Archiv

Vor der Nationalratswahl in Österreich
"Es gibt in Österreich einen großen Wunsch nach Veränderung"

Wird der österreichische Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) am Sonntag zum neuen Kanzler gewählt? Momentan stehe noch überhaupt kein Wahlsieger fest, sagte der österreichische Journalist Armin Wolf im Dlf. Aber: Kurz sei der große Favorit. Er habe sich selbst als der positioniert, der für das Neue stehe.

Tom Schimmeck und Armin Wolf im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ, l) und ÖVP-Spitzenkandidat Sebastian Kurz bereiten sich am 01.10.2017 in Wien (Österreich) auf die ATV-Elefantenrunde mit den Spitzenkandidaten zur kommenden Nationalratswahl vor. In Österreich finden am 15.10.2017 Nationalratswahlen statt.
    Wer wird am Sonntag als Sieger hervorgehen? Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) oder der ÖVP-Spitzenkandidat Sebastian Kurz: Noch stehe überhaupt niemand fest, sagte der österreichische Journalist Armin Wolf im Dlf. (dpa / picture alliance / Georg Hochmuth)
    Jasper Barenberg: Fast ausgeschlossen, dass es in Österreich nach den Wahlen am Sonntag eine weitere Neuauflage der Großen Koalition gibt. Es wird sich etwas verändern, so viel scheint kurz vor der Nationalratswahl festzustehen. Dafür sorgt zum einen der junge Außenminister Sebastian Kurz, der erst vor wenigen Monaten die ÖVP übernahm, ihr dann einen neuen Namen verpasste und mit seiner "Liste Sebastian Kurz" die neue Volkspartei in den Umfragen weit vorne liegt. Da sind zum anderen die noch regierenden Sozialdemokraten, die unter der Affäre um einen Wahlkampfberater und gefälschte Facebook-Konten an Zustimmung verloren haben. Nicht ausgeschlossen daher, dass die rechtspopulistische FPÖ am Sonntag noch an den Sozialdemokraten vorbeizieht und auf Platz zwei landet. Möglicher Koalitionspartner ist sie ohnehin, für die SPÖ wie für die ÖVP.
    Ein turbulenter Wahlkampf war das, oft eine Schlammschlacht. Mein Kollege Tom Schimmeck hat sich das für den Deutschlandfunk in einer Stadt in Oberösterreich angesehen: in Wels nämlich, 60.000 Einwohner. Das Besondere: 70 Jahre haben dort die Sozialdemokraten regiert. Vor zwei Jahren dann gewann der Kandidat der FPÖ die Stichwahl ums Bürgermeisteramt.
    Tom Schimmeck ist jetzt bei mir im Studio. Ihre Reportagen laufen ja die ganze Woche über in unserer Sendung "Europa heute", morgen dann noch einmal als Gesamtkunstwerk Ihrer Recherchen in der Sendung "Gesichter Europas". Wenn Sie so zurückblicken auf Ihre Tage in Wels, was ist denn anders, wenn nach 70 Jahren nicht mehr die SPÖ regiert, sondern die FPÖ?
    Tom Schimmeck: Besonders auffällig fand ich, wie stark die FPÖ, der Bürgermeister, seine Leute, seine Medien in der Normalität angekommen sind. Ich glaube, das ist auch das, was für uns in Deutschland das Interessanteste ist. Die FPÖ agiert jetzt seit 31 Jahren als rechtspopulistische Kraft in Österreich und hat tatsächlich den Diskurs verschoben. Auch ohne zu regieren, bestimmt sie sehr stark die Themen, und in Wels ist halt sehr schön zu sehen, was passiert, wenn dann auch das Marketing und die Sozialwohnungen und die Behörden von der Partei übernommen werden. Einerseits wirkt es erst mal ganz normal: man kennt sich, die Wirtschaft ist recht zufrieden, es werden Geschäfte angesiedelt, dies und das und jenes. Auf der anderen Seite werden zum Beispiel, was sehr auffällig war, Journalisten, die kritisch hinterfragen, die sich darum kümmern, warum eigentlich die FPÖ mit der Putin-Partei Verträge abschließt, die auch lokal gucken, was tatsächlich an Geschäften laufen, die haben wirklich schwere Zeiten. Ich hatte einen Kollegen getroffen, der auch Vorträge hält an Schulen und sich so ein bisschen spezialisiert hat auf Rechtspopulismus, auf Extremismus. Da hat dann der Sohn eines FPÖ-Abgeordneten während des Vortrages in der Schule seinen Vater angerufen, der im Nationalrat sitzt. Der hat den Rektor angerufen. Der Rektor ist in die Aula gestürmt und hat den Vortrag abgebrochen. Seitdem wird der bombardiert mit Parlamentsanfragen, entsprechende Zeitungen machen auf.
    Einerseits haben sie dieses Gemütliche, dieses Nette, dieses Normale; andererseits haben sie eine ziemlich ungute Stimmung für alle, die dagegen sind.
    "Eigentlich sind alle Politiker Verbrecher und alles ist Wurst"
    Barenberg: Nun haben wir in den letzten Tagen und Wochen darüber berichtet, was das für eine Schlammschlacht war, dieser Wahlkampf in Österreich. Sie haben sich da ja umgehört bei den Menschen. Mit welchen Erwartungen, in welcher Stimmung, in welcher Stimmungslage gehen die in diesen Wahlsonntag?
    Schimmeck: Volkesstimme oder doch ein beträchtlicher Teil – ich war auf dem Markt, ich war auf der Straße, ich habe hauptsächlich mit ganz normalen Leuten geredet -, Volkesstimme sagt das, was auch die FPÖ eigentlich seit diesen 31 Jahren sagt: Eigentlich sind alle Politiker Verbrecher und alles ist Wurst. Ganz viele sagen, ist ja auch egal, ob man hingeht, aber vielleicht doch nicht und so weiter. Einerseits klagt man unglaublich ohnehin über den Zustand der Politik. Andererseits geht es den Leuten verblüffend gut. Ich habe mit ganz vielen Senioren in der Markthalle geredet. Das war meine erste Sendung auch. Das finde ich auch so ein typisch österreichisches Phänomen: Uns geht es großartig und wir trinken jetzt noch ein Schlückchen Wein und das Leben ist eigentlich wunderbar, aber insgesamt ist alles schrecklich, das System und der Staat und die Politik und so weiter. Diese völlige Diskrepanz von persönlichem Wohlergehen, wirtschaftlicher Prosperität und völliger Frustration über dieses System.
    Barenberg: Lassen Sie uns zum Schluss noch über den ja bemerkenswerten Aufstieg von Sebastian Kurz an der Spitze der ÖVP sprechen und auf der anderen Seite den Absturz der SPÖ jetzt auch im Zuge dieses Skandals. Wie hat sich das gespiegelt in Ihren Tagen in Wels?
    Schimmeck: Die Kurz-Leute, das sind ja die jungen ÖVPler. Kurz hat ja das ganze Land überzogen mit so Popup-Wahlkampfzentralen jetzt in der neuen Farbe Türkis. Alles ist Türkis, auch seine Wahlkampfscharen sind in Türkis. Man möchte nicht mehr schwarz sein, wobei der junge Kurz sogar mal mit, glaube ich, "schwarz ist geil" inseriert hat. Jetzt ist alles Türkis und der junge strahlende Star tritt überall auf und macht das auf so eine sehr sanfte, etwas schwiegersohnhafte Art, wobei er – und das ist das große Problem der FPÖ – denen ja komplett die Thematik geklaut hat. Sebastian Kurz ist für eine Asylpolitik a la Australien, die bekanntlich ja Flüchtlinge irgendwie auf Inseln sperrt. Sebastian Kurz hat im Grunde ganz viel übernommen. Sogar der FPÖ-Bürgermeister sagte zu mir, das ist alles eine Kopie. Schon Jörg Haider hat ja die Freiheitlichen zur Bewegung gemacht; jetzt macht Kurz auch eine Bewegung. Die fühlen sich ein bisschen beklaut. Das fand ich amüsant zu beobachten.
    Barenberg: Tom Schimmeck – danke, dass Sie noch mal ins Studio gekommen sind und Ihre Eindrücke geteilt haben. – Mitgehört hat der Journalist und Fernsehmoderator Armin Wolf vom ORF. Schönen guten Tag!
    Armin Wolf: Hallo!
    Barenberg: Herr Wolf, steht für Sie Sebastian Kurz schon als Wahlsieger fest?
    Wolf: Fest steht momentan noch überhaupt niemand. Die Umfragen sind seit vielen Monaten, seit Mai eigentlich ziemlich stabil und sehen die ÖVP praktisch immer bei 33, 34 Prozent als klar stärkste Partei. Aber es sagen auch Experten, diese Umfragen sind ein bisschen verdächtig. Die müssten eigentlich schon rein statistisch mehr streuen. Dass die alle bei 33 Prozent liegen, ist ein bisschen komisch. In den letzten Tagen hat man das Gefühl, es könnte ein bisschen Bewegung hineingekommen sein. Zum einen war Heinz-Christian Strache, der Chef der Freiheitlichen Partei, in den vielen, vielen Fernsehdiskussionen, die wir hatten - unendlich viel mehr, als es in Deutschland gab -,erstaunlich stark, besser als sich viele erwartet hatten. Zum anderen scheint es nach dem Absturz der SPÖ in den letzten Tagen rund um diese Negativ-Campagning-Affäre vielleicht auch so eine Art Mitleidseffekt zu geben. Es gibt auch Meinungsforscher, die sagen, das geht jetzt wieder zusammen zum Ende hin, und man kann eigentlich nicht wirklich sagen, wie es ausgeht. Aber es ist klar: Sebastian Kurz ist der große Favorit.
    Armin Wolf über Sebastian Kurz: "Ein Freiheitlicher, vor dem man sich nicht fürchten muss"
    Barenberg: Und ist auch klar, dass er erfolgreich war mit dem Rezept, seine Partei, die ÖVP, weit nach rechts zu führen, rechts sozusagen mit rechts zu bekämpfen?
    Wolf: Sebastian Kurz war mit drei Dingen erfolgreich. Zum einen damit, dass er tatsächlich in der Flüchtlingspolitik de facto den Freiheitlichen das Thema weggenommen hat. Wo viele Beobachter sagen, vor allem seine Kritiker, aber das ist wohl auch objektiv so, Sebastian Kurz macht eine quasi freiheitliche oder rechtspopulistische Flüchtlingspolitik quasi mit menschlichem Antlitz. Ein Freiheitlicher, vor dem man sich nicht fürchten muss. Weil er auch so ein freundlicher Schwiegersohn ist. Das ist sein zweites Erfolgsrezept. Er ist ein unglaubliches Kommunikationstalent. Und das beweist sich am meisten daran – und das wäre der dritte Punkt: Es gibt in Österreich einen großen Wunsch nach Veränderung bei vielen Wählern und es gibt bei vielen Wählern einen großen Frust und einen großen Ärger auf die Politik, wie Tom Schimmeck auch vorhin gesagt hat. Und das unglaubliche Kommunikationstalent von Sebastian Kurz zeigt sich darin, dass er ein junger Mann mit 31 Jahren ist, der in seinem ganzen Leben noch nie was anderes gemacht hat beruflich als Politik. Er ist mit 24 Staatssekretär geworden, mit 27 Außenminister, ist eines der längst dienenden Regierungsmitglieder und hat es trotzdem geschafft, sich selbst zu positionieren als der, der für das Neue steht und für Veränderung. Deswegen übrigens auch das Türkis, das totale Rebranding seiner Partei, dieser alten Volkspartei, quasi der österreichischen CDU. Das ist jetzt eine junge, hippe, fesche türkise Bewegung und nicht mehr diese alte schwarze staatstragende Partei. Das ist eine Kommunikationsleistung, die rein handwerklich wirklich beachtlich ist.
    Barenberg: Und wenn Sie sagen, dass die ÖVP jetzt unter der Führung von Sebastian Kurz als fesch, hipp und jugendlich daher kommt, was ist dann mit der FPÖ? Die ist ja lange Außenseiter gewesen, aber schon ganz lange auch jetzt potenzieller Mehrheitsbeschaffer und in der Parteienlandschaft in Österreich angekommen. Das hat Tom Schimmeck ja auch noch mal betont nach all diesen Jahren. Wie stehen die da?
    Wolf: Die FPÖ hat tatsächlich zwei Probleme. Zum einen, dass ihr Sebastian Kurz ihr wichtigstes Thema de facto abgenommen hat, nämlich die Ausländer- und Flüchtlingspolitik. Das betont er auch ganz stark im Wahlkampf. Nahezu egal, auf welches Thema Sebastian Kurz angesprochen wird, die Antwort lautet fast immer Flüchtlinge und Ausländer. Das war früher ein Markenzeichen der FPÖ. Das ist ihr jetzt abhandengekommen. Und das zweite war: Die FPÖ war immer sehr stark bei jungen Wählern, vor allem bei jungen Arbeitern, bei jungen Angestellten, bei jungen Hilfsarbeitern. Sebastian Kurz ist nun doch über 15 Jahre jünger als Heinz-Christian Strache. Plötzlich ist Strache nicht mehr der junge, der hippe Außenseiter, der auch durch die Discos marschiert, sondern er ist plötzlich der 48-jährige, längst dienende Parteichef, der überhaupt kandidiert.
    Er hat auf das aber erstaunlich flexibel reagiert. Er war in den Fernsehdiskussionen ganz anders als früher, viel zurückhaltender, viel ruhiger, und hat versucht, plötzlich den Erfahrenen zu geben. Das ist ihm gar nicht so schlecht gelungen. Aber tatsächlich war die FPÖ bis vor einem halben Jahr in allen Umfragen auf Platz eins und ist, seit Sebastian Kurz Parteichef geworden ist, in allen Umfragen maximal auf Platz zwei, in den allermeisten knapp auf Platz drei.
    "Möglicherweise hat Sebastian Kurz ein Rezept gegen die FPÖ gefunden"
    Barenberg: Jetzt sagen ja Beobachter, wenn es um die Frage geht, ob man Ängste nimmt – und wir reden über Flüchtlinge und Migranten als Dreh- und Angelpunkt oder als wichtiges Thema ja auch im Wahlkampf in Österreich. Nimmt man die Ängste ernst, oder verstärkt man die Ängste? Was würden Sie sagen ist in diesem Wahlkampf passiert in Österreich?
    Wolf: Das ist tatsächlich schwer zu sagen, weil das perfekte Rezept hat niemand. Ich werde ja oft von deutschen Kollegen gefragt, was können denn deutsche Journalisten oder Politiker im Umgang mit der AfD von Österreich lernen. Und ich sage immer, wir sind vielleicht die letzten, die man fragen könnte, weil wüssten wir, wie man mit Rechtspopulisten umgeht, dann hätte die FPÖ nicht in den Umfragen zwischen 23 und 27 Prozent und stellenweise auch 33. Möglicherweise hat Sebastian Kurz ein Rezept gegen die FPÖ gefunden. Sie ist tatsächlich deutlich schwächer in den Umfragen als früher. Allerdings zum Preis, dass er de facto einen Großteil ihrer Politik übernommen hat, wenn auch die Rhetorik schon gemäßigter ist.
    Barenberg: Es überrascht ja, beispielsweise auch zu lesen, dass es anders als früher ja auch mit den Sozialdemokraten und der FPÖ längst so viele inhaltliche Schnittmengen zu geben scheint, dass da durchaus auch eine Koalition denkbar wäre, das richtige Wahlergebnis vorausgesetzt.
    Wolf: Inhaltliche Schnittmengen würde ich da wenige sehen. Das ist eine rein strategische Entscheidung der SPÖ. Die SPÖ steht seit Jahrzehnten vor dem Dilemma, dass sie außer mit der ÖVP keine Koalition bilden kann. Das ist ja auch der Grund, warum es in Österreich fast immer Große Koalitionen gibt. Jetzt ist das Klima zwischen SPÖ und ÖVP mittlerweile derart schlecht, dass sich niemand vorstellen kann, dass das noch weitergeht, und das will auch de facto niemand, weder in der ÖVP, noch in der SPÖ, noch kenne ich viele Leute in der Bevölkerung. Da gibt es aber dann für die SPÖ keine andere Option mehr, weil es keine anderen parlamentarischen Mehrheiten gibt aller Voraussicht nach.
    Deswegen gab es in den letzten Monaten diese Öffnung hin zur Freiheitlichen Partei. Als erstes hat das gemacht der Ministerpräsident eines kleinen Bundeslandes bei uns im Burgenland. Dort gibt es tatsächlich seit anderthalb Jahren eine rot-blaue Koalition, war ein großer Tabubruch in der SPÖ, gilt aber mittlerweile als denkbar.
    Barenberg: Auf welches Ergebnis sind Sie denn mit Blick auf Sonntag am meisten gespannt? Was wird das Wichtigste sein?
    Wolf: Das sind mehrere. Zum einen: Natürlich ist die wichtigste Frage, wer wird erster. Zum zweiten könnte die SPÖ nach Beobachtung aller Experten mit dem vielleicht stärksten Kandidaten, den sie seit 25, 30 Jahren hat, möglicherweise ihr historisch schwächstes Ergebnis einfahren, vielleicht runter bis an die 20 Prozent. Eine spannende Frage ist auch, ob die kleinen Parteien, nämlich die Grünen und die Neos, quasi unsere FDP, noch mal ins Parlament kommen. In den Umfragen sind sie relativ knapp an unserer Vier-Prozent-Hürde. Und schließlich gibt es eine Abspaltung der Grünen. Dort ist ein sehr prominenter Politiker, Peter Pilz, quasi so eine Art österreichischer Joschka Fischer oder Jürgen Trittin, aus der Partei ausgetreten, hat eine neue Gruppe gegründet, und es sieht so aus, als könnte er ähnlich stark werden wie die Grünen.
    Es ist eine hoch spannende Wahl. Ich bin seit über 30 Jahren Journalist. Es ist ganz sicher die spannendste Nationalratswahl, die ich je erlebt habe.
    Barenberg: Ein Ausblick auf die Wahlen in Österreich am Sonntag. Vielen Dank, Armin Wolf, für dieses Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.