Archiv


Vor der Hacke ist es duster

Am 3. März 2009, 13:58 Uhr, stürzt das Kölner Stadtarchiv samt seiner Nachbarhäuser in die unterirdische Baugrube der U-Bahn. Zwei Menschen sterben, und an den Kulturgütern entsteht unermesslicher Schaden. Es ist der jüngste Fall in einer Reihe Aufsehen erregender Pannen bei unterirdischen Bauvorhaben in Innenstädten.

Von Dagmar Röhrlich | 16.08.2009
    "Wir haben insgesamt jetzt um die 10.700 Tonnen Schutt rausgefahren aus der Grube, das sind Pi mal Daumen 650 Lkw-Ladungen."

    Das Historische Archiv der Stadt Köln - oder besser, das was davon übrig ist. Am 3. März 2009, 13:58 Uhr, stürzte der abweisende, graue Plattenbau mit den schmalen Fensterscharten samt seiner Nachbarhäuser in die unterirdische Baugrube der Gleiswechselanlage. Zwei Menschen starben.

    "Hier bekommen wir einen ganz guten Eindruck davon, wie die Arbeiten derzeit vor sich gehen. Wir sind innerhalb der Grube auf einer Tiefe von ungefähr acht bis neun Metern Tiefe angekommen. Auf dieser Tiefe arbeiten wir uns jetzt über die vormals komplette Breite des ehemaligen Stadtarchivs voran."

    Wo früher das Stadtarchiv stand, ist jetzt eine Aussichtsplattform. Ein paar Meter tiefer durchwühlen die Männer von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk einen Abhang aus Schutt: Betonstücke, Dreck, dazwischen Papier, Aktenordner, Bücher. Tausend Jahre geschriebene Geschichte: päpstliche Erlasse, Handschriften von Albertus Magnus, Briefe von Paul Celan, der Nachlass von Jacques Offenbach...

    "Hier, in diesem Bereich, ist es unten auf der untersten Ebene des U-Bahnbauwerks, also ungefähr in 27 Metern, zum Erdeintrag gekommen. Genau an der Stelle sind große Massen Rheinkies in den U-Bahnbereich eingedrungen…"

    … und haben den Gebäuden den Boden entzogen: Sie brachen ein. Jetzt spannt sich das weite Stahlgerüst eines Schutzdaches über Gleiswechselanlage und Ruinen. In der Grube arbeitet ein Bagger auf einer aufgeschütteten Rampe, leert eine Schaufel Sand über einer Pfütze aus schmutzig-trübem Grundwasser.

    "Die Frage, ob man in Zukunft U-Bahnbauten in einer bewohnten Stadt in dem Maße durchführen kann und soll, die muss wirklich auf den Prüfstand gestellt werden, denn es ist ja nicht das einzige Haus, das Risse zeigt, und das Schäden zeigt."

    Die erste Reaktion des Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma war - angesichts der Trümmer und der damals noch Vermissten - sehr emotional:

    "Und deshalb muss man hier sicherlich grundsätzlich einmal neu drüber nachdenken. Ich halte das eigentlich jetzt fast für unverantwortlich."

    Mit dem Stadtarchiv ist ein junges Gebäude zusammengebrochen. Ein Gebäude, dessen Statik mit modernen Mitteln berechnet worden war und das für die Ewigkeit gebaut zu sein schien. Es ist eingestürzt, weil direkt vor ihm eine U-Bahn gebaut wurde. Der Einsturz hätte auch 50 Meter weiter stattfinden können - unter einem Gymnasium mit mehr als 1000 Schülern. U-Bahnbauten sind nicht ohne Risiko. 1994 stürzte in München ein voll besetzter Linienbus rücklings in ein Loch, das sich über einer U-Bahn-Baustelle auftat. Die Bilanz: drei Tote und 36 Verletzte. 2007 starben in Sao Paulo sieben Menschen, als sich über der U-Bahnbaustelle ein riesiger Krater öffnete, in Amsterdam sanken 2008 beim U-Bahnbau gleich mehrfach Häuser in den Sand, auf dem die Stadt steht. Die Liste ließe sich fortsetzen: Peking, Guatemala-Stadt, Barcelona…

    Aber gleichzeitig sind weltweit Tausende von Tunnel-Kilometern gefertigt worden, ohne dass es zu größeren Zwischenfällen gekommen wäre. Sind solche Unglücke einfach nur Pech? Oder steckt vielleicht mehr dahinter?

    Gerade zerrt der Baggerfahrer mit der Schaufel an einem billardtischgroßen Stück Betonplatte, aus dem Stahlarmierungen wie Knochen ragen. Zunächst kann er sie nicht richtig greifen, die Betonplatte rutscht weg. Mehrfach packt der Bagger nach, schließlich hebt er sie aus der Grube. Sofort beginnen die Männer da, wo sie gelegen hat, nach Archivalien zu suchen:

    "Dort sehen wir auch, wie die Einsatzkräfte damit beschäftigt sind, per Hand Schutt beiseite zu räumen und auch da jetzt gerade wieder eine Kraft des Technischen Hilfswerks, die wieder Archivgut rausholt."

    Das Buch zerfällt: Die nasse Pappe des Einbands zerfetzt, Seiten fleddern auseinander. Die Männer arbeiten so vorsichtig wie möglich, erklärt Feuerwehrsprecher Daniel Leupold den Journalisten, die die Unfallstelle besuchen: so vorsichtig, wie es angesichts des Zeitdrucks geht.


    "Diese Archivalien, die wir hier haben, das ist teilweise trockenes Material und teilweise feuchtes Material, und wir versuchen das jetzt…"

    "Auch dort schon feucht?"

    "Auch dort schon feucht. Das hat damit zu tun, dass da jetzt zwar kein Grundwasser ansteht, aber als der Rheinpegel während des Hochwassers etwas höher war, auch der Grundwasserstand bei uns höher war, also Bereiche sind, die schon durchfeuchtet waren, die jetzt aber, wo das angefeuchtete Papier zurückgeblieben ist, jetzt vor sich hin schimmelt fröhlich. Je länger es im Boden bleibt, umso problematischer ist dieser Bereich, sicherlich problematischer, als wenn es komplett im Wasser läge…"

    "Bauen in alten Städten ist natürlich ein schwierigeres Feld, denn wenn man in einer Stadt etwas baut, hat man oft keine Informationen über den Baugrund. Was hat es da früher gegeben? Was sind da für Überraschungen verborgen?"

    Ob Köln, Regensburg oder Rom: Schon immer hat in alten Städten eine Generation Neues auf den Hinterlassenschaften der Generationen vor ihnen errichtet, erklärt Heinrich Bökamp, Präsident der Ingenieurkammer Nordrhein-Westfalen. Köln steht dabei als alte römische Civitas vom hohem Rang und bedeutendes Mitglied der Hanse auf besonders historischem Grund. Norbert Nußbaum, Leiter des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln:

    "Im Kölner Zentrum, in der Nähe des Heumarkts oder Alter Marktes werden wir es mit römischen Hafenstrukturen zu tun haben, mehrfachen, phasenhaften Wechseln der Nutzungsgeschichte eines Hafengeländes mit Verlandungen, mit wieder ausgebaggerten Bereichen, mit Holzstrukturen, die vielleicht als Schuppen dienten, mit Uferbefestigungen und ähnlichem. Darüber setzen sich dann die ersten Siedlungsstrukturen des Frühmittelalters mit kleinen, hölzernen oder fachwerkgegründeten Gebäuden. Darüber dann, wahrscheinlich seit dem 12. Jahrhundert, die ersten Massivbauten der Bürger, die als Händler sich an diese dann schon geschäftsträchtigen Orte setzten und darüber dann - als Baugrund immer teurer wurde, weil das Geldgeschäft sich immer mehr auf diese städtischen Zentren konzentrierte - finden wir darunter Unterteilungen der Keller, weil die Parzellen halbiert oder geviertelt wurden."

    Ein Haus im Zentrum Kölns. Modern, kühler Sichtbeton und Glas. Der Abstieg in den Keller hingegen ist eine Zeitreise ins 15. Jahrhundert, das Jahrhundert, in dem Johannes Gutenberg die Druckkunst revolutionierte und Christoph Kolumbus Amerika entdeckte. Seit damals haben die Häuser hier zweigeschossige Keller, erzählt Anita Wiedeman-Michalski vom Kunsthistorischen Institut der Uni Köln.

    "Ursprünglich müssen wir davon ausgehen, dass sie eingeschossig waren. Wir können dann hier feststellen, dass diese Wände in der Regel aufgebrochen sind in späterer Zeit, das passiert so ab dem 15. Jahrhundert hier in Köln, und dann setzt man hier Ziegeltonnen ein. Hier ist noch sehr schön ein Ansatz einer solchen Tonne zu erkennen."

    Dieser Keller zeigt, dass sich Köln im 15. Jahrhundert zum wichtigen Handelsplatz entwickelte: Er wurde umgebaut, um Platz zu schaffen. Wiedeman-Michalski:

    "Man hat einen unteren Keller, einen oberen Keller. Die Funktionen der Keller sind ja vollkommen anders als heute: Im mittelalterlichen Leben trägt der Keller eine wichtige Funktion. Dort wird gearbeitet, dort gibt es Werkstätten, es gibt aber auch Lagerräume zum Beispiel für Weinfässer, für die Güter, die hier im Hafen umgeschlagen werden."

    Weil sich die Geschichte der Stadt in ihrem Untergrund widerspiegelt, erstellt das Kunsthistorische Institut einen digitalen Stadtschichtenatlas. Der soll im Abstand von 50 Jahren zeigen, wie sich Köln seit seiner Gründung verändert hat. Mehr als 400 interessante Keller könnte es in der Kölner Altstadt noch geben. Untersuchen durften Kunsthistoriker bislang erst ein Dutzend. Wiedeman-Michalski:

    "Wir müssen uns mit den Eigentümern in Verbindung setzen, es ist ein langwieriger Prozess, bis dann eine Genehmigung für uns vorliegt zur Untersuchung des Hauses."

    Vor allem seit der U-Bahnbau in Köln Negativschlagzeilen macht, zögern viele Hausbesitzer, die Forscher in ihre Keller zu lassen: Weil in so vielen Gebäuden Risse entstanden sind, fürchten sie, dass ihr Haus an Wert verliert, wenn Details zur Gründung in einem digitalen Atlas bekannt würden.

    Oberirdisch ist Köln modern - darunter sieht es anders aus: Selbst Neubauten können auf 1000 Jahre alten Fundamenten stehen, die mit denen der Nachbargebäude verbunden sind und die sich gegenseitig stützen:

    "Die Wohnhäuser sind - je nach Qualität und nach Bauzeit - mehr oder weniger gut fundamentiert. Die Häuser haben auch zum Teil romanische oder gotische Keller unter spätmittelalterlichen, frühneuzeitlichen oder sogar 20.-Jahrhundert-Häusern. Ein solcher Keller, der nur teilweise vorhanden ist, bringt dem Haus sofort Untergrundprobleme, wenn ich in den Boden eingreife."

    Günther Binding, Emeritus für Kunstgeschichte an der Universität zu Köln. Größere Risse sind vorprogrammiert, wenn ein Teil des Hauses auf einem alter Keller steht, ein anderer auf Schutt, beispielsweise aus dem des Zweiten Weltkriegs. Überhaupt: Gebäuderisse sind beim Tunnelvortrieb ziemlich normal. Weil das Schneidrad aus technischen Gründen immer ein paar Zentimeter mehr aus dem Untergrund fräst, als es dem Durchmesser der Betonsegmente entspricht, mit denen der Tunnel Meter für Meter wächst, geht es nicht ohne Setzungen und damit Risse. Normalerweise macht das nichts aus, aber vor allem bei alten Häusern kann es problematisch werden, so Heinrich Bökamp:

    "Bei den alten Gebäuden wissen Sie natürlich auch nicht genau, wie oft sind die umgebaut worden, in welchem Zustand sind sie, sind sie durch den Umbau sowieso schon an einer Grenze, wo man sagt, dass wenn man sie nur etwas antickt, dann werden die zu einem kritischen Bauwerk."

    Bei einem Umbau würden in der Regel Wände herausgenommen und tragende Elemente ersatzlos entfernt - eine "Hypothek" für alle Tiefbauprojekte. Bökamp:

    "Das ist ein Problem, das allgemein verstärkt auftreten wird in der Zukunft, die Bausubstanz wird immer älter und hat immer mehr an Geschichte mitzutragen, insbesondere diese Umbauten, und wird dann immer näher an einen Zustand kommen, wo man sagen muss, dieses Bauwerk ist in der Standsicherheit gefährdet."

    In der der Geotechnik kommt es darauf an, die Wechselwirkungen zwischen der Baugrube und der benachbarten Bebauung vorherzusagen. Das bedeutet zunächst einmal: Recherche. Heinrich Bökamp:

    "Man wird anfangen damit, dass man in die Archive geht und dann Unterlagen einsammelt, schaut, was hat früher da gestanden. Was waren da einmal für Gebäude, was war auch im Untergrund mal vorhanden, gab es dort alte Kanäle, alte Brunnen?"

    Und zwar über die gesamte Neubaustrecke hinweg. Zum Archivwissen kommen Hausbesichtigungen. Wo Platz ist, wird gebohrt - und zwar in möglichst gleichmäßigem Raster: Bohrungen geben punktuell Gewissheit, wie weit Mauerwerk in den Untergrund reicht oder wie feucht Sand, Ton oder Gestein sind. Computer modellieren aufgrund der Daten, was beim Bau alles passieren kann...

    "Mit den Informationen muss man eine Vorhersage treffen, was ist möglich, was kann man machen, und muss eben vor allen Dingen auch gucken, wo tauchen Risiken auf, die man dann während der Bauzeit im Auge behalten muss. Eine Vorhersage ist natürlich immer nur eine Vorhersage wie der Wetterbericht. Die ist sehr stark davon abhängig, wie genau sind Vorerkundungen gewesen."

    Aber nicht für alle Gebäude gibt es belastbare Fakten. So sind alte Kirchen oder Schlösser nicht nach den Regeln der Statik berechnet worden. Günther Binding:

    "Bis in das 18. Jahrhundert hinein hat man ausschließlich aufgrund von Erfahrungen gebaut. Die Erfahrung wird von dem Baumeister gewonnen durch Wanderung auf andere Baustellen und die Erkenntnisse, die dort gewonnen sind, aufgrund von Erfahrung. Wir haben Quellen, in denen ein neuer Baumeister für den Neubau einer Kirche in eine Kutsche gesetzt wird, und zusammen mit dem Kirchenvorstand durch die Gegend fährt und dort wird ihm gesagt: Wir hätten gerne den Turm von dieser Kirche, das Hauptschiff wie die und die Kirche und den Chor, den hätten wir gerne so. Das heißt, die Formen werden aufgrund von Vorbildern gewählt, und die Bautechnik, die Konstruktion, aufgrund von Erfahrungswerten."


    "Man hat ja erst einmal Vertrauen, und wenn dieser Vertrauensvorschuss verloren geht durch diese Unglücke, sprich durch den schiefen Turm und das eingestürzte Archiv…"

    Diözesanbaumeister Martin Struck. Wir sind St. Georg - einer romanischen Basilika, direkt neben der U-Bahnbaustelle - und dem ehemaligen Stadtarchiv. Struck:

    "Besonders markant an dieser romanischen Kirche ist das Westwerk, ein staufischer, massiger Turm über quadratischem Grundriss."

    Von innen öffnet sich über den mächtigen Sockelmauern des Westturms ein hohes Gewölbe. In der Vorhalle von St. Georg brennen Kerzen - auch vor den Fotos der beiden Menschen, die beim Einsturz des Stadtarchivs ums Leben gekommen sind. Struck:

    "Hier im Fall von St Georg geht die Röhre ganz knapp unter dem Westbauwerk vorbei."

    Draußen fährt rumpelnd ein Lastwagen vorbei. Die Rettungsarbeiten am Stadtarchiv laufen auf Hochtouren. In der Kirche krakeln schwarze Risse über den weißen Putz: zwischen den Fenstern, im Gewölbe und dort, wo der schwere Turm an das Kirchenschiff ankoppelt. Durch den Tunnelvortrieb hat sich das Westwerk in Richtung U-Bahnröhre verschoben. Martin Struck:

    "Was ich befürchtet habe und wo ich auch bestätigt worden bin, ist, dass insgesamt der sehr massige Westturm vom Kirchenschiff abreißt. Dort gab es schon immer in der Bausubstanz Rissbildungen im Mauerwerk, und diese Risse, die können Sie da oben sehen, die sind vertikal noch einmal aufgegangen."

    Auch durch das Kirchenschiff selbst zieht sich ein Riss, ein neuer, von außen wie von innen gut sichtbar. Trotz der Risse ist St. Georg im Moment noch glimpflich davon gekommen - anders als Sankt Johann Baptist. Am 29. September 2004 neigte sich der 44 Meter hohe Turm dieser romanischen Kirche gefährlich zur Seite - weil darunter beim Bau eines Versorgungstunnels für die U-Bahn zu viel Erde weggenommen worden war.

    "Köln war gewarnt, als der Turm der Kirche sich schräg stellte, der ja sehr klein war und der wieder hochgedrückt werden konnte, aber da sah man, wie stark doch Einwirkungen in den Boden stattfinden."

    Günter Binding. Will man alten Mauern wie die der fast 1000 Jahre alten romanischen Kirchen Kölns vor dem U-Bahnbau schützen, hilft im Grunde nur eines: respektvollen Abstand halten. In München ist das am Marienplatz auf Druck der Erzdiözese geschehen. Auch in Köln zeigte man früher Verständnis. Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner:

    "Unser Glück ist ja, dass der U-Bahn-Tunnel, der zu dem neuen Abschnitt gehört, schon vor 30 Jahren mit dem ersten Abschnitt gebaut ist. Der große Bogen um den Dom herum ist fertig, schon seit 30 Jahren, und mein Vorgänger hat damals dafür gesorgt, dass er vier Meter mehr als ursprünglich geplant vom Dom abrücken musste."

    Die neue Kölner Trasse führt nicht nur am Dom, sondern auch unmittelbar an vier romanischen Kirchen vorbei. Die Planung der Strecke war ganz auf die Belange von Betrieb und Nutzung der U-Bahn optimiert worden. Was sich oberirdisch an vielleicht besonders sensiblen Gebäuden befand, spielte keine Rolle: Die Technik sollte alle auftretenden Schwierigkeiten lösen. Doch bei vielen alten Gebäuden ist die Konstruktion auf ein Mindestmaß beschränkt, so dass…

    "wenn ich dann irgendwelche kleinen Veränderungen oder Untergrundveränderungen durchführe, durchaus Bewegung in das Gebäude kommen kann, und es zeigen ja viele Häuser, dass Rissbildungen gekommen sind."

    "Besondere Sorge macht mir Maria im Kapitol im Einzugsbereich des dortigen Haltestellenbauwerks, weil anders als hier an der Georg, wo die Strecken unterirdisch vorbeigetrieben werden, dort in der oberirdischen Bauweise eine Haltestelle angelegt wird. Man hat dort Schlitzwände - so wie hier am Archiv eben auch beim Gleiswechselbauwerk, Schlitzwände in den Untergrund eingetrieben, hat die rückwärtig verankert."

    Eigentlich sichern Schlitzwände besonders tiefe Baugruben, sagt Diözesanarchitekt Martin Struck: Sie sollen das Erdreich zurückhalten und verhindern, dass von den Seiten her Grundwasser eindringt. Weil sie großen Kräften widerstehen müssen, werden sie tief im Untergrund verankert. Ins Erdreich gepresste Stahlbetonanker sollen die Kräfte in den Untergrund ableiten. Im Vertrauen auf die ausgereifte Technik und sorgfältige Durchführung hatte der Bauherr - die Kölner Verkehrsbetriebe KVB - von der Kirche die Erlaubnis erhalten, solche Anker unter Maria im Kapitol zu setzen. Dabei kommt es darauf an, dass diese Anker weit genug von den Bauwerken weg bleiben, ansonsten krallen sie sich an den Häusern oder Kirchen fest und nicht am Boden. Martin Struck:

    "Nach dem Archiveinsturz, klar, da bin ich nervös geworden, und durch den schiefen Turm und das eingestürzte Archiv ist dann auch die KVB nervös geworden, und als ich da mehrmals vorstellig geworden bin, da hat man noch auf halber Höhe eine horizontale Queraussteifung eingeschoben, um zusätzlich die Schlitzwände auszusteifen und die Anker zu entlasten."

    Unter Maria im Kapitol hatten sich ohnehin schon zuvor die Schlitzwände der Haltestelle trotz der Anker sehr stark durchgebogen: Das Erdreich war nachgesackt, so stark, dass sich irgendwann die KVB in ihrer Eigenschaft als Bauherr und Bauaufsicht entschloss, den Boden zu vereisen.

    "Man stellt viele Bohrungen her und durch diese Bohrungen wird dann eine Gefrierflüssigkeit geleitet, durch Gefrierlanzen, und dadurch wird dann ein riesiger Eiskörper geschaffen."

    Die Vereisung macht den Baugrund stabiler, sagt Conrad Boley von der Universität der Bundeswehr, München. Sie sorgt aber vor allem dafür, dass das Grundwasser nicht mehr fließen kann. Boley:

    "Wasser hat eine spitzen Kopf, das heißt, es findet immer seinen Weg. Wir müssen das Wasser beherrschen, das ist die große Herausforderung im U-Bahnbau."

    Alte Brunnen oder Keller, jede Art von Hohlräumen, selbst wenn sie verfüllt sind, öffnen dem Grundwasser Wege - und sobald es strömt, wird es kritisch. Denn fließendes Grundwasser schleppt Material aus dem Untergrund mit: Gebäude können unterspült werden und zusammenbrechen. Neben der Vereisung, die den gesamten Baugrund stabilisiert, gibt es eine andere Methode, um mit dem Grundwasser von unten fertig zu werden: die Unterwasserbetonsohle. Conrad Boley:

    "Man kann eine Unterwasserbetonsohle herstellen, indem man zunächst einmal unter Wasser aushebt und dann unter Wasser auch die Sohle betoniert."

    Diese Baumethode ist teuer - und funktioniert nur mit Tauchern. Aber weil das Grundwasser nicht abgepumpt werden muss, kommt es auch nicht ins Fließen. Vor Maria im Kapitol und vor allem vor dem Stadtarchiv sollten die wasserundurchlässigen Kohleschichten nach unten hin für Sicherheit sorgen, und zu den Seiten hin die Schlitzwände. Werden diese Methoden richtig ausgeführt und wird dauernd kontrolliert, was passiert, sind sie erprobt und zuverlässig.

    Direkt neben dem Gebäude steht ein Gymnasium. Es wurde nach dem Unfall geräumt. Dort haben sich statt der Schüler Archivare und freiwillige Helfer eingerichtet, in einer Art Erstversorgungszentrum für die Kulturgüter aus dem Dreck.

    "Wir haben also, in der letzten Zeit wird überwiegend nasses Material geborgen, und das nasse Material ist zum Teil auch verschlammt vom Grundwasser. Nasses Material wird von uns in Folie eingewickelt und in die Tiefkühlung gebracht. Aber wenn das verschlammt ist, dann kleben hinterher die Ränder zusammen, die kriegt man nur ganz schwer auseinander, und deswegen haben wir uns hier entschlossen, eine Waschstraße aufzubauen."

    Gisela Fleckenstein, Abteilungsleiterin Nachlässe und Sammlungen des Kölner Stadtarchivs.

    "Teilweise hat das Material rötliche und gelbe Flecken. Das ist Schimmel. Das sind Materialien, die lagen schon einmal im Grundwasser, Anfang März, kurz nach dem Zusammenbruch des Gebäudes, war ja der Grundwasserspiegel durch das Rheinhochwasser erhöht, und da waren die Sachen schon einmal nass, und sind dann mit Senkung des Grundwasserspiegels mit Luft in Berührung gekommen und haben dann fröhlich angefangen zu schimmeln."

    Ob beim Kölner Stadtarchiv die Schlitzwand versagt hat und Grundwasser sie durchbrechen konnte, oder ob das Grundwasser von unten her in die Baugrube eindrang und das Gebäude unterspülte, das wird man erst nach einer genauen Untersuchung wissen. Der Bau des unterirdischen Verschiebebahnhofs vor dem Stadtarchiv galt als vollkommen problemlos, und weil das Stadtarchiv selbst auch noch optimal konstruiert und gebaut war, machten sich weder der Bauherr KVB, noch die Bauaufsicht bei der KVB groß Gedanken. Allerdings waren auch Risiken bekannt. Das jedenfalls scheint ein Beitrag auf der Baugrundtagung in Bremen zu zeigen, erklärt Josef Klostermann vom Geologischen Dienst Nordrhein-Westfalens:

    "Es gibt einen Tagungsbericht aus dem Jahr 2006, da wird explizit auf die Severinstraße abgehoben, dass es hier Probleme mit hydraulischen Grundbrüchen geben könnte. Es war vorgeschlagen worden, die Schlitzwände bis 60 Meter abzuteufen, aber das ist technisch sehr schwierig."

    So tiefe Wände zu bauen ist teuer und anspruchsvoll - deshalb soll man sich auf einen Kompromiss verständigt haben: 45 Meter tiefe Seitenwände, dafür aber zusätzliche Brunnen, die das Wasser bis zur Unterkante der Wände absenken. Aber auch das funktionierte nicht: Insgesamt 23 statt der geplanten vier Pumpen waren zuletzt im Einsatz - und diese Pumpen sollen pro Stunde 750 Kubikmeter gefördert haben - genug, um ein kleines Hallenbad Stunde für Stunde neu zu befüllen. Aber die Bauaufsicht schritt nicht ein. Noch einmal der Münchner Bauingenieur Conrad Boley:

    "In Köln ist es sicherlich so, dass allgemein der Kontrollaufwand, der dort getrieben wurde, relativ gering war im Vergleich zur Größe der Baumaßnahme. Mit Kontrollen meine ich hier angefangen von Kontrollmessungen, die man von Bauherrenseiten veranlasst, bis hin zu Personen, die man mit Kontrollen beauftragt, das alles ist hier relativ wenig im Vergleich zur Größe der Baumaßnahme veranlasst worden. Allerdings muss es sicherlich erst die Zeit und auch die ganzen Untersuchungen bringen, wo einzelne Pflichtverletzungen auch tatsächlich dann liegen können."

    Das Kölner Unglück wirft die Frage auf, wie es generell mit Aufsicht und Sicherheit bei Großprojekten bestellt ist. In Nordrhein-Westfalen ist eine Dienststelle bei der Bezirksregierung Düsseldorf für die Bauaufsicht aller Stadtbahnbauten zuständig, erläutert Kölns Baudezernent Bernd Streitberger:

    "Es macht Sinn, das an einer Stelle zu konzentrieren."

    Aber nur dann, wenn damit Kompetenzen zusammengeführt würden. Bei der Behörde war es anscheinend seit Jahrzehnten Praxis, ihre Aufsichtspflichten an einen "Betriebsleiter" im Haus des "Vorhabenträgers" zu delegieren. Streitberger:

    "Durch dieses System der Delegation war die Technische Aufsichtsbehörde Düsseldorf zeitweise auf zwei Verwaltungsbeamte geschrumpft, und da denke ich mal, wird eigentlich die notwendige Kapazität nicht mehr vorgehalten."

    Die Möglichkeit der Delegation stammt aus einer Zeit, als die "Vorhabenträger" Behörden mit dem entsprechenden Fachpersonal waren. Inzwischen sind es jedoch privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen, die Gewinn bringen müssen. Sind Interessenkonflikte da nicht vorprogrammiert? Heinrich Bökamp sieht die Gefahr durchaus:

    "Wir sind der Meinung, wenn der Bauherr sich selber überwacht, ist die Unabhängigkeit nicht mehr gegeben. Und wenn man schnell entscheiden muss, dann braucht man Personen, die entweder hoheitlich angesiedelt sind und dann von einer Minute zur anderen sagen kann, da wird erst einmal gestoppt und da brauchen wir Bedenkzeit. Da darf es nicht so sein, dass die in einem Unternehmen angesiedelt sind, das erst einmal gucken muss, dass die gesamte Maßnahme marktwirtschaftlich nicht verteuert wird und nur nichts ausgelöst wird, was nachher zu unbeherrschbaren Kosten führt."

    Denn so könne es durchaus geschehen, dass der Preis eine viel zu zentrale Rolle bekommt, meint Conrad Boley.

    "Wenn man derartig tiefe Baugruben plant, dann sollte man die Wirtschaftlichkeit solcher Vorhaben gesamtheitlich sehen. Man sollte nicht nur die Wände und die Sohle selbst sehen, sondern man sollte auch sehen, was ist an begleitenden Maßnahmen notwendig, wie teuer wird die Wasserhaltung zum Beispiel, wie teuer wird die Baugrunderkundung, wie teuer wird die Kontrolle? Dann sollte man sich überlegen: Wie groß sind Risiken? Man sollte auch die Bauherren immer darauf hinweisen, diese Risiken mit einzubeziehen, wenn sie sich entscheiden, eine Baumaßnahme zu vergeben. Nicht das, was zunächst einmal günstig scheint, ist auch am Ende das Günstigste."

    Eigentlich eine Binsenweisheit. Obwohl inzwischen der Einsatz von Hightech und Computersimulationen bei Großvorhaben durchaus mehr Sicherheit bieten als früher, sind die Risiken nicht gleich Null. Berechnungen müssen ständig mit der Realität abgeglichen werden. Und vor allem muss jeder Schaden erst einmal ernst genommen werden. Beim Stadtarchiv haben Experten anscheinend viele Warnzeichen ignoriert. Aber der alte Bergmannssatz gilt weiterhin: Vor der Hacke ist es duster - oder wie Martin Struck es ausdrückt:

    "Wenn man im Untergrund etwas macht, dann hört jede Vorhersagbarkeit auf."

    In weißen Einmaloveralls und wegen der Schimmelsporen mit Mundschutz, stehen freiwillige Helfer an blauen Plastikbottichen, über denen Gitter gelegt worden sind sind, und brausen gerade mit Gartenschläuchen die Ränder und Einbände der Archivalien ab. Gerade sind dicke Ordner voller Heirats- oder Sterbeurkunden aus den 60er Jahren dran. Nach der ersten Reinigung wird alles in Folien gewickelt. Gisela Fleckenstein:

    "Wir verpacken also in nicht zu große Stücke."

    Und dann werden die Dokumente in Kisten verstaut, für den Abtransport zum Gefriertrocknen fertig gemacht. Fleckenstein:

    "Wir bespielen mehrere Tiefkühlcenter inzwischen."

    Tonnen und Tonnen an historischem Material wird dort eingelagert, alles, was feucht geworden ist. Es wird Jahrzehnte dauern, ehe sich die Restauratoren das letzte Stück werden vornehmen können - und die Kosten könnten durchaus im dreistelligen Millionenbereich liegen.