Eine junge Frau bringt sich um, kurz nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wird. Im Juli 2014 war sie als "Notfall" ins Klinikum Bremen Ost, KBO, aufgenommen worden. Sie sei "lebensüberdrüssig", steht auf der Einweisung für Station 5c, wo sie zu diesem Zeitpunkt aber gar keine Fachärztin Dienst hat. Eine Psychologin ohne medizinische Ausbildung übernimmt die Behandlung.
Vier Wochen muss die Patientin in der Klinik bleiben, dann wird sie entlassen. Vier Stunden später erhängt sich die junge Studentin. Ein Fall, der die Psychiatriekritiker, die es in Bremen schon lange gibt, lauter werden lässt. Einer davon ist Jürgen Busch.
"Bremen geriert sich seitdem als Reformland aber in der Praxis ist davon sehr wenig zu sehen."
Bremen hatte lange eine Vorreiterrolle inne
Für die Mutter der jungen Studentin ist es ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Sie wirft den Ärzten eine falsche Behandlung vor. Ihre Tochter wurden suizidale Ideen bescheinigt. Aber die Ärzte hätten die falschen Medikamente verabreicht, anstatt die Tochter angemessen zu betreuen. Kein Einzelfall - und das ausgerechnet in Bremen – dem Bundesland, das lange Zeit Vorreiter in der sozialpsychiatrischen Betreuung war, als Vorbild und Inspiration für Ärzte, Pflegekräfte und Betroffeneninitiativen gleichermaßen.
Die "Psychiatrie 2.0" schien der große Wurf zu werden und endlich Schluss zu machen mit dem Spuk der Verwahrhäuser – ein Reformvorhaben, das in den 1970er-Jahren mit der Psychiatrie-Enquete begann und schließlich 2013 zu einem einstimmigen Beschluss des Bremer Landesparlaments führte, zur "Weiterentwicklung der Psychiatriereform in Bremen".
"Es gibt in Bremen die Idee, es soll über alle ambulanten Situationen und alle stationären Situationen, die man als psychisch Kranker erlebt, möglichst über viele Jahre eine einzige Bezugsperson geben, mit der man immer in Verbindung bleibt, das steht schon im gemeinsamen Bürgerschaftsbeschluss von 2013 drin - davon sind wir weit entfernt."
Personalmangel in Krankenhäusern
Das Gegenteil scheint der Fall. Es fehlt Personal im Krankenhaus sagt Jürgen Busch.
"Wenn man zum Personal hingeht, so war es zu meiner Zeit, dann wird einem klipp und klar gesagt, Herr Busch, wir haben keine Zeit uns mit ihnen zu unterhalten, wir sind zu wenige hier, sie müssen selber versuchen klarzukommen. So geht das in Bremen auf einer AKUT-Station zu."
Er ist nicht der Einzige, der das bemängelt. Das bestätigt auch die Klinikleitung. 25 Stellen sind unbesetzt. Die psychiatrische Station, in der die Kranken behandelt werden, sei baulich ungeeignet, weiß der Chefarzt. Zu eng, zu dunkel, zu grau. Die Patienten, so der Vorwurf, würden hier nur verwahrt, nicht therapiert.
Missstände zweifelt niemand an
Im ambulanten Bereich wurden die nächtlichen Krisenhilfen abgeschafft, die angestrebte Vernetzung der Hilfen vor Ort mit den Krankenhäusern, hat es nicht vom Papier in die Praxis geschafft. Die Missstände zweifelt keiner mehr an – auch die Klinik selbst gibt sich einsichtig. Das Argument allerdings, Bremen habe als sogenanntes Haushaltsnotlageland kein Geld und müssen sparen. Das gilt für den Anwalt und Patienten Jürgen Busch aber nicht.
"Bremen müsste Geld haben, weil das, worüber wir reden, ist nicht zusätzliche Versorgung, die disponibel wäre, sondern es ist Pflichtversorgung. Bremen, wie arm auch immer es ist, muss diese Dinge machen."
Über 100 Beschwerden sind allein bei dem Patientenfürsprecher des Klinikums, Detlef Tintelott, eingegangen. Denen ist er nachgegangen – ehrenamtlich.
"Das Schlimmste finde ich sind Zwangsmedikation, Ausgangssperre, Fixierung. Fixierung, das heißt, ans Bett gefesselt auf dem Rücken über längere Zeit, manchmal Tage, dass man sich nicht bewegen kann."
"Medikamente und Zwangsmaßnahmen können therapiebegleitend sein, wenn es so sein muss, aber eine wirkliche Therapie ist ja, mit den Menschen zu arbeiten und sie auch wieder so weit zu bringen, dass sie auch am Alltagsleben wieder teilnehmen können."
Hohe Dunkelziffer
Die Dunkelziffer ist weitaus größer. Und seit Jahren häufen sich die Beschwerden. Weil es keine offizielle Stelle gibt, die die Missstände sammelt und einen Überblick hat, haben die beiden Patientenfürsprecher Detlef Tintelott und Gerlinde Tobias jetzt die Missstände öffentlich gemacht – seitdem herrscht große Aufregung – auch in der Politik.
"Wenn der Eindruck entsteht, dass an irgendeiner Stelle der Reformgeist erloschen ist, dann haben wir versagt als Politik und nicht genügend Druck gemacht, dass etwas passiert."
Es scheint, als haben die Psychiatriekritiker Gehör gefunden. Jürgen Busch bezweifelt das. Er ist zu lange selber im System.
"Wir haben im Moment Gehör gefunden, weil die Politik schlechte Schlagzeilen nicht mag. Ich bin überhaupt nicht sicher, dass wir in den Gehirnen der Menschen und den Seelen Gehör gefunden haben, das wird sich herausstellen."