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Vorwürfe gegen Dirigenten
Kurt Masur und seine Beziehung zum System DDR

Fast 30 Jahre war Kurt Masur Kapellmeister beim Gewandhausorchester in Leipzig - auch zur Zeit der DDR. Der 2015 verstorbene Dirigent war zwar weder Mitglied der SED noch inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit, doch wirft ein Leipziger ihm mehrere Verfehlungen vor.

Von Claus Fischer |
    Kurt Masur als Musikalischer Direktor der New Yorker Philharmonie im Oktober 2001 im Leipziger Gewandhaus.
    Neben dem Gewandhausorchester war Kurt Masur auch Chefdirigent bei den New Yorker Philharmoniker und Musikdirektor beim London Philharmonic Orchestra (picture alliance / dpa / Wolfgang Kluge)
    "Kurt Masur war ein gut an die SED-Diktatur angepasster Opportunist", sagt Roland Mey, Ingenieur im Ruhestand.
    In seiner Zeit als Mitglied des Leipziger Stadtrates in den 1990er-Jahren begann er, sich mit der Vita des Dirigenten zu beschäftigen. Als dieser wenige Monate vor seinem Tod im MDR Fernsehen sagte, Zitat: "Ich habe immer so gehandelt, dass ich mich nicht schämen musste" platzte Roland Mey der Kragen. So veröffentlichte er seine Erkenntnisse in Form von Aufsätzen und einer Broschüre unter dem Titel "Kurt Masur entzaubert". Mehrere Verfehlungen wirft er dem Dirigenten vor.
    So habe Masur sich im Jahr 1970 an einer Ehrenwache für den verstorbenen Leipziger SED-Politiker Paul Fröhlich beteiligt, jenem Paul Fröhlich, der zwei Jahre zuvor die Sprengung der intakten Leipziger Universitätskirche zu verantworten hatte. Masur war damals, so Roland Mey, designierter Gewandhauskapellmeister, aber noch nicht im Amt.
    "Bei dieser Karriere, die er vorhatte, hätte er sich dem nicht entziehen können", sagt der Hobbyforscher.
    Das meint auch der Leiter des Leipziger Gewandhausarchivs Claudius Böhm, der sich allerdings nicht sicher ist, ob die Behauptung von Roland Mey wirklich stimmt. So urteilt er nicht so hart über Masur und verweist auf mögliche Hintergründe. Masur hatte - acht Jahre zuvor - nach einem Zerwürfnis mit dem Intendanten Walter Felsenstein die Komische Oper in Berlin verlassen und war zumindest teilweise bei den Kulturfunktionären in Ungnade gefallen.
    Gewandhauskapellmeister in der DDR
    "Er hatte, nachdem er an der Komischen Oper weggegangen ist, ja fast, kann man sagen, eine Art Berufsverbot, er wurde geschnitten von der Künstleragentur der DDR, ihm wurden nur wenige Gastdirigate angeboten. Das müsste man alles mit betrachten. Und dann kommt man vielleicht zu einer Erklärung, warum er – wenn es denn wirklich der Fall gewesen sein sollte – an dieser Ehrenwache teilgenommen hat."
    "Ich denke, das sollten Historiker beurteilen", meint Skadi Jennicke, Kulturdezernentin im Leipziger Rathaus.
    "Kurt Masur war in hoher Verantwortung als Gewandhauskapellmeister in der DDR. Und insofern hatte er immer mit der Macht zu tun. Und es gab ganz sicher Situationen, wo er sich den Anforderungen, die an so eine Führungsposition gestellt wurden, nicht entziehen konnte. Das trifft auf ganz viele Führungspersönlichkeiten in der DDR zu, die dennoch in ihrem Bereich sehr viel Gutes und über die DDR weit hinaus Strahlendes geleistet haben. Natürlich gehört es dazu, dass es auch Dinge gibt, die kritisch zu hinterfragen sind und zu reflektieren sind, aber dem verschließen wir uns nicht."
    Roland Mey kritisiert in jedem Fall, dass die Stadt Leipzig inzwischen den Platz hinter dem Gewandhaus nach Kurt Masur benannt hat. Bei seinen Recherchen stieß der Hobbyforscher nämlich in der Stasi-Unterlagenbehörde auf einen Wahlzettel, erstellt für die Kommunalwahl im Frühjahr 1989. Unter den Kandidaten für die sogenannte "Nationale Front" findet sich Masurs Name. Roland Mey ist überzeugt:
    "Am 7. Mai 1989 hätte er sich dem entziehen können! Die Leipziger Stadtverordnetenversammlung war ein viel zu niederes Parlament, Masur hatte da schon wesentlich größere Einflussmöglichkeiten."
    Forschuungsbedarf vorhanden
    Doch vielleicht – vermutet Gewandhausarchivar Claudius Böhm – wollte der Maestro konkret Einfluss nehmen auf die Baupolitik der Stadt.
    "Man muss sich erinnern, dass gerade zu dieser Zeit sein Engagement, sowohl für das Mendelssohn-Haus in Leipzig, als auch für das Schumann-Haus in Leipzig, die sich beide in erbarmungswürdigem Zustand befanden, sich in zunehmendem Masse darauf ausrichtete, diese beiden Häuser zu retten. Das wäre alles zu prüfen!"
    Dass hier Forschungsbedarf besteht, stellt auch Leipzigs Kulturdezernentin Skadi Jennicke keinesfalls in Abrede. Der müsste aber schon bei dem von Roland Mey als Beweisstück angeführten Wahlzettel ansetzen.
    "In den Listen, die in der damaligen Leipziger Volkszeitung veröffentlicht wurden, wo offiziell die Stadtratskandidaten bekannt gegeben wurden, fehlt der Name Kurt Masur. Es ist also gut möglich, dass er in einer Vorbereitungsphase erwogen hat, zu kandidieren. Ob er es tatsächlich gemacht hat – meine Hinweise, die ich habe, sprechen nicht dafür, aber auch das würde ich gerne der Beurteilung durch ausgewiesene Historiker überlassen."
    Masurs Name auf der Hülle einer DDR-"Solidaritätsschallplatte" für Vietnam
    Das dritte Indiz, das Hobbyforscher Roland Mey für seine, wie er sie nennt, "Entzauberung" von Kurt Masur anführt, ist eine sogenannte Solidaritäts-Langspielplatte für die Opfer des Vietnamkriegs, auf der sich die Unterschrift des Dirigenten findet.
    "Für die Opfer des Vietnamkrieges sich mit einem Beitrag zur Verfügung zu stellen, das finde ich jetzt rein menschlich und moralisch erstmal nicht verwerflich", sagt Skadi Jennicke. Roland Mey verweist aber darauf, dass Masurs Name direkt unter einem Text auftaucht, der den Zitat "imperialistischen Aggressor USA" verurteilt.
    "Wenn das die US-Amerikaner 1990 alles gewusst hätten, dann wäre Kurt Masur mit großer Wahrscheinlichkeit in New York nicht der Nachfolger von Arturo Toscanini und Leonard Bernstein geworden."
    "Kurt Masur war mit Sicherheit kein Bürgerrechtler, er war mit Sicherheit kein Oppositioneller", sagt Claudius Böhm. "Er ist erst mit den Wendeereignissen von 1989 in die Rolle hineingewachsen, wie sie wahrscheinlich die meisten heute noch in Erinnerung haben."
    Kurt Masur war weder Mitglied der SED noch inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit
    Dennoch würde der Gewandhaus-Archivleiter nicht so weit gehen, wie Roland Mey es tut, den Dirigenten als angepassten Opportunisten zu bezeichnen, zumindest so lange die historische Forschung nicht schwerwiegendere Beweise zutage fördert. Was man definitiv sagen kann: Kurt Masur war weder Mitglied der SED noch inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Hier stellt sich die Frage, ob er moralische Grenzen überschritten hat. Claudius Böhm bringt in diesem Zusammenhang ein Statement des 2006 verstorbenen DDR-Auslandsgeheimdienstchefs Markus Wolf ins Spiel.
    "Der unterstellt, Kurt Masur hätte beste Beziehungen zu den Organen der Staatssicherheit in Leipzig gehabt. Und durch diese Beziehungen sei er eben in diese Rolle 1989 geraten. Auch das ist eine Aussage, noch dazu von einem sehr zweifelhaften Zeitgenossen, die man prüfen müsste."
    Masurs Biografie und der Autounfall
    Wenn diese Behauptung wahr wäre, dann hätte Claudius Böhm eine Erklärung. Sie findet sich in der Biografie des Dirigenten, die dessen Freund Johannes Forner verfasst hat. Darin wird Masurs Autounfall im Jahr 1972 erwähnt. Bei der Kollision kamen seine zweite Frau und zwei weitere Personen ums Leben. Merkwürdigerweise kam es nie zu einem Gerichtsverfahren, bei dem die Schuld Masurs festgestellt bzw. nicht festgestellt wurde. Es ist möglich, dass die Stasi ein Verfahren verhindert hat.
    "Die Frage, ob er durch diese Ereignisse in irgendeiner Weise abhängig geworden ist, die müsste auch geklärt werden."
    Es besteht also unbedingt Forschungsbedarf, was die Person Kurt Masur und ihre Beziehung zum System DDR betrifft. Die Indizien, die Hobbyforscher Roland Mey anführt, seien allerdings keinesfalls ausreichend, um den Dirigenten zu "entzaubern", betonen Claudius Böhm vom Gewandhaus und Leipzigs Kulturdezernentin Skadi Jennicke unisono. Dass weiteres, womöglich schwerwiegender belastendes Material auftauchen könnte, schließen sie allerdings nicht aus.
    "Herr Mey soll gerne forschen! Es ist ja auch eine Aufgabe: Jede Institution, die im Zusammenhang mit einer staatlichen Macht steht, gehört im Rückblick historisch aufgearbeitet, das gilt fürs Gewandhaus, wie es für alle anderen Institutionen auch gilt!"