Es sei niemals zu spät, weise zu werden – lässt der englische Schriftsteller Daniel Defoe seinen berühmten Romanhelden Robinson Crusoe feststellen. Ein junges Streichquartett behauptet jetzt das Gegenteil: "’Tis too late to be wise" – so überschreibt das Kitgut Quartet seine Debüt-CD. Kitgut Quartet: das sind Amandine Beyer und Naaman Sluchin, Violine, die Bratschistin Josèphe Cottet und der Cellist Frédéric Baldassare. Vielleicht haben die Musikerinnen und Musiker bei ihrem Titel "’Tis too late to be wise" auch das berühmteste literarische Zitat zum Thema "Streichquartett" im Blick. Das stammt von Johann Wolfgang von Goethe: "Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen".
Aber trifft das auch noch zu auf "Streichquartette vor dem Streichquartett"? Denn genau darum geht es auf dieser CD: Um eine Gegenüberstellung. Auf der einen Seite ein Klassiker, Joseph Haydns D-Dur-Quartett Opus 71 Nummer 2. Und auf der anderen Seite barocke Werke, von Matthew Locke und Henry Purcell.
Das klingt nach Streichquartett und doch wieder nicht – jedenfalls nicht klassisch. Das polyphone Stück, das sich hier im historischen Darmsaiten-Klang entwickelt, ist gut einhundert Jahre vor Joseph Haydns wegweisenden Quartett-Kompositionen entstanden: eine vierstimmige Fantasia von Henry Purcell, dem großen englischen Komponisten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Idee der musikalischen "Unterhaltung von vier vernünftigen Leuten" ist eben deutlich älter als das klassische Wiener Streichquartett. Vorläufer im 18. Jahrhundert hat bereits das Casal-Quartett in mehreren CD-Veröffentlichungen vorgestellt und dabei Franz Xaver Richter in den Fokus genommen. Das Kitgut Quartet geht noch weiter zurück. Es beweist jetzt, dass Purcell in seinen vierstimmigen Streichersätzen um 1680 manchmal moderner klingt als Haydn ein Jahrhundert später.
"Curtain Tunes" oder "Act Tunes" nannte man im 17. Jahrhundert solche Stücke. Sie wurden in den Theatern während der Umbaupausen gespielt, damit das Publikum im Raum blieb. Ein Ostinato-Thema, das einem so schnell nicht wieder aus dem Ohr geht, war da genau das Richtige.
Das Kitgut Quartet spielt diese Stücke mit viel Esprit und Humor – da darf so eine "Curtain Tune" von Purcell auch einmal unvermittelt abbrechen: Der Vorhang hebt sich zum nächsten Auftritt.
Neben einer Reihe kurzer Kabinettstückchen stehen auf der CD englische Consort-Suiten. Heute verbinden wir sie eher mit dem edel näselnden Ton eines Gambenensembles aus dem Elisabethanischen Zeitalter. Matthew Locke nennt in der Partiturschrift seiner "Consorts of Four Parts" keine Instrumente. Doch war er seit 1661 königlicher "Composer for the Violins". Und von diesen moderneren Violinen, Bratschen und Bassgeigen gab es damals nach französischem Vorbild schon mindestens zwei Dutzend in der englischen Hofmusik Karls des Zweiten. In die Rolle der königlichen Musiker schlüpft jetzt das Kitgut Quartet. Mit Hingabe kostet es die Vorhaltsdissonanzen der Fantasia aus der D-Dur-Suite von Locke aus.
Amandine Beyer, die Primaria des Kitgut Quartet, ist vor allem in der Szene der Alten Musik ein Begriff: als Sologeigerin, als Gründerin und Leiterin des Barockorchesters Gli Incogniti und als Professorin für historische Violine. Die unterrichtet sie an der Schola Cantorum Basiliensis, der renommierten Spezialhochschule für Alte Musik in Basel.
Im Namen ihrer neuen Kammermusikformation schwingt schon mit, dass Amandine Beyer auch hier der historischen Aufführungspraxis treu bleibt: "Kitgut", eine alte Verballhornung von Catgut, also Katzendarm, steht für die Darmbesaitung der alten Streichinstrumente, auf denen das Quartett spielt. Die Bratschistin Josèphe Cottet ist ebenfalls auf das historische Repertoire spezialisiert. Naaman Sluchin am zweiten Violinpult und der Cellist Frédéric Baldassare bewegen sich dagegen mindestens ebenso oft im Bereich der zeitgenössischen Musik; Sluchin ist darüber hinaus Konzertmeister am Opernorchester von Rouen. Was die vier verbindet, ist neben ihrer technischen Präzision und der Begeisterung am gemeinsamen Spiel die Experimentierfreudigkeit. Das macht ihr CD-Debüt aufs Schönste hörbar. Denn auf die Idee, eine Locke-Suite und ein Haydn-Quartett nebeneinanderzustellen, muss man erst einmal kommen. Keine Frage, es funktioniert. Hier ein Auszug aus Lockes letztem Suitensatz, einer Sarabanda, an den sich im Adagio das D-Dur-Quartett aus Haydns Opus 71 anschließt, das zweite der so genannten "Appónyi"-Quartette.
Joseph Haydn hat dieses Streichquartett 1792 geschrieben, nach der Rückkehr von seinem ersten London-Aufenthalt. Die Welle der Begeisterung, die er auf der Insel nicht zuletzt mit seinen Sinfonien ausgelöst hatte, beflügelte ihn auch zuhause noch. Das klingt in diesen Quartetten nach. Das Kitgut Quartet zieht auf seiner CD andere, intuitive Verbindungslinien zwischen Wien und London, eben zu Matthew Locke und Henry Purcell im Jahrhundert zuvor. Das erscheint schlüssig, schon weil hier alle Stücke in derselben Besetzung gespielt werden, vermutlich auch auf denselben Instrumenten und mit denselben Bögen. Die barocken Meister wirken jedenfalls etwas samtiger, als man es von anderen Alte-Musik-Interpretationen kennt, Haydn dagegen ist klanglich ein wenig angeschärft.
Darüber hinaus verbindet alle Stücke derselbe kammermusikalische Esprit. Was auf Haydns Finalsatz folgt, könnte man fast für das berühmte Dissonanzenquartett von Wolfgang Amadeus Mozart halten. Es ist aber Purcells vierstimmige Fantasia B-Dur.
Die Aufnahme entstand in der ländlichen Abgeschiedenheit des Limousin in einer ehemaligen Scheune, die man zu einem Veranstaltungsraum mit besten akustischen Bedingungen umgebaut hat. Das Klangbild hat Studioqualität, schön lassen sich die einzelnen Stimmen jederzeit hörend nachverfolgen. Die beiden Violinen sitzen sich gegenüber, rahmen Bratsche und Violoncello ein – hier im langsamen zweiten Satz aus Haydns Quartett.
Sympathisch ist an der Aufnahme des Kitgut Quartet der bei aller Perfektion undogmatische Zug, der ja auch schon im Titel mitschwingt: "Too late to be wise", das kann auch meinen, dass man sich von der Satz- und Stil-Melange der CD einfach mitnehmen lässt.
Natürlich hat Haydns lyrisches "Adagio cantabile" eine andere Poesie als Purcells melancholische g-Moll-Pavane. Das Wiener Menuett kommt mit Delikatesse daher, ein Londoner Hornpipe-Tanz mit folkloristischem Schwung. Und doch vermittelt das Kitgut Quartet etwas von der Seelenverwandtschaft vieler Sätze.
Gut fünfzig Minuten füllt die Musik von Henry Purcell, Matthew Locke und Joseph Haydn. Mit der recht bekannten g-Moll-Chaconne Purcells könnte das Kitgut Quartet seine CD auf bewährte Art ausklingen lassen. Schließlich endeten damals ganze Opern mit solchen Variationen über einer beständig wiederholten Bassfolge. Doch dann tritt für die letzten beiden Minuten noch ein weiterer Komponist auf den Plan: John Blow, der Lehrer Purcells und sein Kollege an der Londoner Chapel Royal. Eher versonnen schließt die CD mit der Act Tune aus seiner Oper "Venus and Adonis".
Was mag der Grund für diesen kurzen Gastauftritt Blows sein? Ging es darum, dass auf jeden Fall vier Komponisten ihre Werke in diese musikalische Unterhaltung einbringen? Das Kitgut Quartet sagt dazu nichts und lässt einfach Blows ätherische Musik sprechen. Für die Zukunft kündigt es aber weitere CD-Programme dieser Art an: nach Haydn und England noch Schubert und Deutschland, Mozart und Italien, Beethoven und Frankreich. Man darf gespannt sein …
Kitgut Quartet: ’Tis Too Late to Be Wise
Streichquartette vor dem Streichquartett von Henry Purcell, Matthew Locke und John Blow sowie Joseph Haydns Quartett D-Dur op. 71,2
Interpret*innen: Amandine Beyer, Naaman Sluchin (Violine), Josèphe Cottet (Viola), Frédéric Baldassare (Violoncello)
Harmonia Mundi Musique
Streichquartette vor dem Streichquartett von Henry Purcell, Matthew Locke und John Blow sowie Joseph Haydns Quartett D-Dur op. 71,2
Interpret*innen: Amandine Beyer, Naaman Sluchin (Violine), Josèphe Cottet (Viola), Frédéric Baldassare (Violoncello)
Harmonia Mundi Musique