Das Vereinigte Königreich schien der große Verlierer der Corona-Pandemie in Europa zu sein. Schon in der ersten Welle hohe Fallzahlen, überlastete Krankenhäuser, viele Tote. Und dann im Winter die neue Variante B.1.1.7. Eine Zeitlang starben jeden Tag über tausend Menschen. Doch dann kam die Kehrtwende. Ein sehr scharfer Lockdown und ein erfolgreiches Impfprogramm. Damit hat Großbritannien die 7-Tage-Inzidenz innerhalb von zwei Monaten von über 600 auf aktuell unter 60 gedrückt, so der Epidemiologie Sebastian Funk von der London School of Hygiene and Tropical Medicine.
Infektionen zurückgedrängt durch Lockdown
"Der harte Lockdown hat bestimmt einiges bewirkt. Wahrscheinlich ist der Effekt immer noch stärker als der der Impfungen. Zwar haben inzwischen mehr als die Hälfte der Erwachsenen eine erste Dosis erhalten, es braucht aber Zeit, bis der Immunschutz greift. Ganz deutlich ist aber etwas Anderes zu beobachten. Jetzt haben wir ja schon seit Monaten die höchsten Risikogruppen geimpft und von daher sehen wir da jetzt, wie die Todesfallzahlen schneller sinken als zu erwarten wäre von den Krankenhauszahlen und den Fallzahlen. Die Impfungen schützen also aktuell vor allem vor den schweren Verläufen, die Infektionen aber drängt der Lockdown zurück. Dazu kommt noch ein weiterer Effekt. Das hängt aber zum Teil auch damit zusammen, dass sich hier eine wirklich riesige Welle im November und Dezember abgespielt hat, die noch zusätzliche Immunität in der Bevölkerung geschaffen hat, die aber andererseits auch mit über 80.000 Todesfällen einherging."
Zunächst nur Schulöffnungen
Ein tragischer Hintergrund: Immunität nach überstandener Infektion, Lockdown und Impfungen gemeinsam konnten greifen. Diese Entwicklung ermöglicht inzwischen Lockerungen. Die Politik setzte hier klare Prioritäten und öffnete am 8. März die Schulen und zwar nur die Schulen. Seitdem steigen die Inzidenzen bei den Kindern und Jugendlichen, während die Fallzahlen in allen Altersgruppen über 20 sinkt. Wieder einmal zeigt sich: Das Virus nutzt jede Chance zur Verbreitung, die sich bietet. Gerade die Variante B.1.1.7 scheint für Kindern und Jugendlichen auch besonders infektiös zu sein, wie eine aktuelle, noch nicht begutachtete Studie der Universität Cambridge nahelegt.
Mehr Infektionen oder schlicht mehr Testergebnisse?
Trotzdem ist sich Sebastian Funk nicht sicher, dass es wirklich eine neue Infektionswelle an den Schulen gibt. Anders als in Deutschland werden seit der Rückkehr in den Präsenzunterricht alle Oberschüler und viele Grundschüler zwei Mal die Woche getestet, flächendeckend und konsequent. Ob nur einfach mehr Infektionen an Schulen erkannt werden oder ob dort tatsächlich eine neue Welle entsteht, wird derzeit aktiv untersucht. Aber, so Sebastian Funk, Öffnungen haben in jedem Fall ihren Preis.
"Es ist natürlich klar und zu erwarten, wenn mehr Schüler, Kinder in die Schule gehen, dass es mehr Ansteckungen, Fälle dort gibt. Und wir wissen ja, dass schwere Verläufe sehr selten sind bei den Kindern, aber nicht völlig unmöglich."
Neue Mutationen können an Schulen entstehen
Die Infektionen können nicht nur für die Kinder und Jugendlichen zum Problem werden, sondern auch für die Gesellschaft. Während dem Virus generell immer weniger Verbreitungsmöglichkeiten offenstehen, bilden die Schulen ein Reservoir, in dem auch neue Mutationen entstehen. Die Epidemiologin Anne Cori vom Imperial College London warnt insbesondere vor den Escape-Varianten, die den Impfungen sozusagen ausweichen können und so "einen dramatischen Anstieg an Infektion" auslösen könnten. Aktuell hält ein Reiseverbot die Varianten P.1 und B.1.351 aus dem Land. Aber gerade, wenn der Selektionsdruck durch die Impfungen hoch ist und es parallel in Nischen wie den Schulen zu Infektionen kommt, können solche Varianten auch vor Ort entstehen. Tatsächlich wurde schon eine Art "B.1.1.7-plus" beobachtet. Diese Variante hat sich aber bislang nicht durchgesetzt. Der Erfolg sei also durchaus noch nicht gesichert, so Cori. Gerade deshalb geht das Land schrittweise vor, wartet nach den Schulöffnungen erst einmal ab.
Öffnen Schritt für Schritt
"Und dann schaut man jetzt erst einmal: Okay, was passiert da? Wie entwickeln sich die Fallzahlen und vor allen Dingen wie entwickeln sich die Zahlen in den Krankenhäusern? Und dann ist jetzt nächste Woche so eine Evaluation fällig, wo dann beschlossen wird, ob ein, zwei Wochen später dann die nächste Stufe der Öffnung gemacht wird."
Dieses "Öffnen Schritt für Schritt" ist für Sebastian Funk etwas, was andere Länder von Großbritannien lernen können. Dazu kommt das schnelle Impftempo. "Der Ausblick ist jetzt für die nächsten Monate recht optimistisch." Auch wenn die Infektionen und die Todesfälle nach den nächsten Öffnungen zwischenzeitlich wieder ansteigen dürften.