr unumgehbar.
Münchenberg: Aber gehört Maduro noch zur Zukunft aus Ihrer Sicht mit dazu, oder kann es nur ohne ihn gehen?
Barrientos: Ich glaube, es kann nur ohne ihn gehen, ganz ehrlich. Ich hoffe aber, dass es aus dem linken Lager jemanden geben wird, der ihn ablöst und diesen Dialog dann übernehmen kann.
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