Oh nein, mit einer Allerwelts-Berufsbezeichnung im einstigen "Land der Dichter und Denker" hätte er sich nie und nimmer zufrieden gegeben, so sehr, wie er auf Sprachwitz und seine Abneigung gegen Abgedroschenheiten pochte. Es musste schon etwas sein, was mindestens mit Fleiß und Handwerksarbeit zu tun hat, obwohl er den Sängern und Wortklinglern von Wolfram von Eschenbach bis zu Heinrich Heine nichts an dichterwürdenfähigem Silbengesumm nachgab, wenn es drauf ankam, um von Theodor Däubler und den Expressionisten zu schweigen.
"Wer nun Unglück hat, wird gestehn,
reglos sei dort nichts zu sehn:
wie Dein Auge Helena
liegen gequälte Violen da -
Riedgras wogt & tunkt hinab
Über's altvergessne Grab -
1 zählt 1, baumwipfelher
tropft's wie ewiger Tau so schwer -
dort rollt der vag=verträumte Wald
wie unter'm Nord die See eiskalt
um stürmische Hebriden schallt -
dort wo Gorgonen=Wolken brausen
rauschend ohne alle Pausen
durch schreckgelähmte Himmel sausen
grollend wie ein Wasserfall
am horizontnen Feuerwall -
mondbedottert Nachtgesicht
gibt dort ganz ungewisses Licht -
tags - torkelt die Sonne breit -
"über die Hügel, fern & weit"."
Ein paar ruppige Hinweise auf die Handwerkerdisziplin des Mosaikarbeiters und Wortmetz mussten da schon sein, um vor falschen Verwandtschaften mit lorbeerumkränzten Dichtern sicher zu sein - zumal er seine Werke, wie diese Verse aus seinem Groß-Werk "Zettel's Traum", auch verführerisch wie ein Dichter vorzutragen verstand.
Dass Arno Schmidt nach wie vor der beste Vorleser - und Kommentator - seiner Werke ist, läßt sich jetzt erstmals lückenlos nachvollziehen. Der zweite Supplementband der Bargfelder Ausgabe seiner Schriften, unspektakulär "Lesungen, Interviews, Umfragen" betitelt, enthält auf 12 CDs die Mitschnitte von seinen öffentlichen Auftritten, darunter auch alle 28 Lesungen, die von ihm erhalten sind, zumeist in den Archiven von ARD-Anstalten, aber auch einige Privataufnahmen.
Und nicht nur das. Auf einer DVD sind die drei einzigen Fernsehinterviews zu sehen, die Schmidt in der ersten Hälfte der 60er Jahre gegeben hat, ein wunderlicher Eindruck, diesen Erz-Puritaner unter den deutschen Nachkriegsschriftstellern in seinem Häuschen in Bargfeld, Landkreis Celle, Niedersachsen, vor der Kamera sitzen und mit dem Theodolit geschliffener Sätze die Höhenunterschiede zu seiner Vor- und Mitwelt vermessen zu sehen:
"Es ist, und ich wage wieder das schockierende Wort, schnuppe, ob der Schriftsteller Karl Marx besingt oder die Jungfrau Maria. Hauptsache, er tut das gut, und es ist auch nicht das Problem des Schriftstellers die Bearbeitung der Oberfläche, das ist es so wenig, dass zum Beispiel, wenn dem Dichter beim Anblick einer im Mondlicht bewegten Wasseroberfläche einfällt "mildeblitzende Glanzgewimmel" - Goethe, den ich durchaus verehre und zu würdigen weiß, aber mit Maßen - dass das einfach zur Voraussetzung des Handwerkes gehört, der kleinen textilen Pünktchenmuster hatten wir immer genug. Ich kann sagen: "Sieh, die Sonne sinkt", und ich kann sagen: "Helios parkt seinen Wagen". Es ist ja, ich sage es absichtlich schockierend wieder einmal aus, wenn Sie den Unterschied zwischen einem Autor und dem Leser wissen wollen, der besteht letzten Endes darin, ein Autor ist derjenige, dem "ein Stock im Petticoat" beim Anblick desjenigen einfällt, zu dem der Leser zeitlebens "mein Schirm" sagt, sehen Sie, das ist wiederum nur der einfache Ausdruck dafür, dass der Wortschatz und die Einbildungskraft eines Autors das Vielfache von dem des Lesers betragen muss, rein berufsbedingt."
Rein berufsbedingt hatte Schmidt allerdings meist Besseres zu tun, als Fernsehjournalisten mit Kameras und Scheinwerfern in seine tapfer gegen Störenfriede verteidigte Bargfelder Eremitenklause vorzulassen, und so sind diese drei nicht nur optisch aufschlussreichen Fernsehinterviews wirkliche Raritäten. Nach 1964, seinem fünfzigsten Geburtstag, hat es bis zu seinem Tod 1979 davon kein einziges weiteres mehr gegeben - und im Rundfunk sah das nicht wesentlich anders aus.
Obwohl Schmidt vor allem in den 50er und frühen 60er Jahren durch seine Lesungen und literarischen Nachtprogramme hin und wieder in Funkhäusern auftauchte, sind es gerade einmal drei Gespräche, die in den rund dreißig Jahren seines Schriftstellerlebens dort ausgestrahlt wurden. So beantwortete Schmidt 1952 acht Minuten lang einige Fragen von Martin Walser; doch am ausführlichsten waren 1969, kurz bevor "Zettel's Traum" erschien, seine sogenannten "vorläufigen" Erläuterungen dazu, in denen er manchmal auch kurz einen Türspalt zu seinem Alltagsleben öffnete, vor allem aber mit dem Gehirn-Extremsport kokettierte, den er während der Arbeit an seinem Mammutwerk betrieben hat:
"Die Niederschrift selbst begann Juli 65. Wenn man also bis Februar-März 69 rechnet, ergeben sich wieder ungefähr 1350 Tage. Das war nicht meine Absicht, dass es nun genau mit der Seitenzahl übereinstimmt; aber es hat sich so ergeben, dass das Pensum etwa jeden Tag 1 Großblatt gewesen ist.
Das heißt - es war natürlich keine 40-Stunden-Woche, ein Ausdruck, den ich bald nicht mehr hören kann. Meine Woche hat, wenn ich Glück habe, 100. Ich stehe sehr zeitig auf. Um 3 Uhr muss ich, vor drei darf ich.
Und die Nebenarbeiten waren in diesem Fall geradezu ungeheuerlich, obwohl ich ja selbst ein alter Bücherfresser und -Verschlinger bin; aber - um nur ein Beispiel zu nennen - ich habe ein ganzes Konversationslexikon von 1845 mit 34 Bänden (den alten PIERER, der übrigens ausgezeichnet ist), habe ich Wort für Wort lesen müssen, um mein Gehirn in die Falten jener Zeit zu legen; und vergessen durfte ich's auch noch nicht, was ich da gelesen hatte."
Da mag sich die Stirn derer noch mehr in Falten legen, die angesichts solcher Prozeduren meinen, dass so ohnehin nur eines der dickleibigsten und vermutlich am wenigsten gelesenen Werke der deutschen Literaturgeschichte entstehen konnte. Doch Schmidt hat, pointiert und scharfzüngig wie immer, wenn er sich an die Öffentlichkeit bequemte, zu Recht auf etwas hingewiesen, was manchen überraschen wird:
"ZETTELS TRAUM musste - allein schon ob der Etym-Basis - ein zu zwei Dritteln humoristisches Buch werden, das aber auch alles mögliche Andere natürlich zeigt: das Flickwerk unserer Eingeweide und den Schmelz der Interpunktion."
Dass Schmidt in der Tat ein Humorist war, kauzig-intellektuell zweifellos, aber stets mit Sinn für Bizarrien und Pointen, gilt nicht nur für "Zettel's Traum", sondern viele seiner Werke. Sogar in dem steifen Sonntagsschulenklima von Literatursendungen der frühen 60er-Jahre ist das noch zu spüren, wie in einem Gespräch über Karl May, der allerdings auch eine ergiebige Quelle für schwarzen Humor ist:
"Es ist Sitte geworden, ihn als krank hinzustellen, aber ich möchte das doch berichtigen, natürlich war er Neurotiker wie wir alle, wenn du Neurose schaust, sag, ich lass sie grüßen, ja - aber so krank, dass er heute nicht mehr bestraft werden würde, war er doch wiederum nicht, und selbst, wenn man sich entschließt, die mehr als Schelmenstreich anmutenden Handlungen abzuziehen (...) es bleibt doch immer noch so viel an wirklich gemeiner Betrügerei und niedrigem Diebstahl übrig, dass es heute wahrscheinlich immer auch noch hinreichen würde, der Mann hat ja schlechterdings alles gestohlen: Handtücher, Billardbälle, Zigarren, Kinderwagen, Pelzmäntel bis hinauf zu einem lebendigen Pferd."
Literarisch beruhen Schmidts humoristische Qualitäten letztlich auf einer elementaren Einstellung seiner literarischen Optik, die er sechs Jahre vor "Zettel's Traum" beiläufig einmal so umriss:
"Die Helden meiner Dichtung? Es sind keine Helden, noch nicht einmal halbe Helden, würde ich sagen, sondern ich betrachte als das eigentlich Interessante nur den Alltag. Ich will nicht so weit gehen wie Ponge etwa mit der Beschreibung eines Kieselsteins, das ist ja höchstens ein Eckchen in dem ganzen Gemälde, aber dennoch ist der Alltag und seine kleinen Feinheiten das, was noch gar nicht an- beziehungsweise ausstudiert ist."
Die Lektüre von Konversationslexika früherer Zeiten ist für Schmidt nur ein Hilfsmittel gewesen, wenn es - wie in "Zettel's Traum" - unter anderem darum ging, ein Panorama des Zeitalters von Edgar Allen Poe zu entwerfen; doch elementar war für ihn immer, den Fokus in aller Schärfe auf die Mikrokosmen des Alltäglichen zu richten, wo sich eben die Real-Humoresken und oft genug auch -Grotesken von Schmidts eigener Gegenwart abspielten. Dem Einwand übrigens, mit den Heidedorf-Szenarien von "Zettel's Traum" hinter den Alltag der literarischen Großstadt-Moderne eines James Joyce zurückzufallen, ist er in seinen Erläuterungen schon vorsorglich mit dem entwaffnenden Verweis auf seine Allergie gegen das Stadtleben elegant ausgewichen:
"JOYCE war - hm - ein Vollblutasphalttreter, ganz im Gegensatz zu mir. Also sein Schauplatz ist die Stadt, und - da hatte er nun natürlich die Möglichkeit - lediglich aufgrund der Anzahl der ihm begegnenden Personen bei einem Gang durch die Stadt der Vielzahl von Geschäften des Straßenlabyrinthes - er hatte ganz andere Möglichkeiten, sein Buch zu füllen; mit vielen, vielen Details.
Ich beraube mich praktisch dadurch, dass ich die Wirklichkeit hier in die Heide verlege, dieser - ja, ich mag es nicht Möglichkeit nennen, ganz einfach, weil ich das Stadtleben nicht mag. Man kann einwenden, die Basis sei nun etwas schmal für ein solches Riesengebäude; ich will aber doch mein Credo dahingehend abgeben - und gar nicht PONGE und den KIESELSTEIN erwähnen, sondern - ja ich zitiere wieder einen älteren Schriftsteller, einen älteren Kollegen, den THÜMMEL und seine REISE IN DIE MITTÄGLICHEN PROVINZEN VON FRANKREICH, das ist auch ein sehr umfangreiches Buch - der prägt darin das herrliche Wort: "Um einen Frühlingsvormittag zu beschreiben, brauchte man eigentlich ein Leben.""
Neben sämtlichen Rundfunk- und Fernsehauftritten Schmidts finden sich in diesem Supplement-Band auch Mitschnitte der Gespräche, die Alice und Arno Schmidt im April und August 1970 mit dem "Spiegel"-Redakteur Gunar Ortlepp führten. Der Anlass dieser Gespräche war wiederum "Zettel's Traum", beim zweiten Gespräch im August allerdings der Raubdruck davon, der 1970 in Umlauf gekommen war.
Diese insgesamt fast vierstündigen Gespräche unterscheiden sich erheblich von den anderen hier veröffentlichten Mitschnitten - einmal, weil sie eigentlich nie zur Veröffentlichung bestimmt waren und im Gegensatz zu den sonst höchst elaborierten und strategisch geplanten Auftritten Arno Schmidts einen zuweilen sogar entspannt zu nennenden Eindruck von ihm geben. Der andere Unterschied ist, dass Alice Schmidt an diesen Gesprächen teilnahm, und das bekanntlich nicht gerade leichte Los nicht nur einer, sondern dieser Schriftsteller-Ehefrau bricht sich hier mitunter Bahn in burlesken Situationen, etwa wenn Alice Schmidt einmal das Wort zu ergreifen suchte, um von ihrem Mann dann aber zuckersüß in die Schranken gewiesen zu werden:
"Arno Schmidt: Wir haben das beste gewählt, nicht weil es das beste
Alice Schmidt: in acht Bücher geteilt
Arno Schmidt: und teuerste war, sondern weil es so
Alice Schmidt: dass man es auch einzeln kaufen kann, damit die
Arno Schmidt: Ach Lilli
Alice Schmidt: vielen Studenten sich's einzeln kaufen können, wissen Sie, sie können dann alle Vierteljahr mal
Arno Schmidt: Lilli, was soll der Hörer mal für'n Eindruck bekommen, wenn Herr Ortlepp das im Kreise
Alice Schmidt: Ach so
Arno Schmidt: der Vertrauten hinter Mitternacht bei der Flasche dann einmal abspielt, die, die reinredet, das ist seine Frau. (Ortlepp lacht)
Alice Schmidt: Schicksal
Arno Schmidt: Kismet, Kismet sagt man, nicht, Süße, es ist dein Kismet, ich bin dein Kismet, that's right."
Solche Schnappschüsse aus der Privatsphäre gibt es hier einige, zu denen allerdings ebenso die kurzen Signale der Verschworenheit gehören, die zwischen den Schmidts in ihrer Bargfelder Eremitenklause bestand. Doch nicht nur das macht die Mitschnitte dieser beiden Gespräche zu singulären Dokumenten. Vielmehr liegt das daran, dass in diesen vom eigentlichen Anlass häufig abschweifenden Gesprächen immer wieder scharfkantig Eigenheiten von Arno Schmidts Sprache, Denkweise und Persönlichkeit geradezu lupenrein hervortreten. Da wäre etwa die schnoddrig-pointierte Sprechweise:
"Also ich will's nicht ganz so schroff ausdrücken, aber ich kann einfach nicht aus Wolluscht lesen, ja, sondern ich muss gerichtet lesen, dienstlich."
Oder:
"Ein Kollege, Ernst Kreuder, ich kann den Namen nennen, hat mir immer gesagt: Ich schwöre mir ewige Jugend. Worauf ich ihm natürlich entgegnen musste: Da schwören Sie sich ewige Unreife. - Ich weiß nicht, ob es ihn überzeugt hat. - Jugend? - Ich möchte nicht mehr jung sein."
Und dann noch einmal, denn es muss ihn gewurmt haben, wie wenig das verstanden wurde:
"Ich bilde mir ein, ein großer deutscher Humorist zu sein. - Meine Bücher sind witzig!"
Oder man bekommt Eindrücke von dem - mit Verlaub - Affenzahn, in dem seine Gedanken beim Sprechen entstanden, wenn der richtige Affekt ihn trieb:
"Arno Schmidt: Sehen Sie, ich bin immerhin noch in den zwanziger Jahren groß geworden und aufgewachsen, ich erinnere mich noch der Sensation, wenn'n neues Gedicht von Theodor Däubler wieder mal irgendwo stand, in `ner Zeitschrift, ja, das weiß ich, da hab' ich natürlich mitgemacht begeistert,
Gunar Ortlepp: Ja
Arno Schmidt: ich bin im Expressionismus groß geworden, die nicht, die kannten das nur noch, die kannten es noch nicht mal vom Hörensagen, nichts kannten sie, die Bücher waren ja verbrannt und weg."
Dass Schmidt wie viele Autodidakten keine Gelegenheit ausließ, um nicht nur die Masse seiner Zeitgenossen, sondern gerade die so genannten Fachleute und Kulturträger genüsslich mit dem Füllhorn seines enzyklopädischen Wissens zu düpieren, verbindet in jedem seiner Werke männliche Romanfiguren vom Typus eines Daniel Pagenstecher mit ihrem literarischen Erzeuger. In den Gesprächen nimmt dieser nimmermüde Drang, sich so für die Fron des Autodidaktentums und seiner Schriftstellerexistenz zu entschädigen, mitunter ausgesprochen skurrile Züge an:
"Arno Schmidt: Mit wie viel Lesern rechne ich, wie viel erwarte ich mir; da hat sich mir also ein sehr schö-, oh, das ist gut, ein schöner Erfahrungssatz ergeben, die eigentlichen Kulturträger in einer Nation oder in jeder größeren Ansammlung von Menschen, unter Kulturträger verstehe ich damit, wenn diejenigen, die sich nun wirklich fleißig mit viel Ausdauer, auch Kostenaufwand, das ist dabei nicht zu umgehen, viel Mühe und auch Feinempfinden in die Kunstwerke, in den großen Bestand der Kunstwerke vertiefen, die die Menschheit besitzt, schon das sind also Phönixe und mir hat sich die Zahl ergeben dritte Wurzel aus P, wobei P die Population, die Bevölkerung sein soll, die dritte Wurzel daraus, das ist, wie viel Einwohner haben wir in Deutschland jetzt, 56 Millionen, 57 Millionen so.
Gunar Ortlepp: Ja, wir sind wohl an die 60.
Arno Schmidt: An die 60, ja also dann wären es 390 etwa, 390, mehr sind es nicht; ich will Ihnen gern zugeben, dass um die herum nun noch eine, aber schon etwas blassere Aura von weiteren vier- bis fünftausend vorhanden ist.
Gunar Ortlepp: Amateure
Arno Schmidt: Also die 390 sind schon Amateure, wenn sie jetzt die eigentlichen Kulturerzeuger von mir wissen wollen, dann müssen Sie daraus noch mal die dritte Wurzel ziehen, das sind dann sieben bis acht, höchstens."
Allerdings schimmert manchmal durch, dass Schmidts hübsche Formel für sein Verlangen, sich einer winzigen Kultur- und Geistes-Elite zurechnen zu können, auch einen unangenehmen Haken besaß. Von Resignation oder zunehmender Gleichgültigkeit auf seiner einsamen Bahn wollte er zwar nichts wissen, aber sein Protest dagegen mündete doch im Unterton eines Bedauerns, sich mit seiner solipsistischen Position im einstigen Land der Dichter und Denker abfinden zu müssen.
"Arno Schmidt: Dagegen möchte ich protestieren, ich habe immer noch die Fähigkeit, mit einem Bettelknaben aus der Zeit von Julius Cäsar zu sympathisieren. Nein, das nicht! Also gleichgültiger werde ich nicht. Aber ich fühle mich nicht mehr kompetent, und ich nehme das sehr ernst, ich bin nicht mehr zuständig und ich möchte da kein Unheil anrichten.
Gunar Ortlepp: Sie sind nicht mehr zuständig für die Mehrheit des Volkes?
Arno Schmidt: Nein, gar nicht mehr, ich habe mir das früher auch eingebildet, sonst hätte ich ja gar nicht zu schreiben angefangen, also nach 45, wo so etwas wie ein kleiner Wiederhauch der Golden Twenties noch einmal erwacht war, ja, da habe ich auch gesagt, so jetzt (...) wirst du einmal Schriftsteller und schreibst Bücher, aber ich habe seitdem feststellen müssen, dass ich der Sprecher einer so winzigen Minderheit bin, dass sie - wir wollen gar nicht von der Fünf-Prozent-Klausel reden - aber dass sie auch schon unter die O,5-Prozent-Klausel noch fiele (...). Es ist dritte Wurzel aus P, ich wiederhole das, wir sind unserer zu wenig."
Als einer der "Zu Wenigen" hatte Arno Schmidt - wie einige von diesem Typus, zum Beispiel ein Robert Musil - oft mit dem Vorurteil zu kämpfen, nur ein Kopfschriftsteller zu sein. Nun wollte er ein "Dichter" ja ohnehin niemals sein, aber dieses Vorurteil hat er listig zur Demonstration seiner literarischen Stärke zu nutzen verstanden:
"Gegen den, doch, es war ein Vorwurf, gegen den Vorwurf des Nur-aus-von-seinem-eigenen-Kopf-her-Zehrens, selbst das wäre kein Einwand, verwahre ich mich dadurch, schütze ich mich auch dadurch im Praktischen, dass ich eben die Fähigkeit habe, mich an den Straßenrand zu stellen, nicht mit drin rum zu plätschern und Spiegel zu sein und Mikrofon, ja, dass ich eben alles mitschreibe, dadurch erfasse ich es, nicht dass ich alles billigte, aber ich nehme Kenntnis davon, auch mal gern mit einem Achselzucken, sondern wie eine Spiegeloberfläche, das ist gar kein so schlechtes Bild, das ist der eine Teil meiner Produktion natürlich, der sichert mich davor, allzu subjektiv zu sein. Ich glaube, insofern werde ich mir immer Modernität und Aktualität, Aktualität ist vielleicht noch besser, das ist natürlich eine Differenz, aber die werde ich mir immer dadurch bewahren können ..."
Wer hätte sich nicht schon einmal gewünscht, einen Ovid, Petronius oder Tacitus von sich und den eigenen Werken sprechen zu hören, oder einen Wieland, Klopstock oder Jean Paul? Hier ist nun ein Klassiker, bei dem sich dieser Wunsch erfüllen lässt, und die scheinbar so unspektakuläre Beigabe zur Bargfelder Ausgabe seiner Werke zeigt das Profil seiner Welt, wie man es sich besser nicht wünschen kann.
Arno Schmidt, Bargfelder Ausgabe, Supplemente, Band 2: Lesungen, Interviews, Umfragen. 231 Seiten, mit 1 DVD und 12 CDs. Redaktion: Susanne Fischer. Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag, 2006, Euro 98,-
"Wer nun Unglück hat, wird gestehn,
reglos sei dort nichts zu sehn:
wie Dein Auge Helena
liegen gequälte Violen da -
Riedgras wogt & tunkt hinab
Über's altvergessne Grab -
1 zählt 1, baumwipfelher
tropft's wie ewiger Tau so schwer -
dort rollt der vag=verträumte Wald
wie unter'm Nord die See eiskalt
um stürmische Hebriden schallt -
dort wo Gorgonen=Wolken brausen
rauschend ohne alle Pausen
durch schreckgelähmte Himmel sausen
grollend wie ein Wasserfall
am horizontnen Feuerwall -
mondbedottert Nachtgesicht
gibt dort ganz ungewisses Licht -
tags - torkelt die Sonne breit -
"über die Hügel, fern & weit"."
Ein paar ruppige Hinweise auf die Handwerkerdisziplin des Mosaikarbeiters und Wortmetz mussten da schon sein, um vor falschen Verwandtschaften mit lorbeerumkränzten Dichtern sicher zu sein - zumal er seine Werke, wie diese Verse aus seinem Groß-Werk "Zettel's Traum", auch verführerisch wie ein Dichter vorzutragen verstand.
Dass Arno Schmidt nach wie vor der beste Vorleser - und Kommentator - seiner Werke ist, läßt sich jetzt erstmals lückenlos nachvollziehen. Der zweite Supplementband der Bargfelder Ausgabe seiner Schriften, unspektakulär "Lesungen, Interviews, Umfragen" betitelt, enthält auf 12 CDs die Mitschnitte von seinen öffentlichen Auftritten, darunter auch alle 28 Lesungen, die von ihm erhalten sind, zumeist in den Archiven von ARD-Anstalten, aber auch einige Privataufnahmen.
Und nicht nur das. Auf einer DVD sind die drei einzigen Fernsehinterviews zu sehen, die Schmidt in der ersten Hälfte der 60er Jahre gegeben hat, ein wunderlicher Eindruck, diesen Erz-Puritaner unter den deutschen Nachkriegsschriftstellern in seinem Häuschen in Bargfeld, Landkreis Celle, Niedersachsen, vor der Kamera sitzen und mit dem Theodolit geschliffener Sätze die Höhenunterschiede zu seiner Vor- und Mitwelt vermessen zu sehen:
"Es ist, und ich wage wieder das schockierende Wort, schnuppe, ob der Schriftsteller Karl Marx besingt oder die Jungfrau Maria. Hauptsache, er tut das gut, und es ist auch nicht das Problem des Schriftstellers die Bearbeitung der Oberfläche, das ist es so wenig, dass zum Beispiel, wenn dem Dichter beim Anblick einer im Mondlicht bewegten Wasseroberfläche einfällt "mildeblitzende Glanzgewimmel" - Goethe, den ich durchaus verehre und zu würdigen weiß, aber mit Maßen - dass das einfach zur Voraussetzung des Handwerkes gehört, der kleinen textilen Pünktchenmuster hatten wir immer genug. Ich kann sagen: "Sieh, die Sonne sinkt", und ich kann sagen: "Helios parkt seinen Wagen". Es ist ja, ich sage es absichtlich schockierend wieder einmal aus, wenn Sie den Unterschied zwischen einem Autor und dem Leser wissen wollen, der besteht letzten Endes darin, ein Autor ist derjenige, dem "ein Stock im Petticoat" beim Anblick desjenigen einfällt, zu dem der Leser zeitlebens "mein Schirm" sagt, sehen Sie, das ist wiederum nur der einfache Ausdruck dafür, dass der Wortschatz und die Einbildungskraft eines Autors das Vielfache von dem des Lesers betragen muss, rein berufsbedingt."
Rein berufsbedingt hatte Schmidt allerdings meist Besseres zu tun, als Fernsehjournalisten mit Kameras und Scheinwerfern in seine tapfer gegen Störenfriede verteidigte Bargfelder Eremitenklause vorzulassen, und so sind diese drei nicht nur optisch aufschlussreichen Fernsehinterviews wirkliche Raritäten. Nach 1964, seinem fünfzigsten Geburtstag, hat es bis zu seinem Tod 1979 davon kein einziges weiteres mehr gegeben - und im Rundfunk sah das nicht wesentlich anders aus.
Obwohl Schmidt vor allem in den 50er und frühen 60er Jahren durch seine Lesungen und literarischen Nachtprogramme hin und wieder in Funkhäusern auftauchte, sind es gerade einmal drei Gespräche, die in den rund dreißig Jahren seines Schriftstellerlebens dort ausgestrahlt wurden. So beantwortete Schmidt 1952 acht Minuten lang einige Fragen von Martin Walser; doch am ausführlichsten waren 1969, kurz bevor "Zettel's Traum" erschien, seine sogenannten "vorläufigen" Erläuterungen dazu, in denen er manchmal auch kurz einen Türspalt zu seinem Alltagsleben öffnete, vor allem aber mit dem Gehirn-Extremsport kokettierte, den er während der Arbeit an seinem Mammutwerk betrieben hat:
"Die Niederschrift selbst begann Juli 65. Wenn man also bis Februar-März 69 rechnet, ergeben sich wieder ungefähr 1350 Tage. Das war nicht meine Absicht, dass es nun genau mit der Seitenzahl übereinstimmt; aber es hat sich so ergeben, dass das Pensum etwa jeden Tag 1 Großblatt gewesen ist.
Das heißt - es war natürlich keine 40-Stunden-Woche, ein Ausdruck, den ich bald nicht mehr hören kann. Meine Woche hat, wenn ich Glück habe, 100. Ich stehe sehr zeitig auf. Um 3 Uhr muss ich, vor drei darf ich.
Und die Nebenarbeiten waren in diesem Fall geradezu ungeheuerlich, obwohl ich ja selbst ein alter Bücherfresser und -Verschlinger bin; aber - um nur ein Beispiel zu nennen - ich habe ein ganzes Konversationslexikon von 1845 mit 34 Bänden (den alten PIERER, der übrigens ausgezeichnet ist), habe ich Wort für Wort lesen müssen, um mein Gehirn in die Falten jener Zeit zu legen; und vergessen durfte ich's auch noch nicht, was ich da gelesen hatte."
Da mag sich die Stirn derer noch mehr in Falten legen, die angesichts solcher Prozeduren meinen, dass so ohnehin nur eines der dickleibigsten und vermutlich am wenigsten gelesenen Werke der deutschen Literaturgeschichte entstehen konnte. Doch Schmidt hat, pointiert und scharfzüngig wie immer, wenn er sich an die Öffentlichkeit bequemte, zu Recht auf etwas hingewiesen, was manchen überraschen wird:
"ZETTELS TRAUM musste - allein schon ob der Etym-Basis - ein zu zwei Dritteln humoristisches Buch werden, das aber auch alles mögliche Andere natürlich zeigt: das Flickwerk unserer Eingeweide und den Schmelz der Interpunktion."
Dass Schmidt in der Tat ein Humorist war, kauzig-intellektuell zweifellos, aber stets mit Sinn für Bizarrien und Pointen, gilt nicht nur für "Zettel's Traum", sondern viele seiner Werke. Sogar in dem steifen Sonntagsschulenklima von Literatursendungen der frühen 60er-Jahre ist das noch zu spüren, wie in einem Gespräch über Karl May, der allerdings auch eine ergiebige Quelle für schwarzen Humor ist:
"Es ist Sitte geworden, ihn als krank hinzustellen, aber ich möchte das doch berichtigen, natürlich war er Neurotiker wie wir alle, wenn du Neurose schaust, sag, ich lass sie grüßen, ja - aber so krank, dass er heute nicht mehr bestraft werden würde, war er doch wiederum nicht, und selbst, wenn man sich entschließt, die mehr als Schelmenstreich anmutenden Handlungen abzuziehen (...) es bleibt doch immer noch so viel an wirklich gemeiner Betrügerei und niedrigem Diebstahl übrig, dass es heute wahrscheinlich immer auch noch hinreichen würde, der Mann hat ja schlechterdings alles gestohlen: Handtücher, Billardbälle, Zigarren, Kinderwagen, Pelzmäntel bis hinauf zu einem lebendigen Pferd."
Literarisch beruhen Schmidts humoristische Qualitäten letztlich auf einer elementaren Einstellung seiner literarischen Optik, die er sechs Jahre vor "Zettel's Traum" beiläufig einmal so umriss:
"Die Helden meiner Dichtung? Es sind keine Helden, noch nicht einmal halbe Helden, würde ich sagen, sondern ich betrachte als das eigentlich Interessante nur den Alltag. Ich will nicht so weit gehen wie Ponge etwa mit der Beschreibung eines Kieselsteins, das ist ja höchstens ein Eckchen in dem ganzen Gemälde, aber dennoch ist der Alltag und seine kleinen Feinheiten das, was noch gar nicht an- beziehungsweise ausstudiert ist."
Die Lektüre von Konversationslexika früherer Zeiten ist für Schmidt nur ein Hilfsmittel gewesen, wenn es - wie in "Zettel's Traum" - unter anderem darum ging, ein Panorama des Zeitalters von Edgar Allen Poe zu entwerfen; doch elementar war für ihn immer, den Fokus in aller Schärfe auf die Mikrokosmen des Alltäglichen zu richten, wo sich eben die Real-Humoresken und oft genug auch -Grotesken von Schmidts eigener Gegenwart abspielten. Dem Einwand übrigens, mit den Heidedorf-Szenarien von "Zettel's Traum" hinter den Alltag der literarischen Großstadt-Moderne eines James Joyce zurückzufallen, ist er in seinen Erläuterungen schon vorsorglich mit dem entwaffnenden Verweis auf seine Allergie gegen das Stadtleben elegant ausgewichen:
"JOYCE war - hm - ein Vollblutasphalttreter, ganz im Gegensatz zu mir. Also sein Schauplatz ist die Stadt, und - da hatte er nun natürlich die Möglichkeit - lediglich aufgrund der Anzahl der ihm begegnenden Personen bei einem Gang durch die Stadt der Vielzahl von Geschäften des Straßenlabyrinthes - er hatte ganz andere Möglichkeiten, sein Buch zu füllen; mit vielen, vielen Details.
Ich beraube mich praktisch dadurch, dass ich die Wirklichkeit hier in die Heide verlege, dieser - ja, ich mag es nicht Möglichkeit nennen, ganz einfach, weil ich das Stadtleben nicht mag. Man kann einwenden, die Basis sei nun etwas schmal für ein solches Riesengebäude; ich will aber doch mein Credo dahingehend abgeben - und gar nicht PONGE und den KIESELSTEIN erwähnen, sondern - ja ich zitiere wieder einen älteren Schriftsteller, einen älteren Kollegen, den THÜMMEL und seine REISE IN DIE MITTÄGLICHEN PROVINZEN VON FRANKREICH, das ist auch ein sehr umfangreiches Buch - der prägt darin das herrliche Wort: "Um einen Frühlingsvormittag zu beschreiben, brauchte man eigentlich ein Leben.""
Neben sämtlichen Rundfunk- und Fernsehauftritten Schmidts finden sich in diesem Supplement-Band auch Mitschnitte der Gespräche, die Alice und Arno Schmidt im April und August 1970 mit dem "Spiegel"-Redakteur Gunar Ortlepp führten. Der Anlass dieser Gespräche war wiederum "Zettel's Traum", beim zweiten Gespräch im August allerdings der Raubdruck davon, der 1970 in Umlauf gekommen war.
Diese insgesamt fast vierstündigen Gespräche unterscheiden sich erheblich von den anderen hier veröffentlichten Mitschnitten - einmal, weil sie eigentlich nie zur Veröffentlichung bestimmt waren und im Gegensatz zu den sonst höchst elaborierten und strategisch geplanten Auftritten Arno Schmidts einen zuweilen sogar entspannt zu nennenden Eindruck von ihm geben. Der andere Unterschied ist, dass Alice Schmidt an diesen Gesprächen teilnahm, und das bekanntlich nicht gerade leichte Los nicht nur einer, sondern dieser Schriftsteller-Ehefrau bricht sich hier mitunter Bahn in burlesken Situationen, etwa wenn Alice Schmidt einmal das Wort zu ergreifen suchte, um von ihrem Mann dann aber zuckersüß in die Schranken gewiesen zu werden:
"Arno Schmidt: Wir haben das beste gewählt, nicht weil es das beste
Alice Schmidt: in acht Bücher geteilt
Arno Schmidt: und teuerste war, sondern weil es so
Alice Schmidt: dass man es auch einzeln kaufen kann, damit die
Arno Schmidt: Ach Lilli
Alice Schmidt: vielen Studenten sich's einzeln kaufen können, wissen Sie, sie können dann alle Vierteljahr mal
Arno Schmidt: Lilli, was soll der Hörer mal für'n Eindruck bekommen, wenn Herr Ortlepp das im Kreise
Alice Schmidt: Ach so
Arno Schmidt: der Vertrauten hinter Mitternacht bei der Flasche dann einmal abspielt, die, die reinredet, das ist seine Frau. (Ortlepp lacht)
Alice Schmidt: Schicksal
Arno Schmidt: Kismet, Kismet sagt man, nicht, Süße, es ist dein Kismet, ich bin dein Kismet, that's right."
Solche Schnappschüsse aus der Privatsphäre gibt es hier einige, zu denen allerdings ebenso die kurzen Signale der Verschworenheit gehören, die zwischen den Schmidts in ihrer Bargfelder Eremitenklause bestand. Doch nicht nur das macht die Mitschnitte dieser beiden Gespräche zu singulären Dokumenten. Vielmehr liegt das daran, dass in diesen vom eigentlichen Anlass häufig abschweifenden Gesprächen immer wieder scharfkantig Eigenheiten von Arno Schmidts Sprache, Denkweise und Persönlichkeit geradezu lupenrein hervortreten. Da wäre etwa die schnoddrig-pointierte Sprechweise:
"Also ich will's nicht ganz so schroff ausdrücken, aber ich kann einfach nicht aus Wolluscht lesen, ja, sondern ich muss gerichtet lesen, dienstlich."
Oder:
"Ein Kollege, Ernst Kreuder, ich kann den Namen nennen, hat mir immer gesagt: Ich schwöre mir ewige Jugend. Worauf ich ihm natürlich entgegnen musste: Da schwören Sie sich ewige Unreife. - Ich weiß nicht, ob es ihn überzeugt hat. - Jugend? - Ich möchte nicht mehr jung sein."
Und dann noch einmal, denn es muss ihn gewurmt haben, wie wenig das verstanden wurde:
"Ich bilde mir ein, ein großer deutscher Humorist zu sein. - Meine Bücher sind witzig!"
Oder man bekommt Eindrücke von dem - mit Verlaub - Affenzahn, in dem seine Gedanken beim Sprechen entstanden, wenn der richtige Affekt ihn trieb:
"Arno Schmidt: Sehen Sie, ich bin immerhin noch in den zwanziger Jahren groß geworden und aufgewachsen, ich erinnere mich noch der Sensation, wenn'n neues Gedicht von Theodor Däubler wieder mal irgendwo stand, in `ner Zeitschrift, ja, das weiß ich, da hab' ich natürlich mitgemacht begeistert,
Gunar Ortlepp: Ja
Arno Schmidt: ich bin im Expressionismus groß geworden, die nicht, die kannten das nur noch, die kannten es noch nicht mal vom Hörensagen, nichts kannten sie, die Bücher waren ja verbrannt und weg."
Dass Schmidt wie viele Autodidakten keine Gelegenheit ausließ, um nicht nur die Masse seiner Zeitgenossen, sondern gerade die so genannten Fachleute und Kulturträger genüsslich mit dem Füllhorn seines enzyklopädischen Wissens zu düpieren, verbindet in jedem seiner Werke männliche Romanfiguren vom Typus eines Daniel Pagenstecher mit ihrem literarischen Erzeuger. In den Gesprächen nimmt dieser nimmermüde Drang, sich so für die Fron des Autodidaktentums und seiner Schriftstellerexistenz zu entschädigen, mitunter ausgesprochen skurrile Züge an:
"Arno Schmidt: Mit wie viel Lesern rechne ich, wie viel erwarte ich mir; da hat sich mir also ein sehr schö-, oh, das ist gut, ein schöner Erfahrungssatz ergeben, die eigentlichen Kulturträger in einer Nation oder in jeder größeren Ansammlung von Menschen, unter Kulturträger verstehe ich damit, wenn diejenigen, die sich nun wirklich fleißig mit viel Ausdauer, auch Kostenaufwand, das ist dabei nicht zu umgehen, viel Mühe und auch Feinempfinden in die Kunstwerke, in den großen Bestand der Kunstwerke vertiefen, die die Menschheit besitzt, schon das sind also Phönixe und mir hat sich die Zahl ergeben dritte Wurzel aus P, wobei P die Population, die Bevölkerung sein soll, die dritte Wurzel daraus, das ist, wie viel Einwohner haben wir in Deutschland jetzt, 56 Millionen, 57 Millionen so.
Gunar Ortlepp: Ja, wir sind wohl an die 60.
Arno Schmidt: An die 60, ja also dann wären es 390 etwa, 390, mehr sind es nicht; ich will Ihnen gern zugeben, dass um die herum nun noch eine, aber schon etwas blassere Aura von weiteren vier- bis fünftausend vorhanden ist.
Gunar Ortlepp: Amateure
Arno Schmidt: Also die 390 sind schon Amateure, wenn sie jetzt die eigentlichen Kulturerzeuger von mir wissen wollen, dann müssen Sie daraus noch mal die dritte Wurzel ziehen, das sind dann sieben bis acht, höchstens."
Allerdings schimmert manchmal durch, dass Schmidts hübsche Formel für sein Verlangen, sich einer winzigen Kultur- und Geistes-Elite zurechnen zu können, auch einen unangenehmen Haken besaß. Von Resignation oder zunehmender Gleichgültigkeit auf seiner einsamen Bahn wollte er zwar nichts wissen, aber sein Protest dagegen mündete doch im Unterton eines Bedauerns, sich mit seiner solipsistischen Position im einstigen Land der Dichter und Denker abfinden zu müssen.
"Arno Schmidt: Dagegen möchte ich protestieren, ich habe immer noch die Fähigkeit, mit einem Bettelknaben aus der Zeit von Julius Cäsar zu sympathisieren. Nein, das nicht! Also gleichgültiger werde ich nicht. Aber ich fühle mich nicht mehr kompetent, und ich nehme das sehr ernst, ich bin nicht mehr zuständig und ich möchte da kein Unheil anrichten.
Gunar Ortlepp: Sie sind nicht mehr zuständig für die Mehrheit des Volkes?
Arno Schmidt: Nein, gar nicht mehr, ich habe mir das früher auch eingebildet, sonst hätte ich ja gar nicht zu schreiben angefangen, also nach 45, wo so etwas wie ein kleiner Wiederhauch der Golden Twenties noch einmal erwacht war, ja, da habe ich auch gesagt, so jetzt (...) wirst du einmal Schriftsteller und schreibst Bücher, aber ich habe seitdem feststellen müssen, dass ich der Sprecher einer so winzigen Minderheit bin, dass sie - wir wollen gar nicht von der Fünf-Prozent-Klausel reden - aber dass sie auch schon unter die O,5-Prozent-Klausel noch fiele (...). Es ist dritte Wurzel aus P, ich wiederhole das, wir sind unserer zu wenig."
Als einer der "Zu Wenigen" hatte Arno Schmidt - wie einige von diesem Typus, zum Beispiel ein Robert Musil - oft mit dem Vorurteil zu kämpfen, nur ein Kopfschriftsteller zu sein. Nun wollte er ein "Dichter" ja ohnehin niemals sein, aber dieses Vorurteil hat er listig zur Demonstration seiner literarischen Stärke zu nutzen verstanden:
"Gegen den, doch, es war ein Vorwurf, gegen den Vorwurf des Nur-aus-von-seinem-eigenen-Kopf-her-Zehrens, selbst das wäre kein Einwand, verwahre ich mich dadurch, schütze ich mich auch dadurch im Praktischen, dass ich eben die Fähigkeit habe, mich an den Straßenrand zu stellen, nicht mit drin rum zu plätschern und Spiegel zu sein und Mikrofon, ja, dass ich eben alles mitschreibe, dadurch erfasse ich es, nicht dass ich alles billigte, aber ich nehme Kenntnis davon, auch mal gern mit einem Achselzucken, sondern wie eine Spiegeloberfläche, das ist gar kein so schlechtes Bild, das ist der eine Teil meiner Produktion natürlich, der sichert mich davor, allzu subjektiv zu sein. Ich glaube, insofern werde ich mir immer Modernität und Aktualität, Aktualität ist vielleicht noch besser, das ist natürlich eine Differenz, aber die werde ich mir immer dadurch bewahren können ..."
Wer hätte sich nicht schon einmal gewünscht, einen Ovid, Petronius oder Tacitus von sich und den eigenen Werken sprechen zu hören, oder einen Wieland, Klopstock oder Jean Paul? Hier ist nun ein Klassiker, bei dem sich dieser Wunsch erfüllen lässt, und die scheinbar so unspektakuläre Beigabe zur Bargfelder Ausgabe seiner Werke zeigt das Profil seiner Welt, wie man es sich besser nicht wünschen kann.
Arno Schmidt, Bargfelder Ausgabe, Supplemente, Band 2: Lesungen, Interviews, Umfragen. 231 Seiten, mit 1 DVD und 12 CDs. Redaktion: Susanne Fischer. Arno Schmidt Stiftung im Suhrkamp Verlag, 2006, Euro 98,-