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Vor hundert Jahren meuterten die Matrosen auf dem Panzerkreuzer "Potemkin"

Die Meuterei auf dem Panzerkreuzer Potemkin im Schwarzen Meer vor Odessa verbindet Weltgeschichte mit Filmgeschichte. Der berühmte Propaganda-Stummfilm, den Sergej Eisenstein darüber drehte, ersetzt in unserer Vorstellung das, was wirklich passiert ist - und was nicht ganz so mustergültig revolutionär war, wie Eisensteins Interpretation.

Von Sybil Wagener |
    1905 war ein Krisenjahr für das zaristische Russland. Der russisch-japanische Krieg hatte zu Inflation und Lebensmittelknappheit geführt. Eine friedliche Arbeiterdemonstration in Sankt Petersburg war im Januar blutig niedergeschlagen worden. Seither gärte es überall im Land. Vier Wochen vor der Meuterei hatte Russland seine gesamte Baltische Flotte in der Schlacht von Tsushima verloren. Der Panzerkreuzer Potemkin war das modernste der fünfzig in Sewastopol liegenden Schiffe der Schwarzmeerflotte, die nicht in Fernost war, da sie den Bosporus nicht durchfahren durfte. Die Meuterei am 27. Juni 19O5 wurde durch eine Lappalie ausgelöst. Fritz Slang erzählt in einem 1981 im Malik-Verlag veröffentlichten Bändchen das Ereignis nach.

    Panzerkreuzer "Potemkin", dem bei seiner Abfahrt aus Sebastopol das Torpedoboot 267 zugeteilt worden war, hatte den Auftrag, vor der Insel Tendra Schießübungen zu veranstalten. Am Morgen des 26. Juni fuhr das Torpedoboot nach dem nahen Odessa, um Proviant zu holen. Abends zehn Uhr kehrte das Boot zurück, die Vorräte wurden auf den "Potemkin" gebracht, das Fleisch auf dem Oberdeck aufgehängt. Während das Essen für den nächsten Tag vorbereitet wurde, erzählten die Matrosen, die mit in Odessa gewesen waren, dass dort der Generalstreik ausgebrochen sei. Als ein Matrose am nächsten Morgen das Oberdeck scheuerte, bemerkte er, dass das Fleisch stank und von Würmern wimmelte.

    Das sollen wir essen!

    Da werden ja unsere Kameraden in japanischer Gefangenschaft besser ernährt!

    So etwas frisst doch kein Schwein!

    Der Bordarzt wurde geholt, Doktor Smirnow. Er inspizierte das corpus delicti.

    Das Fleisch ist gut. Wir haben Sommer. Da gibt es überall Maden. Nehmt Salzwasser und wascht sie ab.

    Beim Mittagessen in der Messe rührten die Matrosen die Suppe nicht an, riefen, man solle sie über Bord kippen, verlangten statt dessen Tee und Butter zu ihrem Brot. Kapitän Golikow wurde informiert und befahl Generalappell.

    Es ist euch doch bekannt, dass auf Gehorsamsverweigerung die Todesstrafe steht. Also – wer ist bereit, die Suppe zu essen? Er soll zwei Schritte vor treten. Bis auf einige Bootsmänner und Maate rührte sich niemand.

    Der Kapitän kündigte eine Untersuchung an und befahl der Mannschaft, wegzutreten. Die Matrosen ließen sich das nicht zweimal sagen. Doch nun wurde der Erste Offizier Giljarowski aktiv. Er befahl die bewaffnete Wache an Deck, ließ dreißig Matrosen, die nicht schnell genug waren, umstellen und die Persenning holen. So wurden früher Meutereien unterdrückt – die Rädelsführer wurden mit dem Segeltuch bedeckt und die Wache schoss auf sie, bis sich niemand mehr rührte. Doch 1905 war der Erste Offizier zu keinen härteren Strafen mehr befugt als Stockhieben oder Arrest.

    Ob es nun Bluff war oder nicht – es gab jemanden an Bord, der die Situation auf seine Weise nützte, das war der Torpedomeister Afanasij Matuschenko, Sozialdemokrat und politischer Agitator. Er trat vor die Matrosen und rief:

    "Kameraden! Schießt nicht auf die eigenen Leute!"

    Die Wachmatrosen senkten einer nach dem anderen ihre Gewehre.

    "Kameraden, holt euch Gewehre und Munition! Schießt die Schweine nieder!”

    Und das Blutbad begann.

    So erzählt jedenfalls Matuschenko diese Geschichte. Vermutlich ging es nicht ganz so musterhaft revolutionär zu. Am Schluss waren sieben Offiziere tot, elf hatten sich schwimmend auf das Torpedoboot retten können. Ein Matrose war erschossen worden: Gregori Wakulintschuk. Auf dem Panzerkreuzer übernahm ein Matrosenrat das Kommando und beschloss, Odessa anzusteuern, um Kohle und Lebensmittel aufzunehmen. In Odessa waren Arbeiteraufstände ausgebrochen, die von den regierungstreuen Kosaken mit Säbeln und Gewehren blutig niedergeschlagen wurden. Szenen, in denen die Zivilbevölkerung massakriert wird, wie sie Sergej Eisenstein in seinem Stummfilm schildert, haben sich nicht nur auf der berühmten Richelieu-Treppe in Odessa abgespielt, sondern überall in der Stadt. Ein Schlachtschiff mit der roten Fahne am Mast, das unerwartet im Hafen auftauchte, schürte den Widerstandswillen, zumal die Meuterer Wakulintschuk zum Märtyrer stilisierten und ihn aufgebahrt in einem demagogisch höchst wirksamen Trauerzug durch die Stadt trugen.

    Die militärische Hilfe, die sich die Aufständischen von den 30,5 cm-Geschützen des Schlachtschiffes versprachen, aber blieb aus. Die Beschießung der Stadt wurde nach zwei Versuchen eingestellt, weil genaues Zielen von dem niedrigen Liegeplatz aus nicht möglich war. Die meuternden Matrosen retteten sich später nach Rumänien. Der Panzerkreuzer Potemkin gab nie wieder einen Schuss ab. Er wurde 1919 vor Sewastopol von zaristischen Marienoffizieren versenkt, damit er nicht in die Hand der Bolschewisten fiel.