Unerhört klingende Neuigkeiten aus Berlin standen am 8. September 1929 in der "Frankfurter Zeitung". An dem Tag begann das vor allem auch wegen seines Feuilletons angesehene Blatt mit dem Vorabdruck von Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" und versetzte Deutschland in helle Aufregung. Aber wer sprach da?
"Halten Sie die hochverehrte Schnauze, meine Herrschaften! Sehn se mal, Sie und ick, wir sind alle schon mal im Leben aus de Pantinen gekippt …"
Der da sprach, hieß Franz Biberkopf, ein ehemaliger Zement- und Transportarbeiter, der nach einem vierjährigen Gefängnisaufenthalt unter dem Vorsatz, fortan "anständig" zu sein, vom Leben allerdings auch "mehr zu verlangen als das Butterbrot", doch wieder unter die Räder gerät, dabei sogar einen Arm verliert und sich am Ende in einer Irrenanstalt wiederfindet – eine Paraderolle für den Schauspieler Heinrich George, der sowohl in der kurz nach Erscheinen des Romans entstandenen Hörspielfassung als auch in einer Verfilmung Franz Biberkopf spielte:
"Aber immer wieder stehn se uff de Beine, denn uff de Beine steht der Mensch, so lang er noch zwei Beine hat. Aber uff de Beine kommts nicht an. Und uff den Arm kommts och nicht an. Nur was er hier im Brustkorb hat."
Den proletarisch geprägten Untergrund des Lebens am Alexanderplatz kannte Döblin aus eigener Anschauung: Geboren 1878 in Stettin, war seine Familie 1888 in den Osten Berlins gezogen, wo der Zehnjährige aufwuchs und zur Schule ging; nach einem Medizin-Studium zog es ihn dorthin wieder zurück, als Nervenarzt mit eigener Praxis. Die Typen, die seinen Roman bevölkern, waren ihm deshalb nicht nur vertraut, er sympathisierte auch mit ihnen und hielt sich selbst für einen Outsider:
"Der Künstler ist nicht so eine Figur, die man malen kann und die schön ist und blendend ist. Niemals bisher hat man gesehen einen… Künstler, … der nicht die Pathologie und die Kriminalität vortrug."
Kein Platz für den "Erzählerschlendrian"
Die von Döblin ans Licht gezerrten dunklen Erscheinungen eines gesellschaftlichen Geheimlebens, die Nachrichten zum Beispiel aus Gefängnissen, Bordellen oder Schlachthöfen schockierten natürlich 1929 viele Leser der "Frankfurter Zeitung".
Aufsehen erregte der Vorabdruck von "Berlin Alexanderplatz" als erstem Großstadtroman der deutschen Literatur aber vor allem wegen der Errungenschaft einer neuen formalen Schreibtechnik, die der Autor selbst als Kino-Stil bezeichnete:
"In höchster Gedrängtheit und Präzision hat die Fülle der Geschichte vorbeizuziehen. Der Erzählerschlendrian hat im Roman keinen Platz."
Von daher entsprachen die täglich ausgelieferten Lese-Stücke dem Aufbau und der Optik eines Romans, der die Fremdheit und das Stückwerk des Lebens durch Collagen und rasante Überblendungen auch formal vorführte: Alles, was das Großstadtleben ausmacht, hatte in dem Roman Platz gefunden, Zeitungsschlagzeilen als Wirklichkeitsfetzen, Werbeslogans und Bibelsprüche, Berliner Jargon wie hoher kunstvoller Ton. Über seinem zentralen Thema, der Beschreibung des pulsierenden Berlins um 1929, verlor Döblin aber nie seine Hauptfigur mit ihren inneren Erdbeben aus den Augen. Am Ende begegnet Franz Biberkopf dem Tod.
"Jetzt komm ich zu dir, der Tod, und bin da. Franz: Ick warte schon. Mich haben se furchtbar im Leben gepisackt."
Als "Berlin Alexanderplatz" im Oktober 1929 als Buch im Fischer Verlag erschien, war die erste Auflage im Nu vergriffen. Bis 1933 verkaufte sich der Roman 50.000 Mal. Als politisch links stehender Autor und Jude, verließ Döblin Deutschland sofort nach dem Reichstagsbrand, im Februar 1933. Die "Frankfurter Zeitung" blieb zunächst unangetastet, um sie gegenüber dem Ausland als Feigenblatt benutzen zu können, bis Adolf Hitler 1943 ihr Verbot anordnete und ihr Archiv verbrannt wurde.