"Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig gesagt, dass die anlasslose Vorratsdatenspeicherung mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist", sagte der Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Für anlassbezogene Vorratsdatenspeicherung sei die FDP dagegen offen. "Wir wissen ja, wer die Gefährder sind", so Lambsdorff. Es sei bekannt, wer etwa nach Syrien oder die Türkei ausgereist sei. Von diesen Menschen könnten die Verbindungsdaten gespeichert werden. Ansonsten dürfe der Staat nicht einfach in die Privatsphäre von Menschen eindringen.
Dass Dschihadisten den Sicherheitsbehörden in keiner Weise auffallen, beizeichnete er als unwahrscheinlich. "Die Leute sind einschlägig bekannt", meinte der FDP-Politiker. "Das Risiko ist eines, mit dem eine offene Gesellschaft leben muss. Das ist Sicht des Bundesverfassungsgerichts und der Liberalen."
Der Europapolitiker forderte eine stärkere Zusammenarbeit der europäischen Geheimdienste. So müssten die Informationen und Erkenntnisse über mutmaßliche Islamisten gemeinsam ausgewertet werden. "Das erlaubt es unter Umständen, Verbindungen zu sehen, die man auf rein nationaler Ebene vielleicht nicht sieht", sagte Lambsdorff. "Hier finde ich die Bundesregierung viel zu mutlos."
Das Interview in voller Länge:
Alexander Graf Lambsdorff. Er ist Europaabgeordneter der FDP und Vizepräsident des EU-Parlaments. Schönen guten Tag, Herr Lambsdorff!
Alexander Graf Lambsdorff: Guten Tag, Herr Armbrüster!
Armbrüster: Terroristen machen nicht halt an nationalen Grenzen. Reicht denn die derzeitige Zusammenarbeit von Ermittlern und Polizeibehörden in Europa aus?
Graf Lambsdorff: Nein, das tut sie offenkundig nicht. Es ist ja herausgekommen beispielsweise, dass die Waffen der Pariser Attentäter mindestens zum Teil aus Belgien beschafft wurden. Darüber gab es offensichtlich keine ausreichenden Erkenntnisse, und wenn es sie gab, hat man sie nicht geteilt. Mit anderen Worten, hier ist noch viel zu tun. Matteo Renzi, der italienische Premierminister, hat vorgeschlagen, einen europäischen Geheimdienst einzurichten. Man muss vielleicht nicht ganz so weit gehen, aber dass die Zusammenarbeit intensiviert und vertieft werden muss – ich glaube, daran führt kein Weg vorbei.
Armbrüster: Und was ist mit der Vorratsdatenspeicherung?
Graf Lambsdorff: Nun, das ist ja eben im Beitrag schon zum Ausdruck gekommen. Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig gesagt, dass eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung, also das Abspeichern aller Handy-Kommunikation auch von völlig unbescholtenen Bürgern mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. In meinen Augen ist diese Diskussion Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit, insbesondere in der großen Koalition aufseiten der Union. Ich glaube, dass eine anlassbezogene Vorratsdatenspeicherung, das, was der Herr vom Anwaltsverein eben formulierte, das ist, womit man arbeiten kann, womit auch schon gearbeitet wird. Nur, eine flächendeckende, massenhafte Überwachung aller unbescholtenen Bürgerinnen und Bürger, das lässt das Grundgesetz einfach nicht zu.
"Jeder Mensch hat ein Recht auf eine geschützte Privatsphäre"
Armbrüster: Das heißt, Sie widersprechen dem deutschen Innenminister, Thomas de Maizière, wenn er sagt, die Vorratsdatenspeicherung sei dringend geboten im Interesse der Sicherheit der Bürger?
Graf Lambsdorff: Er mag das so sehen, und die Innenminister der Länder haben eine ähnliche Auffassung, nur, dann müssen sie sich an Karlsruhe wenden. Es ist, war immer Sicht der FDP, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat das in der Vergangenheit immer wieder gesagt, anlassbezogen, wenn es einen Verdacht gibt, auch einen niedrigschwelligen Verdacht, selbstverständlich kann überwacht werden. Aber das Bundesverfassungsgericht hat Thomas de Maizière ja widersprochen und gesagt, Nein, eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung, das ist verfassungswidrig.
Armbrüster: Wenn wir Karlsruhe mal ganz kurz beiseite lassen, ich glaube, das verstehen viele Leute jetzt nicht – was ist denn eigentlich so schlimm daran, wenn man nachträglich verfolgen kann oder könnte, mit wem diese Terroristen in den vergangenen sechs Monaten alles telefoniert haben?
Graf Lambsdorff: Nun, bei der anlassbezogenen Speicherung ist das überhaupt kein Problem. Wir wissen ja, wer die Gefährder sind, welche Menschen nach Jemen, nach Syrien, in den Libanon gereist sind, um sich ausbilden zu lassen in Lagern. Die können selbstverständlich überwacht werden. Bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung, das ist vielleicht für die Hörerinnen und Hörer wichtig, geht es aber nicht nur darum. Da geht es darum, dass jede Handy-Unterhaltung von jedem Menschen in Deutschland immer abgespeichert wird und monatelang auf Computern festgehalten wird, auf die dann die Behörden zugreifen können. Das Grundgesetz sieht aber vor, dass jeder Mensch ein Recht auf eine geschützte Privatsphäre hat. In diese Privatsphäre darf der Staat nicht ohne Weiteres eindringen, nicht ohne einen Anfangsverdacht, und das hat das Bundesverfassungsgericht ganz klar festgestellt. Insofern, wie gesagt, das ist eine Diskussion, die ist aus der Hilflosigkeit geboren, aber es ist keine zielführende Diskussion.
"Es geht um die bestmögliche Bekämpfung des Terrorismus"
Armbrüster: Aber wenn so ein Dschihadist vorher nicht auffällig geworden ist und nicht auf dem Radar der Ermittler oder der Behörden erschienen ist, dann wäre eine solche anlasslose Vorratsdatenspeicherung ja durchaus hilfreich.
Graf Lambsdorff: Nun, die Wahrscheinlichkeit ist aber sehr gering. Das Dschihadisten in keiner Weise den Behörden in irgendeiner Form auffallen, das ist sehr unwahrscheinlich. Ich komme aus Bonn. Dort gab es einen Anschlagversuch. Bonn ist auch eine Stadt, die Probleme hat mit Salafisten. Die Leute sind dort einschlägig bekannt bei der Polizei, bei den Sicherheitsbehörden. Das gilt für viele andere Städte in Deutschland auch. Ich glaube, dass insofern das Risiko hier eines ist, mit dem eine offene Gesellschaft leben muss. Das ist Sicht des Bundesverfassungsgerichts, es ist auch Sicht der Liberalen. Ich glaube, dass diese Sicht auch mit unserem Grundgesetz wirklich diejenige ist, die am besten vereinbar ist.
Armbrüster: Wenn Sie sich jetzt diese Diskussion in den vergangenen Tagen vor Augen führen – sind das insgesamt schlechte Zeiten für Datenschützer und für Bürgerrechtler?
Graf Lambsdorff: Wir hatten die Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung, und ich will hier eines deutlich sagen: Wer gegen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist, der ist ja nicht dagegen, dass man Terrorismus entschlossen bekämpft. Es hat auch nichts mit der Frage zu tun, ob das eine liberale Überzeugung ist. Der Premierminister Belgiens ist Liberaler und hat gerade in Verviers eine große Antiterroroperation befohlen. Also mit anderen Worten, es geht hier um die bestmögliche Bekämpfung des Terrorismus, einer terroristischen Gefahr und von Gefährdern auf dem Gebiet der Europäischen Union. Das ist in meinen Augen das, was jetzt hier zählt. Ob es schlechte Zeiten für Datenschützer sind, ist eine andere Frage. Ich glaube, die entscheidende Frage ist wirklich, wie verbessern wir die Sicherheit in Deutschland, in Europa, in einer Art und Weise, die nicht die Privatsphäre unzulässig einschränkt, sodass das Bundesverfassungsgericht einschreiten würde?
Menschen, die keine Perspektive sehen
Armbrüster: Und Sie haben schon den Vorschlag von Matteo Renzi aufgegriffen, der einen europäischen Geheimdienst fordert. Mit so etwas könnte sich die FDP anfreunden?
Graf Lambsdorff: Definitiv. Wir haben ja in Brüssel bereits eine kleine Zelle, einen Geheimdienst, nennt sich "Intelligence Center", also Nachrichtendienstliches Zentrum. Dort aber kommen nur Informationen an, die so gefiltert sind, dass man im Grunde nichts damit anfangen kann. Ich glaube, der erste Schritt muss sein, dass man Kräfte zusammenzieht, die die Auswertung gemeinsam machen, die Auswertung von Erkenntnissen, die aus Syrien, aus dem Jemen, aus Libanon, aber auch aus einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zusammengetragen werden. Eine gemeinsame Auswertung, die erlaubt es dann unter Umständen, Verbindungen zu sehen, die man bei rein nationaler Auswertung eben nicht sieht. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung. In die Richtung denkt Matteo Renzi. Hier finde ich die Bundesregierung viel zu mutlos. Das wäre ein Schritt, mit dem die Sicherheit wirklich erhöht werden könnte.
Armbrüster: Herr Lambsdorff, wenn es um Dschihadisten und Terroristen bei uns in Europa geht, dann sehen wir in fast allen Ländern immer wieder die gleichen Bilder. Das sind junge Männer – eigentlich sind es immer Männer – aus Einwandererfamilien, meistens bereits in zweiter Generation, mit einem europäischen Pass, die an einem ganz bestimmten Punkt in der Jugend oder im jungen Erwachsenenalter auf einmal den militanten Islam für sich entdecken. Was läuft da falsch in Europa?
Graf Lambsdorff: Da laufen einige Dinge falsch, die mit der Gesellschaftspolitik vielleicht mehr zu tun haben als jetzt mit der Innen- und Rechtspolitik im engeren Sinne. Junge Menschen, das ist, glaube ich, universell so, suchen ab einem gewissen Alter nach Orientierung. Die allermeisten finden Orientierung durch Schule, Freunde, Beruf, vielleicht auch Religion. Bei einigen schlägt das ins Extreme um. Das sind insbesondere Menschen, die keine Zukunft sehen, die keine Perspektive sehen. "Der Spiegel" hat ja auf seinem Titel den Begriff des Verlierers heute gedruckt, einfach, um deutlich zu machen, das sind Menschen, die keine Orientierung haben und deswegen im radikalen Islam Halt suchen, ein geschlossenes Weltbild, ein geschlossenes System, das dann zur Radikalisierung führen kann. Das ist, glaube ich, das, was hier passiert.
"Eine Art Solidarisierung mit der Redaktion"
Armbrüster: Und haben wir das politisch nicht genügend auf der Agenda in Europa?
Graf Lambsdorff: Na ja, vielleicht haben wir es nicht genügend auf der Agenda gehabt. Es ist ja vielleicht kein Zufall, dass die Anschläge in Paris stattgefunden haben. Dort ist das, was ich gerade beschrieben habe, was die Perspektivlosigkeit angeht, besonders ausgeprägt. Wenn Sie sich die Banlieue um Paris vor Augen führen - dort gibt es gesamte Stadtviertel, die sind de facto abgehängt. Das haben wir in Deutschland in der ganz extremen Form nicht. Natürlich haben wir auch solche Probleme, aber in Frankreich ist das noch mal stärker ausgeprägt. In Belgien ähnlich, wenn auch nicht ganz so stark wie in Frankreich.
Armbrüster: Jetzt ist heute die deutsche Ausgabe von "Charlie Hebdo" erschienen. Wir haben gehört, dass sie an den meisten Zeitungsständen bereits ausverkauft ist. Ist das ein Grund zum Feiern?
Graf Lambsdorff: Nein, die ganze Situation ist kein Grund zum Feiern, Herr Armbrüster. Wir haben einen schrecklichen Anschlag erlebt, wir haben 17 Tote zu beklagen. Das ist nichts zum Feiern. Ich glaube, dass die Menschen, die sich heute "Charlie Hebdo" gekauft haben, die wenigen, denen das gelungen ist, das als eine Art Solidarisierung verstehen mit der Redaktion, die ja das Heft weiter herausgeben will. Und das ist ein Heft, das darf man nicht vergessen, das ja aneckt, das keineswegs durchgehend populär ist. Ich glaube, das ist ein starkes Zeichen für die Pressefreiheit. Jeder, der sich dieses Heft heute geholt hat, setzt damit ein Zeichen für die Pressefreiheit.
Armbrüster: Alexander Graf Lambsdorff von der FDP, Vizepräsident im Europaparlament. Vielen Dank, Graf Lambsdorff, dass Sie sich die Zeit genommen haben heute Mittag.
Graf Lambsdorff: Danke Ihnen!
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