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Vormarsch der IS-Milizen
"Die Türkei muss sich Sorgen machen"

Das Ziel der islamistischen Terrormiliz IS sei es, im Osten und Nordosten Syriens ein zusammenhängendes Gebiet zu erobern, sagte der Terrorismusexperte Guido Steinberg im Deutschlandfunk. Wenn das geschehen sei, müsse sich die Türkei größere Sorgen machen, "aber sie scheinen das nicht zu sehen".

Guido Steinberg im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Porträtfoto von Guido Steinberg
    Guido Steinberg, Terrorismusexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (picture alliance / dpa)
    Die Türkei betreibe eine sehr ambivalente Politik gegenüber der Terrormiliz IS, sagte der Terrorismusexperte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Deutschlandfunk. In den Grenzgebieten, die die IS schon kontrolliere, könnten sich ihre Kämpfer über die Grenze zur Türkei zurückziehen und es könnten auch neue Kämpfer für den IS über die Grenze einreisen.
    Der Grund für diese Politik sei einerseits, dass es in der türkischen Politik immer noch den Glaubenssatz gebe, dass die kurdische PKK die wichtigste Terrororganisation sei, die es zu bekämpfen gelte. Zum anderen habe die Türkei die Vorgängerorganisation des IS in Syrien, die Al-Nusra-Front unterstützt. Hilfen für die kurdischen Kämpfer in Syrien, wie es sie für die irakischen Kurden gegeben habe, seien deshalb wohl ausgeschlossen. Die syrischen Kurden könnten nur hoffen, dass der Friedensprozess zwischen der Türkei und der PKK vorankomme.
    Ein Grund für den Vormarsch der Terrormiliz IS in Syrien sei auch die Schwäche ihrer Gegner, sagte Steinberg. Die Kurden in Syrien seien weit verstreut und nur leicht bewaffnet. Sie hätten es aber mit beweglichen Einheiten des IS zu tun, die in der vergangenen Zeit auch schwere Waffen erbeutet hätten und diese nun auch einsetzten. Die syrischen Kurden könnten auch nur hoffen, dass die USA und andere sie mit Luftangriffen unterstützten. Letztlich werde der Kampf aber am Boden entschieden.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Die Zahl, die die türkische Regierung am Wochenende bekanntgab, war erschreckend genug. Demnach seien allein innerhalb von 24 Stunden 45.000 zumeist kurdische Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei angekommen, um sich vor dem Vormarsch des Islamischen Staats in Sicherheit zu bringen. Aus Sicht des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen ist die Lage aber noch dramatischer. Nach seinen Informationen sind es fast 100.000 Menschen, die innerhalb von zwei Tagen die Flucht ergriffen haben, und das könnte erst der Anfang sein.
    Am Telefon ist jetzt Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Schönen guten Morgen, Herr Steinberg.
    Guido Steinberg: Guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Der sogenannte Islamische Staat erobert offenbar weitere Gebiete im Norden Syriens, an der Grenze zur Türkei, und zwar direkt an der Grenze zur Türkei. Was ist der Grund dafür, dass dem IS immer noch der Vormarsch gelingt?
    Steinberg: Der wichtigste Grund dafür ist vor allem die Schwäche der Gegner. Wir haben es in dem Beitrag von Herrn Blaschke gerade gehört. Wir haben es da mit Milizen zu tun, die zur PYD gehören, dem syrischen Ableger der PKK. Das sind etwa 30.000 bis 50.000 Mann, aber die sind über diese drei Kantone verstreut. Das ist ein riesiger Raum im Norden und Nordosten Syriens. Die sind auch nur leicht bewaffnet und die haben es jetzt mit sehr, sehr beweglichen Truppen zu tun, die in der Lage sind, sich dort zu massieren, wo sie gerade angreifen, nämlich in Korbani, während die kurdischen Truppen Dörfer und Städte verteidigen müssen und deswegen sehr, sehr weit gestreckt sind, und das erklärt wahrscheinlich, warum IS hier so stark ist. Hinzu kommt natürlich, dass die Organisation in den letzten Wochen und Monaten schwere Waffen erbeutet hat und zumindest einige von denen auch im Kampf um Korbani einsetzen kann.
    Ambivalente Politik gegenüber IS
    Heckmann: Müssen sich die Türken, muss sich die türkische Regierung jetzt Sorgen machen, dass der Islamische Staat, der sogenannte Islamische Staat, sich jetzt auch demnächst noch auf türkischem Hoheitsgebiet breit macht?
    Steinberg: Ja, ganz sicherlich. Im Moment ist es vor allem das Ziel von IS, ein zusammenhängendes Gebiet im Osten und Nordosten Syriens zu beherrschen. Da stehen die Kurden im Weg und die sind das primäre Ziel. Die werden auch schon seit längerer Zeit bekämpft. Wenn Korbani eingenommen wird, denke ich, wird das nächste Ziel der Norden von Aleppo sein, wo es noch mal ein kleines Gebiet gibt, und dann vor allem der große Kanton der Kurden im Osten rund um die Städte Quamishli und Hassake, und danach werden die Türken ganz sicherlich größere Probleme bekommen. Sie selbst scheinen das aber nicht zu sehen. Man kann ja doch nachweisen, dass die Türken eine sehr ambivalente Politik gegenüber IS führen. Sie lassen es zumindest zu, dass in den Grenzregionen, die von IS schon kontrolliert werden, westlich und östlich von Korbani, dass es dort einen regen Grenzaustausch gibt, dass auch die Kämpfer sich über die türkische Grenze immer noch zurückziehen können, dass sie über die Türkei Richtung Syrien anreisen können. Letzten Endes ist das sehr schwer zu verstehen, was die Türkei da für eine Politik führt.
    Heckmann: Diese Vorwürfe werden ja offiziell zurückgewiesen, dass die Türkei da sozusagen Amtshilfe leistet. Sie gehen dennoch davon aus, dass das so ist, und sagen selber, es ist schwer zu verstehen. Was könnte denn ein Motiv sein?
    Steinberg: Nun, es gibt zwei wichtige Motive dafür, dass die Türkei in der Vergangenheit ganz offen die Vorgängerorganisation von IS, nämlich die Nusra-Front unterstützt hat und heute da zumindest Aktivitäten duldet und nicht gegen sie einschreitet. Das ist einmal, dass die Türkei das Assad-Regime stürzen will. Das ist ihr wichtiger und immerhin ist IS eine wichtige aufständische Organisation in Syrien. Und zweitens geht es der Türkei darum zu verhindern, dass der syrische Ableger der PKK, die PYD, um die es ja in diesen Kämpfen hier geht, weiter erstarkt und dort eine Autonomiezone in ihren syrischen Gebieten errichtet, wie das den irakischen Kurden gelungen ist. Diese beiden Motive scheinen für die Türkei bisher immer noch wichtiger gewesen zu sein, als der Wunsch, eine terroristische Organisation wie IS in die Schranken zu weisen, und es gibt bisher noch keinen Hinweis darauf, dass sich an diesen Grundlinien der türkischen Politik etwas geändert hat.
    Hoffen auf Friedensprozess der Türken mit der PKK
    Heckmann: Jetzt haben wir eine Massenflucht von syrischen Kurden Richtung Türkei. 100.000 Menschen sollen innerhalb von zwei Tagen geflohen sein und die Vereinten Nationen, die befürchten, dass noch viel mehr kommen könnten. Könnte das der Anlass sein für die Amerikaner, für die Briten, für die Franzosen, ihre Luftschläge jetzt intensiv auch im Norden Syriens auszuführen?
    Steinberg: Ja, das kann durchaus sein, und das wäre zumindest für die Kurden auch zu hoffen, denn das ist wahrscheinlich ihre einzige Chance, sich gegen IS effektiv zu verteidigen. Wie gesagt, IS hat schwere Waffen, die PYD hat die nicht, und dieses Szenario wird sicherlich in den nächsten Tagen intensiver diskutiert werden. Die einzige Alternative dazu wäre, dass die PYD Unterstützung von der Türkei bekommt, aber das scheint ausgeschlossen zu sein, denn es ist immer noch ein Glaubenssatz in der türkischen Politik, dass die wichtigere terroristische Bedrohung die PKK ist. Zu der wird in der Türkei die PYD gezählt, das wohl auch zu Recht, und IS steht demgegenüber noch zurück. Es ist eher noch zu wünschen, dass die Türkei jetzt ihre Politik überdenkt und vielleicht auch angesichts dieses Flüchtlingsstroms, der ja auch wirklich ein großes Problem für die Türkei darstellt, ändert. Die einzige Hoffnung für die syrischen Kurden ist meines Erachtens, dass der Friedensprozess der Türken mit der PKK, der ja immer wieder ins Stocken gerät, dass der erfolgreich ist und dass dann vielleicht der Weg auch frei wird, den syrischen Kurden etwas intensiver zu helfen, obwohl dort eine Organisation dominiert, mit der sie wir eigentlich nicht zusammenarbeiten können.
    Heckmann: Wenn die Lage so ist, wie sie ist und wie Sie sie beschreiben, Herr Steinberg, Luftschläge allein, die dann kommen könnten in den nächsten Tagen, die dürften auch nicht die alleinige Lösung sein.
    Steinberg: Nein, ganz sicherlich nicht. Diese Kämpfe gegen IS werden am Boden entschieden werden und die USA haben schon klargemacht, dass sie Bodentruppen nicht schicken werden, bis auf Spezialkräfte, die ohnehin schon präsent sind, und zu diesem Zweck kann man eigentlich nur darauf hoffen, dass die Kräfte vor Ort das in den Griff bekommen. Und was im Irak schon sehr schwer ist, nämlich diese Ertüchtigung der irakischen Armee und der Peschmerga, das wird sehr, sehr schwierig sein, die mit der Fähigkeit auszustatten, offensiv vorzugehen, beispielsweise in Mossul. Das wird in Syrien auf längere Sicht fast unmöglich sein. Aus politischen Gründen ist es unmöglich, die syrischen Kurden und deren wichtigste Vertreterin, die PYD, ebenso zu unterstützen wie die irakischen Kurden, vor allem, weil die Türken da im Weg stehen werden, und deswegen habe ich da wenig Hoffnung, dass sich die Situation vor Ort verbessert. Wir werden es auf lange Sicht hinaus mit Kämpfen zwischen IS und den syrischen Kurden zu tun haben.
    Freilassung der Geiseln ein Fehler der IS
    Heckmann: Dutzende türkische Geiseln, die seit über 100 Tagen in den Händen des IS gewesen sind, so der Generalkonsul in Mossul und seine Familie, die sind ja am Wochenende frei gekommen, und die türkische Regierung, die behauptet, da sei kein Lösegeld geflossen. Ist das eigentlich glaubhaft, oder ist es das, was man immer sagt, um keine Nachahmer zu animieren?
    Steinberg: Ja, es ist sehr schwierig zu glauben, dass diese 49 Geiseln aus Mossul frei gekommen sein sollen, ohne dass die Türken da eine Gegenleistung geboten haben, welcher Art auch immer die ist. Sie selbst sagen, es hat keine Gegenleistung gegeben. IS sagt, es hat eine politische Gegenleistung gegeben, nämlich die Zusage, dass die Türken sich nicht an den Aktivitäten, also an den Angriffen der Amerikaner und dieser neuen Strategie beteiligen werden. Das ist eine Möglichkeit. Die einzige andere Möglichkeit, die ich sehe, ist, dass die Türken da so sehr auf IS eingewirkt haben mit Druck, dass die nun Angst bekommen haben vor den Türken. Das halte ich aber doch eher für unwahrscheinlich. Es ist möglich, dass sie da politische Zugeständnisse gemacht haben, dass sie angeboten haben, ihre Politik der letzten Monate fortzuführen, nämlich eine sehr ambivalente Politik gegenüber IS. Lösegeldzahlungen halte ich auch für möglich. Aber in jedem Fall war das ein schwerer Fehler von IS, denn nun haben die Türken faktisch freie Hand in ihrer Politik. Sie haben ja in den letzten Wochen immer wieder darauf verwiesen, gegenüber den Amerikanern, dass sie sich nicht an diesen Luftschlägen gegen IS beteiligen können, wegen dieser Geiseln. Diese Geiseln sind jetzt frei und wenn die Türken eine aggressivere Politik gegen IS wählen wollen, dann könnten sie dies jetzt tun. Das, meine ich, ist ein sehr schwer verständlicher Fehler von IS.
    Heckmann: Guido Steinberg war das von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Herr Steinberg, danke Ihnen für Ihre Analyse.
    Steinberg: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.