Die erste öffentliche Kontroverse über die Atombombe wurde von ihrem Schöpfer persönlich angezettelt. J. Robert Oppenheimer erregte wenige Wochen nach Hiroshima und Nagasaki mit dem Hinweis Aufsehen, man habe die vernichtende Kraft des Atoms über einem längst besiegten Land entfesselt.
In anderen Worten: Unter militärischen Gesichtspunkten waren die Angriffe vom 6. und 9. August überflüssig. Und Japan hätte mit anderen Mitteln zur Kapitulation gezwungen werden können. Über Oppenheimers Diktum streiten sich Historiker seit den 1960er Jahren. Wie, wenn nicht mit der Bombe, hätte der Krieg im Pazifik beendet werden können? Und wenn es tatsächlich Alternativen gab, warum wurden sie nicht genutzt?
Die Antworten auf diese Frage standen die längste Zeit unter einem gravierenden Vorbehalt: Sie wurden überwiegend aus der Analyse amerikanischer Quellen gewonnen. Zu russischen Archiven hatte bis zum Ende der Sowjetunion kaum jemand Zugang, und der japanischen Sprache sind nur wenige westliche Historiker mächtig. Seit kurzem aber liegt eine Studie vor, die dergleichen Mängel vergessen macht und mit Fug und Recht das Prädikat bahnbrechend verdient hat.
Tsuyoshi Hasegawa, Historiker an der University of California in Santa Barbara, spricht fließend Englisch, Russisch und Japanisch und hat die einschlägigen Akten zur ersten "internationalen Geschichte" der Atombombe verarbeitet. Dabei rückt er einen Aspekt in den Mittelpunkt, der bislang nicht hinreichend beachtet wurde: die Rolle und Wahrnehmung der UdSSR im Pazifikkrieg.
Bis 1945 hatte sich die UdSSR, ihrem Neutralitätsabkommen mit Japan Folge leistend, bekanntlich von diesem Kriegsschauplatz fern gehalten. Erst in Yalta sagte Stalin zu, drei Monate nach Beendigung des Krieges in Europa auch in Asien eine "zweite Front" zu eröffnen - weil der japanische Durchhaltewille nach Meinung der Alliierten nur auf diesem Wege zu brechen war und - mehr noch - weil der Westen als Belohnung die Kurilen zur sowjetischen Besetzung anbot.
Dann aber geschah Unerwartetes: Der japanische Kaiser streckte im Sommer 1945 Friedensfühler aus und wollte Moskau als Vermittler gegenüber den USA gewinnen. Es ging um den Erhalt des Kaisertums - mit einer entsprechenden Zusage schien Hirohito auch nach Meinung amerikanischer Diplomaten bereit, Japans Niederlage einzugestehen.
Hasegawa legt überzeugend dar, dass weder die Sowjetunion noch die USA Interesse an einem vorzeitigen Ende des Krieges hatten und des Kaisers Angebot deshalb verstreichen ließen. Stalin zweifelte, ob er im Falle einer vorzeitigen Kapitulation die in Aussicht gestellten Inseln im Norden Japans tatsächlich bekommen würde. Wie in Europa ging es ihm darum, seine politischen Ansprüche mit militärischer Präsenz zu untermauern.
Auch Truman und seine Berater folgten einem Fahrplan eigener Art. Sie wollten unbedingt eine militärische Trumpfkarte ins Spiel bringen, von der bis zum 17. Juli 1945 niemand wusste, ob sie überhaupt stechen würde. Als die Atombombe aber an diesem Tag erfolgreich getestet wurde, legte sich der Präsident fest. Japan sollte nicht diplomatisch, sondern mit einem "großen Knall" in die Knie gezwungen werden. Überdies wollte man, so Hasegawa, mit der Atombombe symbolisch Rache für Pearl Harbour nehmen.
Es folgte ein Politkrimi, wie ihn nur das wirkliche Leben schreiben konnte. "Racing the Enemy" nennt Hasegawa sein Buch zu Recht und umreißt damit präzise die Motive der Akteure. Es ging nämlich darum, den anderen in einem hektischen Wettrennen kurz vor der Ziellinie noch abzufangen. Längst hatte man in Moskau und Washington mit dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen. Was Anfang August 1945 zählte, war die Welt nach dem Krieg. Genauer gesagt, wer im politischen Kampf um den Großraum Pazifik die beste Ausgangsposition würde einnehmen können.
Den Russen ging es, wie gesagt, vornehmlich um die seit der Zarenzeit umstrittenen Kurilen. Truman hingegen sah im Anspruch auf diese Inselgruppe nur einen Vorwand für weitere russische Begehrlichkeiten. Ihnen Einhalt zu gebieten, setzte voraus, den Vormarsch der Roten Armee im Ansatz zu stoppen. Je weniger Territorien Stalin besetzte, desto schwächer war seine politische Stellung in Asien. Aus dieser Sicht hing alles davon ab, ob die Atombombe zur rechten Zeit einsatzfähig war - also vor dem 9. August, dem ursprünglich verabredeten Termin für den sowjetischen Kriegseintritt. Sollte Japan unter dem Schock der Bombe kapitulieren, so das Kalkül, ginge in Asien rechtzeitig ein "cordon sanitaire" nieder, ein "atomarer Vorhang" gegen die Ausbreitung des Kommunismus.
Zeitlich lagen die USA gut im Rennen. Aber politisch hatte sich Truman verkalkuliert. Tokio nahm keine Notiz, als am 6. August die Atomwolke über Hiroshima aufstieg. Dem Obersten Kriegsrat war es egal, ob zwei, drei oder fünf Städte mehr pulverisiert wurden. Und Stalin befahl seinen Generälen, die Offensive durch die Mandschurei Richtung Japan zwei Tage früher als geplant ins Werk zu setzen.
Unter dem Druck der vorrückenden Roten Armee signalisierte Japans Führung am 15. August schließlich ihre Bereitschaft zur Kapitulation. Aber nur gegenüber den USA. Die Front im Norden sollte unbedingt gehalten werden. Eine weitere Woche lang lieferte die kaiserliche Armee den Russen blutige Kämpfe und streckte erst die Waffen, als auch Hokkaido zu fallen drohte und damit eine Besetzung des japanischen Kernlandes in Aussicht stand - ein Kapitel, das in den meisten Darstellungen des Zweiten Weltkrieges ignoriert oder nur als Fußnote behandelt wird. Bei Hasegawa findet es zu Recht seinen Platz im Zentrum der Geschichte.
Sein Fazit, lückenlos begründet auf der Grundlage sowjetischer und japanischer Quellen: Die Atombombe trug zur Beendigung des Krieges im Pazifik nichts bei. Eher hatte das Warten auf ihre Fertigstellung die Kämpfe in die Länge gezogen. Die Bombe rettete auch keinem amerikanischen Soldaten das Leben. Denn nicht die Gewalt der neuen Waffe, sondern die Wucht der Roten Armee machte eine verlustreiche US-Invasion gegen das japanische Kernland obsolet - ein Szenario, das Harry Truman vor dem Angriffsbefehl auf Hiroshima deutlich vor Augen hatte und das ihn dennoch nicht bewog, seine Entscheidung zu überdenken.
Gänzlich neu ist diese Interpretation nicht, wie etwa ein Blick auf die große, vor zehn Jahren publizierte Studie von Gar Alperovitz zeigt. Aber bislang mussten zahlreiche Lücken in der Beweisführung mit Hypothesen und Spekulationen überbrückt werden. Diese Unsicherheiten hat Hasegawa mit einem soliden Fundament empirischer Daten beiseite geräumt.
Tsuyoshi Hasegawa, Racing the Enemy. Stalin, Truman and the Surrender of Japan.
Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press.
Wer im Herbst 1945 in den USA Sinn und Zweck des Atomwaffeneinsatzes in Zweifel zog, setzte seine Karriere aufs Spiel. Robert Oppenheimer machte diese Erfahrung, nachdem er nicht nur die Regierung Truman öffentlich kritisiert, sondern obendrein gefordert hatte, alle Atomwaffen samt der einschlägigen Forschung und Entwicklung an eine internationale Kontrollbehörde abzutreten. Er sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, ein russischer Spion zu sein und Staatsgeheimnisse an Moskau verraten zu haben. Die in der Folge anberaumte Anhörung vor der "Atomic Energy Commission" artete zu einem Schauprozess mit von vornherein fest stehendem Schuldspruch aus: Berufsverbot. Oppenheimer durfte nie wieder ein Labor betreten.
Wie der Dissident zum Landesverräter gestempelt und moralisch hingerichtet wurde, ist vielfach dargestellt worden, nicht zuletzt von dem Dramatiker Heinar Kipphardt in seinem seit den 1960er Jahren international viel beachteten Theaterstück "In der Sache J. Robert Oppenheimer".
Auch in der neuen Oppenheimer-Biografie von Kai Bird und Martin Sherwin wird dieses Kapitel ausführlich geschildert. Gestützt auf Akten des sowjetischen Geheimdienstes legen beide Autoren überzeugend dar, dass der Spionageverdacht gleich von zwei Seiten fabriziert worden war - von Gegnern in den USA und von Agenten des KGB.
Letztere berichteten ihrer Zentrale in Moskau über vermeintliche Kontakte zu Oppenheimer, weil sie nur mit derartigen Erfolgsmeldungen einer Abberufung oder gar lebensbedrohlichen Nachstellungen ihrer Vorgesetzten entgehen konnten. Allein diese Lektion in Sachen Quellenkritik macht das Buch von Bird und Sherwin lesenswert. Und vieles andere mehr: Nie zuvor wurden sämtliche Stationen von Oppenheimers Leben ausgeleuchtet, und in kaum einem anderen Text tritt der Protagonist derart nuanciert hervor - ein schillernder, zwischen Genialität und Selbstzweifeln zerrissener Charakter, der Kollegen wie Freunde mit hochfliegender Arroganz erniedrigen und doch ob seiner Demut für sich einnehmen konnte.
Zu einem Meisterwerk aber wird diese Biografie, weil sie den Menschen Oppenheimer nicht allein in den Kontext seiner Zeit rückt, sondern zugleich ein ganzes Zeitalter rekonstruiert. Und nebenbei die von der Vergangenheit an das Heute vererbten Schlacken kenntlich macht.
Bird und Sherwin zeigen, dass mit dem Fall Oppenheimer die amerikanische Demokratie nachhaltig vergiftet wurde. Das Verdikt gegen ihn, verhängt von politischen und akademischen Eliten des Landes, sollte weit über seine Person hinaus wirken. Und tat es auch. Eingeschüchtert und verängstigt von der Jagd auf ihren brillantesten Kopf, wählte eine ganze Generation von Wissenschaftlern den Weg in die innere Emigration. Besser gesagt: In eine selbst verordnete politische Unmündigkeit. Nicht nur war ihr Rat nicht mehr gefragt. Aus Angst um Karriere und Ruf wollten sie ihn auch gar nicht mehr geben. Und sahen zu, wie die Debatte über Rüstung und Krieg entweder tabuisiert oder in überhitzten Kampagnen emotionalisiert wurde. Kein Schelm, wer sich seinen Teil jenseits der Vergangenheit denkt.
Kai Bird, Martin J. Sherwin, American Prometheus. The Triumph and Tragedy of
J. Robert Oppenheimer.
New York: Knopf.
Auf ganz andere Weise behandelt der britische Dokumentarfilmer Stephen Walker den Atombombenabwurf. Ihm geht es um eine möglichst genaue Rekonstruktion der letzten drei Wochen vor Hiroshima und der Tage danach. Gewiss kommen dabei auch führende Politiker, Militärs und Wissenschaftler zu Wort. In erster Linie aber interessiert sich Walker für die "Wasserträger": für die ungenannten Ingenieure und das Wachpersonal in Los Alamos, für die Matrosen, die mit der Fracht der Bombe betraut waren, für die Piloten, die über Japan zum Einsatz kamen.
Und er will wissen, wie die Bewohner Hiroshimas und Nagasakis das Inferno erlebten. Das Buch fesselt wie ein spannender Film. Und irritiert zugleich. Muss man diese Fülle an Details tatsächlich wissen? Suggeriert der Autor mit der buchstäblich minutiösen Rekonstruktion des Ablaufs nicht eine falsche Authentizität? Und erliegt er nicht mitunter der Versuchung, dem Grauen einen schönen Schauder abzugewinnen oder Tragisches gar zu verkitschen? Man könnte diese Bedenken durchaus zu einem grundsätzlichen Einwand gegen Walkers Buch ummünzen - zumal der Autor obendrein dazu neigt, den Aussagen seiner Zeitzeugen mehr Gewicht beizumessen als den Befunden professioneller Historiker.
Andererseits gelingt es Walker, mit seiner dichten Beschreibung zum Kern des Problems vorzustoßen und zweierlei zu zeigen: Dass es auch für moralisch gefestigte Individuen ein Leichtes sein kann, große Begeisterung bei der Fertigung genozidaler Waffen zu empfinden und dass die Bombe ein Maß an Arbeitsaufwand und Arbeitsteilung voraussetzt, welches letztendlich eine ganze Gesellschaft zu Komplizen der Vernichtung macht.
Stephen Walker, Hiroshima. Countdown der Katastrophe.
München: Bertelsmann.
In anderen Worten: Unter militärischen Gesichtspunkten waren die Angriffe vom 6. und 9. August überflüssig. Und Japan hätte mit anderen Mitteln zur Kapitulation gezwungen werden können. Über Oppenheimers Diktum streiten sich Historiker seit den 1960er Jahren. Wie, wenn nicht mit der Bombe, hätte der Krieg im Pazifik beendet werden können? Und wenn es tatsächlich Alternativen gab, warum wurden sie nicht genutzt?
Die Antworten auf diese Frage standen die längste Zeit unter einem gravierenden Vorbehalt: Sie wurden überwiegend aus der Analyse amerikanischer Quellen gewonnen. Zu russischen Archiven hatte bis zum Ende der Sowjetunion kaum jemand Zugang, und der japanischen Sprache sind nur wenige westliche Historiker mächtig. Seit kurzem aber liegt eine Studie vor, die dergleichen Mängel vergessen macht und mit Fug und Recht das Prädikat bahnbrechend verdient hat.
Tsuyoshi Hasegawa, Historiker an der University of California in Santa Barbara, spricht fließend Englisch, Russisch und Japanisch und hat die einschlägigen Akten zur ersten "internationalen Geschichte" der Atombombe verarbeitet. Dabei rückt er einen Aspekt in den Mittelpunkt, der bislang nicht hinreichend beachtet wurde: die Rolle und Wahrnehmung der UdSSR im Pazifikkrieg.
Bis 1945 hatte sich die UdSSR, ihrem Neutralitätsabkommen mit Japan Folge leistend, bekanntlich von diesem Kriegsschauplatz fern gehalten. Erst in Yalta sagte Stalin zu, drei Monate nach Beendigung des Krieges in Europa auch in Asien eine "zweite Front" zu eröffnen - weil der japanische Durchhaltewille nach Meinung der Alliierten nur auf diesem Wege zu brechen war und - mehr noch - weil der Westen als Belohnung die Kurilen zur sowjetischen Besetzung anbot.
Dann aber geschah Unerwartetes: Der japanische Kaiser streckte im Sommer 1945 Friedensfühler aus und wollte Moskau als Vermittler gegenüber den USA gewinnen. Es ging um den Erhalt des Kaisertums - mit einer entsprechenden Zusage schien Hirohito auch nach Meinung amerikanischer Diplomaten bereit, Japans Niederlage einzugestehen.
Hasegawa legt überzeugend dar, dass weder die Sowjetunion noch die USA Interesse an einem vorzeitigen Ende des Krieges hatten und des Kaisers Angebot deshalb verstreichen ließen. Stalin zweifelte, ob er im Falle einer vorzeitigen Kapitulation die in Aussicht gestellten Inseln im Norden Japans tatsächlich bekommen würde. Wie in Europa ging es ihm darum, seine politischen Ansprüche mit militärischer Präsenz zu untermauern.
Auch Truman und seine Berater folgten einem Fahrplan eigener Art. Sie wollten unbedingt eine militärische Trumpfkarte ins Spiel bringen, von der bis zum 17. Juli 1945 niemand wusste, ob sie überhaupt stechen würde. Als die Atombombe aber an diesem Tag erfolgreich getestet wurde, legte sich der Präsident fest. Japan sollte nicht diplomatisch, sondern mit einem "großen Knall" in die Knie gezwungen werden. Überdies wollte man, so Hasegawa, mit der Atombombe symbolisch Rache für Pearl Harbour nehmen.
Es folgte ein Politkrimi, wie ihn nur das wirkliche Leben schreiben konnte. "Racing the Enemy" nennt Hasegawa sein Buch zu Recht und umreißt damit präzise die Motive der Akteure. Es ging nämlich darum, den anderen in einem hektischen Wettrennen kurz vor der Ziellinie noch abzufangen. Längst hatte man in Moskau und Washington mit dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen. Was Anfang August 1945 zählte, war die Welt nach dem Krieg. Genauer gesagt, wer im politischen Kampf um den Großraum Pazifik die beste Ausgangsposition würde einnehmen können.
Den Russen ging es, wie gesagt, vornehmlich um die seit der Zarenzeit umstrittenen Kurilen. Truman hingegen sah im Anspruch auf diese Inselgruppe nur einen Vorwand für weitere russische Begehrlichkeiten. Ihnen Einhalt zu gebieten, setzte voraus, den Vormarsch der Roten Armee im Ansatz zu stoppen. Je weniger Territorien Stalin besetzte, desto schwächer war seine politische Stellung in Asien. Aus dieser Sicht hing alles davon ab, ob die Atombombe zur rechten Zeit einsatzfähig war - also vor dem 9. August, dem ursprünglich verabredeten Termin für den sowjetischen Kriegseintritt. Sollte Japan unter dem Schock der Bombe kapitulieren, so das Kalkül, ginge in Asien rechtzeitig ein "cordon sanitaire" nieder, ein "atomarer Vorhang" gegen die Ausbreitung des Kommunismus.
Zeitlich lagen die USA gut im Rennen. Aber politisch hatte sich Truman verkalkuliert. Tokio nahm keine Notiz, als am 6. August die Atomwolke über Hiroshima aufstieg. Dem Obersten Kriegsrat war es egal, ob zwei, drei oder fünf Städte mehr pulverisiert wurden. Und Stalin befahl seinen Generälen, die Offensive durch die Mandschurei Richtung Japan zwei Tage früher als geplant ins Werk zu setzen.
Unter dem Druck der vorrückenden Roten Armee signalisierte Japans Führung am 15. August schließlich ihre Bereitschaft zur Kapitulation. Aber nur gegenüber den USA. Die Front im Norden sollte unbedingt gehalten werden. Eine weitere Woche lang lieferte die kaiserliche Armee den Russen blutige Kämpfe und streckte erst die Waffen, als auch Hokkaido zu fallen drohte und damit eine Besetzung des japanischen Kernlandes in Aussicht stand - ein Kapitel, das in den meisten Darstellungen des Zweiten Weltkrieges ignoriert oder nur als Fußnote behandelt wird. Bei Hasegawa findet es zu Recht seinen Platz im Zentrum der Geschichte.
Sein Fazit, lückenlos begründet auf der Grundlage sowjetischer und japanischer Quellen: Die Atombombe trug zur Beendigung des Krieges im Pazifik nichts bei. Eher hatte das Warten auf ihre Fertigstellung die Kämpfe in die Länge gezogen. Die Bombe rettete auch keinem amerikanischen Soldaten das Leben. Denn nicht die Gewalt der neuen Waffe, sondern die Wucht der Roten Armee machte eine verlustreiche US-Invasion gegen das japanische Kernland obsolet - ein Szenario, das Harry Truman vor dem Angriffsbefehl auf Hiroshima deutlich vor Augen hatte und das ihn dennoch nicht bewog, seine Entscheidung zu überdenken.
Gänzlich neu ist diese Interpretation nicht, wie etwa ein Blick auf die große, vor zehn Jahren publizierte Studie von Gar Alperovitz zeigt. Aber bislang mussten zahlreiche Lücken in der Beweisführung mit Hypothesen und Spekulationen überbrückt werden. Diese Unsicherheiten hat Hasegawa mit einem soliden Fundament empirischer Daten beiseite geräumt.
Tsuyoshi Hasegawa, Racing the Enemy. Stalin, Truman and the Surrender of Japan.
Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press.
Wer im Herbst 1945 in den USA Sinn und Zweck des Atomwaffeneinsatzes in Zweifel zog, setzte seine Karriere aufs Spiel. Robert Oppenheimer machte diese Erfahrung, nachdem er nicht nur die Regierung Truman öffentlich kritisiert, sondern obendrein gefordert hatte, alle Atomwaffen samt der einschlägigen Forschung und Entwicklung an eine internationale Kontrollbehörde abzutreten. Er sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, ein russischer Spion zu sein und Staatsgeheimnisse an Moskau verraten zu haben. Die in der Folge anberaumte Anhörung vor der "Atomic Energy Commission" artete zu einem Schauprozess mit von vornherein fest stehendem Schuldspruch aus: Berufsverbot. Oppenheimer durfte nie wieder ein Labor betreten.
Wie der Dissident zum Landesverräter gestempelt und moralisch hingerichtet wurde, ist vielfach dargestellt worden, nicht zuletzt von dem Dramatiker Heinar Kipphardt in seinem seit den 1960er Jahren international viel beachteten Theaterstück "In der Sache J. Robert Oppenheimer".
Auch in der neuen Oppenheimer-Biografie von Kai Bird und Martin Sherwin wird dieses Kapitel ausführlich geschildert. Gestützt auf Akten des sowjetischen Geheimdienstes legen beide Autoren überzeugend dar, dass der Spionageverdacht gleich von zwei Seiten fabriziert worden war - von Gegnern in den USA und von Agenten des KGB.
Letztere berichteten ihrer Zentrale in Moskau über vermeintliche Kontakte zu Oppenheimer, weil sie nur mit derartigen Erfolgsmeldungen einer Abberufung oder gar lebensbedrohlichen Nachstellungen ihrer Vorgesetzten entgehen konnten. Allein diese Lektion in Sachen Quellenkritik macht das Buch von Bird und Sherwin lesenswert. Und vieles andere mehr: Nie zuvor wurden sämtliche Stationen von Oppenheimers Leben ausgeleuchtet, und in kaum einem anderen Text tritt der Protagonist derart nuanciert hervor - ein schillernder, zwischen Genialität und Selbstzweifeln zerrissener Charakter, der Kollegen wie Freunde mit hochfliegender Arroganz erniedrigen und doch ob seiner Demut für sich einnehmen konnte.
Zu einem Meisterwerk aber wird diese Biografie, weil sie den Menschen Oppenheimer nicht allein in den Kontext seiner Zeit rückt, sondern zugleich ein ganzes Zeitalter rekonstruiert. Und nebenbei die von der Vergangenheit an das Heute vererbten Schlacken kenntlich macht.
Bird und Sherwin zeigen, dass mit dem Fall Oppenheimer die amerikanische Demokratie nachhaltig vergiftet wurde. Das Verdikt gegen ihn, verhängt von politischen und akademischen Eliten des Landes, sollte weit über seine Person hinaus wirken. Und tat es auch. Eingeschüchtert und verängstigt von der Jagd auf ihren brillantesten Kopf, wählte eine ganze Generation von Wissenschaftlern den Weg in die innere Emigration. Besser gesagt: In eine selbst verordnete politische Unmündigkeit. Nicht nur war ihr Rat nicht mehr gefragt. Aus Angst um Karriere und Ruf wollten sie ihn auch gar nicht mehr geben. Und sahen zu, wie die Debatte über Rüstung und Krieg entweder tabuisiert oder in überhitzten Kampagnen emotionalisiert wurde. Kein Schelm, wer sich seinen Teil jenseits der Vergangenheit denkt.
Kai Bird, Martin J. Sherwin, American Prometheus. The Triumph and Tragedy of
J. Robert Oppenheimer.
New York: Knopf.
Auf ganz andere Weise behandelt der britische Dokumentarfilmer Stephen Walker den Atombombenabwurf. Ihm geht es um eine möglichst genaue Rekonstruktion der letzten drei Wochen vor Hiroshima und der Tage danach. Gewiss kommen dabei auch führende Politiker, Militärs und Wissenschaftler zu Wort. In erster Linie aber interessiert sich Walker für die "Wasserträger": für die ungenannten Ingenieure und das Wachpersonal in Los Alamos, für die Matrosen, die mit der Fracht der Bombe betraut waren, für die Piloten, die über Japan zum Einsatz kamen.
Und er will wissen, wie die Bewohner Hiroshimas und Nagasakis das Inferno erlebten. Das Buch fesselt wie ein spannender Film. Und irritiert zugleich. Muss man diese Fülle an Details tatsächlich wissen? Suggeriert der Autor mit der buchstäblich minutiösen Rekonstruktion des Ablaufs nicht eine falsche Authentizität? Und erliegt er nicht mitunter der Versuchung, dem Grauen einen schönen Schauder abzugewinnen oder Tragisches gar zu verkitschen? Man könnte diese Bedenken durchaus zu einem grundsätzlichen Einwand gegen Walkers Buch ummünzen - zumal der Autor obendrein dazu neigt, den Aussagen seiner Zeitzeugen mehr Gewicht beizumessen als den Befunden professioneller Historiker.
Andererseits gelingt es Walker, mit seiner dichten Beschreibung zum Kern des Problems vorzustoßen und zweierlei zu zeigen: Dass es auch für moralisch gefestigte Individuen ein Leichtes sein kann, große Begeisterung bei der Fertigung genozidaler Waffen zu empfinden und dass die Bombe ein Maß an Arbeitsaufwand und Arbeitsteilung voraussetzt, welches letztendlich eine ganze Gesellschaft zu Komplizen der Vernichtung macht.
Stephen Walker, Hiroshima. Countdown der Katastrophe.
München: Bertelsmann.