Eigentlich sollte es ja bekannt sein: Vorlesen macht kleinen Kindern nicht nur Spaß – sondern fördert sie. Verbessert ihre Startchancen. Und zwar in vielerlei Hinsicht, sagt Simone Ehmig. Sie leitet das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung lesen.
"Vorlesen ist gut für die Entwicklung für Sprachfähigkeit, Kinder lernen leichter selbst lesen, wenn sie die Vorleseerfahrung haben. Wenn Eltern ihren Kindern vorlesen, verschaffen sie ihnen gute Startbedingungen für die Grundschule – das heißt nicht, dass Eltern ihren Kindern das Lesen beibringen müssen."
Vorlesen verbessert nicht nur die Lesekompetenz
So weit so naheliegend. Kinder entwickeln aber auch bessere Kommunikationskompetenzen und schärfen ihre Auffassungsgabe.
"Kinder profitieren dabei für ihre Persönlichkeitsentwicklung, für ihre sozialen Kompetenzen, weil sie über die Geschichten daran gewöhnt sind, sich in Figuren hinein zu versetzen, weil sie lernen, wie Menschen denken können, welche Schicksale sie haben können – auch wenn sie das selbst in ihrer eigenen Lebenserfahrung noch gar nicht erlebt haben können."
Umgekehrt gilt: Kindern, denen Eltern, Großeltern Geschwister und andere eben kaum vorlesen, mangelt es später an Lese- und Schreibkompetenzen. Immer wieder belegen das Bildungsvergleichsstudien, sagt Jörg Maas, der Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen.
"Wenn man sich die Iglu-Studie anschaut, die Lesekompetenzmessung bei den Grundschulen oder aber auch die Pisa-Ergebnisse anschaut, wo im OECD Vergleich auch die Lesekompetenz bei den 15-Jährigen angeschaut wird: Wir stehen nicht gut da in Deutschland. Ein Fünftel der Kinder kann nicht richtig lesen und schreiben – und das hat ursächlich damit zu tun, dass den Kindern früher nicht vorgelesen wurde."
Am besten 15 Minuten pro Tag vorlesen
Umso dramatischer der Befund der aktuellen Studie der Stiftung Lesen. Etwa ein Drittel der Kinder kommt nicht oder kaum – also seltener als einmal die Woche - in den Genuss des Vorlesens. In Zahlen: 1,7 Millionen Kinder im Alter von zwei bis acht Jahren. Ein ähnlicher Wert wie vor sechs Jahren, als die Stiftung Lesen diese Daten erstmals erhoben hat.
"Wir müssen wirklich alle Eltern dazu kriegen in Deutschland ihren Kindern vorzulesen – am besten mindestens 15 Minuten jeden Tag."
Besonders selten lesen dabei Eltern mit niedrigem formalem Bildungsabschluss ihren Kindern vor: 50 Prozent unter ihnen tun es nie oder seltener als einmal pro Woche.
"Einige von ihnen können selbst nicht gut lesen und schreiben. Die neusten Zahlen zeigen, dass wir 6,2 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter haben, die nicht gut lesen und schreiben können – und unter diesen Personen ist ein erheblicher Teil auch Eltern."
Bei Eltern mit höherer Bildung beträgt der Anteil der Wenig-Vorleser nur 20 Prozent. Außerdem: Mütter lesen ihren Kindern deutlich häufiger vor als Väter.
Mit Bilderbüchern anfangen
Um vorlese-faule Eltern zu motivieren, raten die Forscher, niedrigschwellig und früh anzufangen. Denn Vorlesen könne viel mehr sein, als ein Buch zur Hand zu nehmen, sagt Ehmig.
"Wir sehen, dass Eltern einen engen auf Text auf das gedruckte Buch bezogenen Vorlesebegriff haben. Sie zählen viele Dinge, wie wir selbstverständlich dazu zählen, nicht dazu. Etwa, dass man mit ganz kleinen Kindern Bilder- und Wimmelbücher anschaut, ihnen dazu Geschichten erzählt, sich über die Bilder unterhält. Das ist ein Anknüpfungspunkt für uns, das Lesen noch stärker in den Alltag der Eltern hinein zu bringen."
Vorlesen geht also überall – nicht nur im Kinderzimmer vor dem Schlafengehen.
"Dass man im Alltag im Straßenverkehr das Verkehrsschild ansieht und sieht, da sind ja Buchstaben drauf, oder auf einem Plakat den Anfangsbuchstaben des Vornamens entdeckt, oder beim Singen oder über Hörspiele zu Geschichten kommt, sie dann aber auch selbst aufgreift an einem Bilderbuch – es sind oft ganz alltagsnahe Dinge."
Gesellschaft muss deutlich machen, wie wichtig Vorlesen ist
Doch davon abgesehen, müsse die Gesellschaft immer wieder deutlich machen, wie wichtig Vorlesen für die Entwicklung der Kinder ist – egal ob in der Kita, im Verein, in Elternratgebern oder auch beim Kinderarzt, sagt Stiftungs-Chef Maas.
Er fordert deshalb einen Nationalen Vorlesepakt.
"Wo eben alle Akteure, ob das Kitas sind, die Eltern, die Wirtschaftsverbände, die Politik – dass sich eben alle dafür einsetzen, dass wir mehr unternehmen, um Eltern darauf hinzuweisen, ihren Kindern vorzulesen. Also im Grunde genommen wollen wir weg aus dem Schwarzen-Peter-Spiel, wir haben alle in der Gesellschaft eine gemeinsame Verantwortung, jedes Kind zum Lesen zu bringen."
Nächste Gelegenheit dazu: der bundesweite Vorlesetag am 15. November.