Archiv

Vorwürfe gegen Julian Reichelt
Zwischen Schadenfreude und Unschuldsvermutung

Gegen den Chefredakteur der "Bild", Julian Reichelt, ist eine interne Untersuchung eingeleitet worden. Es geht unter anderem um Vorwürfe des Mobbings und Drogenmissbrauchs. Ein Verfahren mit großer Tragweite und viel medialer Aufmerksamkeit - was die Untersuchung der Vorfälle erschweren könnte.

Von Michael Borgers |
Julian Reichelt, Vorsitzender der "Bild"-Chefredaktion, auf einem Kongress
Julian Reichelt, Vorsitzender der "Bild"-Chefredaktion (picture alliance/Roland Weihrauch/dpa)
Eigentlich geht es im "ZDF Magazin Royale" um die Rolle des Profifußballs in der Pandemie. Viel Neues zu dem Thema präsentiert Moderator Jan Böhmermann nicht, bis er das hier sagt:
"Zur Rolle der 'Bild' bei der Bundesligarettung haben wir viele Fragen gestellt, an ihn hier: Graf Koks von der Gasanstalt, 'Bild'-Chefoligarch Julian Reichelt, der Wladimir Putin des deutschen Profifußballs. Es kam aber merkwürdigerweise keine Antwort. Vielleicht hat er gerade keine Zeit, weil er so viele andere Fragen beantworten muss in einem umfangreichen Compliance-Verfahren? Wer weiß?"

Interne Ermittlungen gegen 'Bild'-Chef

Eine Frage, die Böhmermann selbst dann nicht beantwortet. Auch andere greifen das Thema auf, ohne konkret zu werden, so wie Friedrich Küppersbusch in seinem eigenen Youtube-Kanal:
"Neulich fragte mich ein Kollege von der 'Bild'-Zeitung: 'Warum machst Du das?' Und ich sag: 'Hey, für sexuelle Übergriffe bin ich zu alt'", sagt der Moderator und TV-Produzent - und tut so, als würde er Kokain durch die Nase konsumieren.
"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt macht ein Selfie mit Joshua Wong, Demokratie-Aktivist der Proteste in Hongkong, bei dessen Eintreffen zur Bild100-Party mit Persönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft und Sport.
Männerwelt ohne Selbstzweifel
Die Doku-Serie "Bild.Macht.Deutschland?" von Amazon bietet viele Einblicke in der Redaktionsalltag der "Bild"-Zeitung - an einer kritischen Einordnung des Mediums sind die Macher allerdings kaum interessiert.
Erst drei Tage danach, am späten Montagnachmittag, folgt die Auflösung der Andeutungen: "Interne Ermittlungen gegen 'Bild'-Chefredakteur Reichelt" titelt da der "Spiegel". Das Nachrichtenmagazin beruft sich auf eigene Quellen und schreibt:
"Rund ein halbes Dutzend Mitarbeiterinnen" hätten dem Axel-Springer-Verlag Vorfälle angezeigt. Die Angelegenheit würde inzwischen von der Kanzlei Freshfields überprüft. Bei den Vorwürfen gehe es unter anderem um Machtmissbrauch, die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen und in einzelnen Fällen um Nötigung und Mobbing.

Beschwerden mehrerer Mitarbeitenden

"Es geht um Kokain, es geht um Sex, es geht um Intimitäten, es geht um Emotionen - also es ist ein typisches boulevardeskes Thema", sagt die Medienjournalistin Ulrike Simon. Für das Branchenmagazin "Horizont" greift sie die Vorwürfe gegen Reichelt aber erst einen Tag nach dem "Spiegel"-Artikel auf, nachdem sie von einer internen Erklärung des Springer-Vorstands Mathias Döpfner an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfahren hat.
"Solange kein Ergebnis da ist, gilt - wie immer im Journalismus - eine öffentliche Unschuldsvermutung. Und zweitens eine zurückhaltende Berichterstattung, weshalb ich auch sehr irritiert bin über das Verhalten einiger Journalisten, insbesondere in den sozialen Medien."
Viele verachteten die "Bild" für die Arbeitsweise der Redaktion. Und aktuell werde diese Verachtung zurückgespiegelt - mit denselben Methoden, die der "Bild" vorgeworfen werden, beobachtet Simon:
"Und das ist für mich etwas, was ich in meinem Leben nicht verstehen werde. Wenn man etwas als dumm und menschenverachtend darstellen will, sollte man vielleicht klügere und weniger menschenverachtende Methoden ergreifen."

"So viel Transparenz wie möglich"

Vorstandschef Mathias Döpfner betont in dem Schreiben an die Belegschaft, man tue alles, "um zügig und zugleich sorgfältig aufzuklären". Chefredakteur Julian Reichelt bestreite die Vorwürfe. Man wolle "so viel Transparenz wie möglich", werde aber auch "keine Form der Vorverurteilung zulassen", so Döpfner.
Jörg Bielefeld weiß, wie sensibel solche Untersuchungen sein können. Der Jurist leitet den Bereich Wirtschaftsstrafrecht und Compliance einer renommierten Anwaltskanzlei und hat selbst schon vergleichbare Situationen in Unternehmen erlebt. Beim "Spiegel" und anderen Medien wundert sich Bielefeld aktuell über das Framing der Berichterstattung:
"Wenn ich auch lese: 'Compliance-Untersuchungen gegen ...' - dann sträubt sich mir als Compliance-Experten natürlich ein bisschen alles in mir, weil, was ist da das eigentlich Wichtige? Möglichst neutral ranzugehen und nicht zu sagen: 'gegen'."
Als Anwalt, der von außen kommt, müsse er versuchen, sich möglichst neutral ein Bild zu verschaffen. Besonders schwierig sei das bei Vorwürfen im zwischenmenschlichen Bereich: "Es verlieren da sehr schnell alle, wenn es nicht richtig gemacht wird."

Mediale Aufmerksamkeit beeinflusst Verfahren

Und noch schwieriger werde das, wenn öffentliche Aufmerksamkeit, wenn mediale Berichterstattung ins Spiel komme, unterstreicht Jörg Bielefeld: "Das beeinflusst natürlich massiv das alles in diesen konkreten Fällen beherrschende Thema der Reputation: Reputation der Menschen, die sich schlecht behandelt fühlen, natürlich aber auch derjenigen, die im Rampenlicht stehen."
Und es hat Einfluss darauf, ob Vorwürfe später auch möglicherweise strafrechtlich verfolgt werden, sagt der Compliance-Experte. Ist die öffentliche Aufmerksamkeit groß, würden ermittelte Verfehlungen später auch an Behörden weitergereicht.
Im Fall der internen Untersuchungen bei Springer ist die mediale Aufmerksamkeit nun garantiert. Laut Medienjournalistin Ulrike Simon läuft das Verfahren wohl schon einige Tage länger, ein Ergebnis könnte bereits im Laufe dieser Woche vorliegen.