Im Bistum Hildesheim wurde am Dienstag (14.09.) eine externe Studie zu sexualisierter Gewalt während der Amtszeit (1957 bis 1982) von Bischof Heinrich Maria Janssen vorgestellt. Der amtierende Bischof Heiner Wilmer sowie Jens Windel von einer Betroffeneninitiative nahmen den Abschlussbericht einer Kommission um die frühere niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz in Hildesheim entgegen. Auftraggeber ist das Bistum selbst.
Die Vorwürfe gegen Janssen gibt es seit 2015. Es ist der erste Fall in Deutschland, dass konkrete Vorwürfe sexualisierter Gewalt durch einen Bischof im Raum stehen. In bisherigen Untersuchungen ging es meist um den Verdacht, kirchliche Würdenträger könnten Missbrauchsfälle vertuscht haben. Auch das war ausführlich Thema bei der Vorstellung der gut zweijährigen Untersuchung. Der jetzt vorgelegte zweibändige Bericht enthält Schwärzungen - zum Schutz der Betroffenen, erklärte die Obfrau der Untersuchungskommission Antje Niewisch-Lennartz.
- Was sind die Vorwürfe gegenüber Bischof Janssen?
- Was war bereits bekannt?
- Was sind die neuen Erkenntnisse?
- Gab es ein Netzwerk von Missbrauchstätern im Bistum Hildesheim?
- Gab es systematische Vertuschung von Missbrauch im Bistum Hildesheim?
- Wie reagieren der amtierende Bischof und die Betroffeneninitiative?
- Welche Folgen kann die Studie haben?
Heinrich Maria Janssen war von 1957 bis 1982 Bischof der Diözese Hildesheim, er starb 1988. 2015 und 2018 wurden zwei Vorwürfe gegen Janssen bekannt. Im einen Fall soll Janssen einen Messdiener zwischen 1958 und 1963 regelmäßig missbraucht haben. Eine Untersuchung bestätigte oder widerlegte den Verdacht gegen Janssen nicht, das Bistum zahlte dem mutmaßlichen Opfer eine Summe zur Anerkennung des Leids.
Ein weiteres mutmaßliches Opfer schilderte 2018 seine Erlebnisse im Kinderheim Ende der 1950er-Jahre: Er sei er zum Bischof gebracht worden, habe sich nackt ausziehen müssen und sei weggeschickt worden mit den Worten: "Ich kann dich nicht gebrauchen." Der Mann gab an, der Leiter des Kindersheims habe ihn damals zum Bischof gebracht, zudem schilderte er weitere Missbrauchstaten durch Lehrer und Geistliche in den früheren Kinderheimen Bernwardshof und Johannishof.
Nachdem der zweite Vorwurf bekannt geworden war, gab der amtierende Bischof Heiner Wilmer 2019 die nun vorliegende Untersuchung in Auftrag.
Es geht in der aktuellen Untersuchung nicht nur um Vorwürfe gegen Heinrich Maria Janssen. Die Kommission fand Hinweise auf insgesamt 71 Tatverdächtige über die Jahrzehnte hinweg.
Nach den Vorwürfen von 2015 gab es bereits 2017 einen Bericht des (auch 2021 beteiligten) Münchner Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP). Er wies unter anderem dem Priester Peter R. sexualisierte Gewalt in elf Fällen nach, zwischen 1989 und 1997.
Die Experten attestierten dem Bistum in diesem Fall ein "Muster des Wegschauens" über Jahrzehnte. Priester seien immer wieder in andere Gemeinden versetzt worden, ohne diese über die Hintergründe zu informieren. Dem inzwischen entlassenen Peter R. wurden bereits Missbrauchstaten in den 1970er- und 1980er-Jahren am Berliner Canisius-Kolleg nachgewiesen.
Die Kommission fand insgesamt zehn Fälle, die der Öffentlichkeit bislang nicht bekannt waren. Ins Detail gingen die Autorinnen und Autoren bei der Vorstellung ihres Berichts nicht. Wegen schlechter Aktenlage und des Schweigens vieler Betroffener sei Dunkelziffer der Betroffenen nicht annähernd zu bestimmen. Die Kommission identifizierte insgesamt 71 Tatverdächtige, 51 in Bischof Janssens Amtszeit zwischen 1957 und 1982, davon 45 Kleriker. Dreizehn davon seien bislang nicht bekannt gewesen. Beschuldigt wurden in Befragungen mit mutmaßlichen Betroffenen und Zeitzeugen Kleriker, weltliches Personal, Ordensangehörige und andere Jugendliche.
Janssen dürfe "als Täter hinter den Tätern gelten", schreibt Christiane Florin, Redaktionsleiterin Religion und Gesellschaft beim Dlf, in ihrem Kommentar zur Veröffentlichung des Berichts. "Er ignorierte die Opfer, stellte sich über jedes Recht. Er handelte so, weil er es wollte – und weil er es konnte. Niemand schränkte seine Macht ein."
Zu den Missbrauchsvorwürfen gegen den damaligen Bischof Janssen selbst sagte die Obfrau Niewisch-Lennartz bei der Vorstellung des Berichts: "Wir haben keine weiteren Belastungen entdeckt, allerdings auch keine neuen Entlastungaspekte." Sozialforscher Peter Caspari vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung fügte später hinzu, die Hinweise 2015 und 2018 erschienen den Experten "nach wie vor plausibel". Personen, die Aufkunft hätten geben können, seien "zum größeren Teil inzwischen verstorben", andere hätten nicht über die Vorwürfe sprechen können oder wollen so Caspari. "Diese Studie wurde um einige Jahrzehnte zu spät in Auftrag gegeben."
Kritik gab es auch an der Akten- und Archivlage. Heutige Archivmitarbeiter des Bistums hatten nach dem Bekunden der Kommission vollumfänglich kooperiert. Doch damals sei "unentschuldbar schlampig" gerarbeitet oder gar vorsätzlich manipuliert worden, sagte Kurt Schrimm, früher Oberstaatsanwalt in Stuttgart und später 15 Jahre lang Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Bischof Wilmer räumte ein, Personalakten seien damals unprofessionell geführt worden.
Teil der Studie war auch eine Befragung unter mehr als 4.000 aktuellen und ehemaligen Beschäftigten von Bistum und Caritas. Davon gaben 8,4 Prozent an, sie seien in Kindheit oder Jugend mit sexuellem Missbrauch konfrontiert gewesen, entweder als Betroffene, direkte Zeugen oder durch glaubhafte Schilderungen anderer. Forscher Florian Straus vom IPP hebt besonders hervor, dass solche Erfahrungen kein Relikt vergangener Jahrzehnte seien. 40 Prozent der geschilderten Fälle kämen aus der Zeit nach 2010. Allerdings war sich eine große Mehrheit der Befragten einig, dass sich unter Bischof Wilmer ein Kulturwandel vollzogen habe.
Die Hildesheimer Studie zeigt insgesamt eine Unzufriedenheit mit der Kirche: Mehr als die Hälfte der Befragten sehen laut den Ergebnissen der Autoren weiterhin autoritäre Strukturen, die das Diskussionsklima beeinträchtigen. Zugleich zeigen sie einen deutlichen Ideenwandel: Rund zwei Drittel glauben, Frauen sollten Zugang zum Priesteramt bekommen und die katholische Sexualmoral müsse sich dringend wandeln. Über die Hälfte der Befragten ist gegen eine Aufrechterhaltung des Pflichtzölibats.
Über 90 Prozent der Befragten in Hildesheim halten Bischof Wilmers Aufarbeitungskurs auch in Zukunft für notwendig.
Die Video-Pressekonferenz des Bistums
Der amtierende Bischof Heiner Wilmer hatte 2018 nach Bekanntwerden neuerlicher Vorwürfe gesagt: "Es liegt nahe, dass eine solche mögliche Tat eng mit den seinerzeitigen diözesanen Strukturen in Zusammenhang stand, insbesondere mit den Bedingungen in den katholischen Kinder- und Jugendheimen in Hildesheim." Der Auftrag vom Bistum lautete explizit, auch nach möglichen Täternetzwerken zu suchen. Könnte es ein Netzwerk von Klerikern gegeben haben, dass sich Heimkinder zuführen ließ, um ihnen sexualisierte Gewalt anzutun?
Die Untersuchung von 2021 konnte keine konkreten Anhaltspunkte für ein solches Täternetzwerk finden. Allerdings habe es eines solchen auch gar nicht bedurft, sagte Obfrau Niewisch-Lennartz bei der Vorstellung der zweibändigen Studie. Pädosexuelle Täterinnen und Täter hatten demnach immer und überall Zugang zu Kindern, der Schutz durch Schweigen sei fast perfekt gewesen, alles sei geeignet zum sexuellen Missbrauch gewesen.
Ja, sagen die Experten. Bischof Janssen protegierte demnach Priester, die sich sexueller Übergriffe schuldig machten. An Aufklärung oder gar Schutz der jungen Menschen habe ihm nichts gelesen, erklärte Peter Caspari vom Münchner IPP. Bischof Janssen und sein Bistum hätten nie Verantwortung übernommen, was in den Gemeinden passierte. Insbesondere im Kinderheim Bernwardshofhätten sich so Missbrauchstaten häufen können, aber im Grunde sei die ganze Gemeinde ein "Risikoort" gewesen.
Die Autorinnen und Autorenzeigen typische Muster wie die Praxis der Versetzung auf. Wie im weiter oben beschriebenen Fall Peter R. wurden übergriffige Priester in andere Gemeinden, andere Diözesen oder - falls Strafverfolgungsbehörden sich einschalteten - nach Lateinamerika versetzt. Obfrau Antje Niewisch-Lennartz zitierte aus einem entsprechenden Briefwechsel. Identität und Gründe der Versetzung bleiben darin wohlweislich unerwähnt, mit der expliziten Begründung, dass der Briefempfänger auf Nachfragen dann nicht antworten kann.
Für einen Priester etwa, der Minderjährige zum Oralsex gezwungen hatte und dafür 1967 zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, organisierte der Bischofs eine Versetzung in eine Gegend, "wo das Gericht ansprechbar sei" für Kirchliches, wie Janssen sich ausdrückte.
All dies habe langjährige Täterkarrieren begünstigt statt sie zu stoppen, so Caspari.
Beide kannten die Ergebnisse bereits vor der Veröffentlichung und konnten sich darauf vorbereiten. Jens Windel klagte als Betroffener und Vertreter der Betroffeneninitiative im Bistum die perfide Grausamkeit der Täter und die Gleichgültigkeit der Kirche an. Er forderte eine Aufarbeitung aller Fälle bis in die Gegenwart, "wie es in einem Rechtsstaat üblich ist". Eine Anerkennung des Leids, die nicht die Schwere der Tat anerkenne, sei eine Bagatellisierung des Verbrechens.
Bischof Heiner Wilmer sagte, der Bericht konfrontiere mit einem Systemversagen der Kirche. Diese Missbrauchstaten hätten das Evangelium Jesu Christi verraten. Sie hätten den jungen Betroffenen unausgesprochen vermittelt: "'Ich habe alle Gewalt über dich, ich kann mit dir machen, was ich will, dir glaubt sowieso niemand. Du hast keinen Wert.' Das finde ich teuflisch."
Obfrau Antje Niewisch-Lennartz gab vier Handlungsempfehlungen:
- Die Heimeinrichtungen unbedingt gesondert zu untersuchen - die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner ausfindig zu machen und zu kontaktieren, sei im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich gewesen.
- Die Betroffeneninitiative finanziell und organisatorisch unterstützen.
- Das bischöfliche Archiv personell zu stärken, damit es den Aufwand einer Aufarbeitung bewältigen könne.
- Eine Vereinbarung auf Ebene der Bischofskonferenz anzustreben, dass Gutachter Zugang zu allen Archiven beteiligter Diözesen bekommen.
Bischof Wilmer kündigte an, den Bericht mit den Empfehlungen "studieren und auswerten" zu wollen und skizzierte erste Konsequenzen aus seiner Sicht:
- "Wir müssen sicherstellen, dass Menschen in unserem Bistum kein Leid zugefügt wird." Alle kirchlichen Einrichtungen müssten sicher sein, dafür brauche es Schutzkonzepte und Qualitätsstandards.
- Als Lehre aus der unvollständigen Personalaktenführung der Vergangenheit brauche es auch Qualitätsstandards für Personalakten.
- Die Kirche komme an einer umfassenden Reform ihrer Sexuallehre nicht vorbei. Teil des damaligen Schweigens sei eine "leibfeindliche Sexualerziehung", die keine Worte für das erfahrene Unrecht habe.
- Die Öffentlichkeit solle in aller Transparenz informiert werden.
Strukturelle Problematik bleibt
"Hildesheims amtierender Bischof Heiner Wilmer hat eine umfassende Untersuchung ermöglicht, keine rein juristische", lobt Dlf-Religionsredakteurin Christiane Florin, weist aber auf die Fallstricke solcher Studien von Bischofs Gnaden hin. "Er hätte das auch lassen können. Bischöfe sind noch immer mächtige Personen, sie können den Untersuchungs-Auftrag so zuschneiden, dass mal nur Vorschläge für bessere Aktenführung und mal grundstürzende Ideen herauskommen."
In der Welt der Transzendenz zähle die Evidenz von Studien wenig, kommentiert Christiane Florin aus der Dlf-Redaktion Religion und Gesellschaft. Schneller als die Kirchenfestung selbst ließe sich das Verhältnis ändern, dass der Staat zu ihr einnimmt, so Florin. Doch bislang fordere keine Partei hier einen Systemwechsel.
(Quelle: Christiane Florin, Bastian Brandau, dpa, fmay)