Christiane Kaess: Millionen Besitzer von Dieselautos sind vom VW-Abgasskandal betroffen. Es drohen Fahrverbote. Zur Rechenschaft gezogen wurde in Deutschland für die Manipulationen bei VW aber aus der Spitze des Unternehmens noch niemand. Seit Ex-VW-Chef Martin Winterkorn in den USA angeklagt wurde und am Wochenende gegen ihn sogar ein Haftbefehl erlassen wurde, wächst aber auch in Deutschland der Druck.
Am Telefon ist jetzt Gregor Bachmann. Er ist Rechtsprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin. Guten Tag, Herr Bachmann.
Gregor Bachmann: Ja! Schönen guten Tag.
Kaess: Herr Bachmann, ist das skandalös, dass drei Jahre, nachdem der Abgasskandal ans Licht kam, die deutsche Justiz Nachhilfe aus den USA braucht?
Bachmann: Nein, so würde ich es nicht bezeichnen. Denn die Fakten sind tatsächlich sehr komplex in diesem Fall und bis jetzt ist ja auch nicht wirklich öffentlich geworden, was an Tatsachen tatsächlich bekannt ist. Deshalb muss man mit solchen Urteilen etwas zurückhaltend sein.
"Unternehmensinteresse vorrangig"
Kaess: Aber alles, was bis jetzt bekannt ist, erhöht das den Druck auf die deutsche Justiz?
Bachmann: Ja, sicherlich, wobei man auch hier zwei Sachen unterscheiden muss. Das eine ist die Frage, inwieweit die Justiz, also Staatsanwaltschaft und Gerichte verpflichtet sind, tätig zu werden, letztendlich Anklage zu erheben. Und das andere ist die Frage, inwieweit VW selbst, hier vor allen Dingen der Aufsichtsrat verpflichtet ist, tätig zu werden.
Für die Staatsanwaltschaft liegt die Latte etwas höher, denn die Delikte, die Herrn Winterkorn vorgeworfen werden, Betrug oder Untreue eventuell, setzen vorsätzliches Handeln voraus, und das bedeutet, dass ihm nachgewiesen werden muss, dass er von diesen Manipulationen wusste. Beweisen müssen das die Staatsanwälte, weil ja zugunsten des Angeklagten oder des Angeschuldigten die Unschuldsvermutung gilt.
Was den Aufsichtsrat angeht, liegt es etwas anders. Da ist allerdings das Unternehmensinteresse vorrangig. Das heißt, der Aufsichtsrat muss gegen Herrn Winterkorn nicht schon dann vorgehen, wenn er glaubt, dass Herr Winterkorn dort manipuliert hat, sondern der Aufsichtsrat muss immer abwägen, ob es für das Unternehmen, also für VW besser ist, vorläufig nichts zu tun oder abzuwarten oder sofort tätig zu werden. Diese Punkte muss man auseinanderhalten.
Kaess: Dann bleiben wir erst noch mal bei den Ermittlungen. Warum gibt es da so große Unterschiede zwischen den USA und der deutschen Seite?
Bachmann: Das liegt am unterschiedlichen Prozessrecht. Das US-amerikanische Verfahrensrecht sieht zum Teil Möglichkeiten vor, die wir in Deutschland nicht haben. Hier ist es zum Beispiel sehr umstritten oder unklar, inwieweit deutsche Ermittler auf interne Untersuchungsdokumente von VW zurückgreifen können. Da gibt es ja ein Verfahren, das noch vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig ist.
Der zweite Punkt ist, dass in den USA vielleicht auch möglicherweise mehr Ressourcen eingesetzt werden und mehr Ressourcen verfügbar sind, um solche Fälle aufzuklären, während in Deutschland die Staatsanwälte dort personell häufig unterbesetzt sind.
Kaess: Also ist es ein personelles Problem?
Bachmann: Man müsste jetzt die Details genauer kennen. Ich möchte da jetzt nicht voreilig das so in den Raum stellen. Aber man kann sicher sagen, wenn man die Verfolgung großer Skandale in den USA oder England mit der Situation in Deutschland vergleicht, dass dort die personelle oder die Manpower, wie man heute sagt, die dort eingesetzt wird, größer ist als in Deutschland. Das schon.
Das Entscheidende: "handfeste Beweismittel"
Kaess: Wenn ich Ihnen so zuhöre, Herr Bachmann, dann frage ich mich, ob es sein kann, dass die deutsche Justiz nie zu den gleichen Erkenntnissen kommen wird wie in den USA.
Bachmann: Das glaube ich nicht. Es findet ja schon ein Informationsaustausch statt und deshalb kann es sein, dass die deutsche Justiz, auch wenn sie selbst nicht zu den Erkenntnissen kommt, auf dem Umweg über USA und über Rechtshilfe dann doch letztlich Informationen erlangt, die sie nicht hat, und dann auch in Deutschland allerdings handeln muss.
Kaess: Das heißt, Sie versprechen sich etwas von dieser Zusammenarbeit? Die wird durchaus hilfreich sein für die deutsche Seite?
Bachmann: Ja, in der Tat. Das denke ich schon.
Kaess: Lassen Sie es uns noch mal ein bisschen konkreter machen. Was wissen die amerikanischen Ermittler, was die deutschen nicht wissen?
Bachmann: Da bin ich auch nur auf das Zeitungswissen angewiesen, und das ist bis jetzt relativ dürftig, weil wir eigentlich nur wissen, dass die Amerikaner jetzt Anklage erheben, Haftbefehl erlassen haben. Worauf sie das im Detail stützen, ist schwer zu sehen. Offensichtlich gibt es Informationen, die belegen, dass Herr Winterkorn wusste oder früher von den Manipulationen wusste, als man bislang in Deutschland ihm nachweisen konnte, und dazu muss es irgendwelche Dokumente, Aussagen, Informationen geben, denn sonst wären auch die Amerikaner nicht so weit vorgeprescht.
Kaess: Ich frage es noch mal anders. Welche Vorteile haben denn eventuell amerikanische Ermittler? Dürfen die andere Quellen nutzen oder sich auf andere Quellen stützen?
Bachmann: Das im Grunde nicht. Im Grunde müssen auch die amerikanischen Ermittler Herrn Winterkorn nachweisen, dass er von diesen Vorgängen wusste. Das Entscheidende ist, hat man handfeste Beweismittel, zum Beispiel E-Mail-Protokolle, Ausdrucke, Zeugenaussagen, die vor Gericht verwertbar sind, oder hat man die nicht. Und so wie es aussieht, liegt in Deutschland solches Material noch nicht vor, während die Amerikaner - aber da muss ich auch aus den Presseberichten mutmaßen - offensichtlich da mehr zur Hand haben.
Kaess: Ist das in den USA eventuell auch politisch motiviert?
Bachmann: Sicherlich. In den USA ist natürlich der Druck der Öffentlichkeit und auch der Verbraucher und auch der Politik groß, Ergebnisse zu präsentieren, und das ist ja auch nicht der erste Fall und auch kein Einzelfall. Wenn wir zum Beispiel an den Siemens-Skandal denken vor einigen Jahren - dort ist Siemens ja massiv konfrontiert worden mit den amerikanischen Ermittlungsbehörden, musste ganz hohe Millionen-Bußen zahlen, die bis dahin in Deutschland völlig unvorstellbar waren, und das hängt auch mit einer anderen Verfolgungsmentalität zusammen.
Kaess: Dann wäre umgekehrt auch der Vorwurf der Opposition hier in Deutschland, den wir gerade von den Grünen in dem Beitrag gehört haben, dann wäre das auch gerechtfertigt zu sagen, die Bundesregierung müsste eigentlich hier auch mehr bei der Aufklärung tun?
Bachmann: Ja, das würde ich auch differenziert sehen. Die Bundesregierung selbst kann sich jetzt natürlich nicht unmittelbar in die Justiz einschalten und sie kann auch nicht Druck auf die Staatsanwälte ausüben. Das schon deshalb nicht, weil die Staatsanwälte ja Landesbehörden sind. Ich glaube, wohin die Kritik der Grünen eher zielt ist, vielleicht Gesetze zu ändern. Das heißt, es wäre natürlich möglich, mehr Ressourcen in die Staatsanwaltschaften zu geben. Es wäre auch möglich, die Gesetze so zu verschärfen, dass es leichter ist, in solchen Fällen schneller zu handfesten Ergebnissen zu kommen.
Musterklage nicht gleich Sammelklage
Kaess: Schauen wir zum Schluss noch ein bisschen voraus. Am Mittwoch soll die sogenannte Musterfeststellungsklage im Kabinett in Berlin beschlossen werden. Geschädigte Verbraucher könnten dann zusammen vor Gericht ziehen. Was würde das bringen im Abgasskandal?
Bachmann: Das wäre zunächst ein deutlicher Fortschritt gegenüber der jetzigen Rechtslage. Denn in den USA ist es ja schon seit Langem möglich, durch Sammelklagen in solchen Fällen den Verbrauchern zu helfen, und in Deutschland eben nicht. Andererseits muss man auch sagen, dass viele den jetzt vorgelegten Gesetzentwurf immer noch für unzureichend halten, weil er immer noch hinter dem zurückbleibt, was in den USA möglich ist. Allerdings gibt es da inzwischen auch politische Vorschläge aus Brüssel von der Europäischen Union, sodass es sein könnte, dass das europäische Recht das deutsche irgendwann überholt und dann wir am Ende doch bei amerikanischen Möglichkeiten landen.
Kaess: Dann wäre es eventuell für Verbraucher in Deutschland schon zu spät?
Bachmann: Das könnte sein, denn es laufen natürlich Verjährungsfristen und wer bis jetzt noch nicht geklagt hat, dem droht dann der Verlust seiner Klagerechte.
Kaess: Erklären Sie uns noch kurz: Was ist der Unterschied zwischen dieser Musterfeststellungsklage, die höchst wahrscheinlich in Deutschland kommen wird, und der Sammelklage in den USA?
Bachmann: Die Details sind natürlich kompliziert. Aber etwas vereinfacht gesagt, gibt es jetzt eine Musterfeststellungsklage schon für Kapitalanleger, und an diesem Vorbild ist das orientiert. Und wie der Name schon sagt: Es wird ein Musterprozess geführt und die Ergebnisse dieses Musterprozesses können dann für die vielen anderen Prozesse übernommen werden. Bei einer echten Sammelklage geht es aber nicht nur darum, dass man einen Prozess exemplarisch führt, sondern dass alle Klagen gebündelt werden und dadurch auch der Druck auf die Beklagte wächst und dass es auch viel einfacher ist für die einzelnen Sammelkläger, am Ende zu ihrem Recht zu kommen.
Kaess: Dann kann man auch sagen, dass es auf alle Fälle zu Schadenersatz in Deutschland kommen wird in diesen Fällen?
Bachmann: Das hängt immer noch von der Beweissituation ab und tatsächlich ist es ja so, dass es viele einzelne Verfahren gibt, und das Problem für die Richter besteht darin, nicht immer zu wissen, was in anderen Verfahren ermittelt worden ist. In jedem Verfahren müssen neue Beweise erhoben werden und da könnte diese Musterklage schon einen Fortschritt darstellen.
Kaess: … sagt Gregor Bachmann, Rechtsprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin. Vielen Dank für Ihre Zeit heute mittag.
Bachmann: Gerne geschehen.
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