Ich wurde gestern gefragt, zu wem ich bei dem Spiel der Portugiesen gegen Island halte. Meine Gegenfrage: Gibt es jemanden, der nicht zu Island hält? Der Underdog-Effekt ist durch Studien belegt. Die meisten Leute halten automatisch zur Mannschaft mit weniger Siegen, Chancen, Renommee. Wenn Island spielt, sind also die meisten auf der Seite der Nordeuropäer – außer vielleicht, sie spielen gegen Andorra.
Ein Sieg der Underdogs ist ja eher selten – und deshalb so wertvoll. Ein bisschen wie ein Sieg von Mainz 05 gegen die Bayern, ein Titelgewinn für Leicester City, oder ein gewonnener Tippspiel-Tag für mich (Letzteres bislang allerdings Konjunktiv irrealis).
Gefühlter Sieg der Geheimnisvollen
Nun war das Unentschieden gegen Portugal kein Sieg, aber gefühlt ein Triumph Islands, das wegen seiner Musik (Björk! Sigur Ros!), seiner Sprache, seiner Landschaft als so spannend wahrgenommen wird.
Diese Faszination spiegelte sich auch bei Twitter wider – es wurden einige bessere, einige schlechtere Wortwitze mit isländischen Namen gemacht.
Und die Statistik wurde strapaziert: Island hat rund 330.000 Einwohner, weniger also als einige deutsche Städte, die jetzt nicht unbedingt durch ihren besonderen urbanen Glanz bekannt sind.
Setzt man die Einwohnerzahl Islands nicht mit der reinen Population Portugals (zehn Millionen, gähn), sondern mit der Anzahl von Cristiano Ronaldos Twitter-Followern in Bezug, wird es geradezu absurd.
Die Portugiesen können einem fast schon leidtun, weil gegen Island niemand zu ihnen hielt – und mal wieder einige Witze auf Kosten ihres Superstars gemacht wurden, ich möchte mich da gar nicht ausnehmen.
Vermutlich werden die Portugiesen in den Matches gegen Österreich und Ungarn ihre Punkte holen und trotz des gestrigen Dämpfers locker ins Achtelfinale einziehen. Die Sticheleien tun ihnen, die ja auch spielerisch dominiert haben, demnach nur bedingt weh und der Fado nach dem Remis wird auch rasch verklingen.
Island als Konsenskandidat
Auch wenn oder gerade weil es höchst unwahrscheinlich ist: Auf Island als Europameister - sollte das eigene Nationalteam schon nicht gewinnen - könnten sich wohl die meisten Europäer einigen.
Es wäre eine Heldengeschichte. Und etwas, worüber sich Europa zur Abwechslung mal wieder gemeinsam freuen könnte.
Unter "Voyage surprise" (dt.: "Fahrt ins Blaue") bildet die DLF-Sportredaktion in den kommenden Wochen Hintergründiges, Humorvolles, Abseitiges rund um die Europameisterschaft in Frankreich ab.