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VW-Abgastestmanipulation
"Anreizsysteme korrumpieren die Unternehmen moralisch"

Der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann glaubt, dass hinter den manipulierten Abgastests bei VW die Aussicht auf hohe Boni stand. Anreizsysteme in großen Konzernen korrumpierten die Mitarbeiter moralisch, sagte er im DLF. Bereits an den Hochschulen werde eine "höchst fragwürdige Unkultur" der Einschätzung von Chancen und Risiken in der Wirtschaft gelehrt.

Ulrich Thielemann im Gespräch mit Doris Simon |
    Der Direktor der Berliner Denkfabrik für Wirtschaftsethik, Ulrich Thielemann, im schwarzen Anzug, weißem Hemd und schwarzer Brille, Porträt, in die Kamera blickend
    Der Direktor der Berliner Denkfabrik für Wirtschaftsethik, Ulrich Thielemann (dpa/picture alliance/Horst Galuschka)
    Doris Simon: Volkswagen hat in den USA offensichtlich die Abgasprüfwerte von Dieselmodellen manipuliert. Der Skandal beschädigt das Image des Konzerns und immer stärker gerät die Führungsspitze von VW in den Blick, denn sie hat entweder gewusst, dass da jahrelang Prüfergebnisse geschönt wurden, oder sie hat nicht mitbekommen, dass auf höherer Ebene entschieden wurde, Software für die Manipulation gezielt einzubauen. Am Telefon ist Ulrich Thielemann, der Direktor der Berliner Denkfabrik für Wirtschaftsethik. Guten Abend.
    Ulrich Thielemann: Guten Abend, Frau Simon.
    Simon: Herr Thielemann, kann so eine Manipulation von Prüfergebnissen stattfinden, ohne dass die Konzernspitze etwas davon weiß?
    Thielemann: Ja das frage nicht nur ich mich. Das ist natürlich eine der zentralen Fragen. Ich würde sagen, es würde mich wundern, weil es ja so irrational wäre, weil dieser Schaden für das Unternehmen ist ja so immens und übrigens nicht nur für das Unternehmen. Auch "Made in Germany" und die deutsche Automobilindustrie ist damit in Verruf geraten, weil ja die kriminelle Energie, die dahinter steckt, doch uns alle sprachlos zurücklässt. Ich kann es mir, ehrlich gesagt, nicht vorstellen. Ich vermute etwas anderes dahinter.
    Simon: Was vermuten Sie?
    Thielemann: Ich vermute dahinter, wie in so vielen anderen Fällen, die heutzutage überall etablierten Anreizsteuerungssysteme. Nehmen wir ein Szenario: Ich stelle mir vor, da sitzen in den USA die Vertreter von VW und überlegen sich, wie können wir die Umsätze steigern und damit unseren Bonus, der ja in Millionen sich bemisst, und dafür betreiben wir doch einmal diese Manipulation, und da müssen natürlich sehr viele Leute einbezogen werden und die sagen alle nicht, das ist doch einfach eklatant unmoralisch, ein brutaler Betrug. Das sagen die alle nicht, weil die alle, ich würde mal sagen, so meine Vermutung, moralisch korrumpiert sind und werden von diesen Anreizsystemen. In dem Konzern ist dann niemand, der fragt mehr, ob man das darf. Da fragt man allenfalls, ob die Risiken, die Rechtsrisiken und die Reputationsrisiken, die damit verbunden sind, größer sind als die Chancen, die man nutzen möchte. Aber moralische Integrität ist da eigentlich nicht mehr anzutreffen, so meine Vermutung, wie ein solcher Konzern, nicht nur VW funktioniert.
    "Das ist systematisch angelegt"
    Simon: Was herrscht denn da für eine Unternehmenskultur - Sie haben ja eben schon mal die Anreize angedeutet -, wenn man ein Problem - es ist ja offensichtlich ein Problem des zu hohen Schadstoffausstoßes - nicht angeht, sondern stattdessen schon vorab die Werte manipuliert, und das, wenn man zugleich mit dem Image in den USA des sauberen Diesel, clean Diesel wirbt?
    Thielemann: Es ist eigentlich eine nicht existente spezifische Unternehmenskultur und eine Unkultur, die alles auf den Shareholder Value oder in dem Fall eben nicht den Shareholder Value, weil es ist ja eigentlich irrational mit Blick auf den Shareholder Value, weil das ist auch noch ein komplexes Feld, nein, auf seinen eigenen Bonus, auf den eigenen Vorteil abstellt, und das sind jetzt gar nicht mal die bösen Akteure, sondern das ist systemisch angelegt dadurch, dass man diese Anreizsysteme etabliert hat und die ja auch etablieren muss, weil der Aktionär verlangt danach, und wenn man das nicht macht, dann wandern die Aktionäre ab.
    Simon: Was glauben Sie, wie nachhaltig beschädigt dieser Skandal das Image des Konzerns? Hat so was über die USA hinaus zum Beispiel auch in Deutschland Auswirkungen?
    Thielemann: Meinem Eindruck nach: Die Folgen sind ja vielleicht nicht so gravierend. Aber die kriminelle Energie, die dahinter steckt, ist so gravierend - ich konnte mir das nicht vorstellen und ich glaube, viele sind einfach überrascht, was da alles möglich ist -, dass das Konsequenzen haben muss und sollte auch. Ich fordere jetzt nicht irgendwelche Rücktritte, aber ich könnte mal einen Vorschlag machen. Wir brauchen eine Abrüstung der Konzerne gegeneinander, nämlich packen wir diese Anreizsysteme an. Diese Anreizsysteme korrumpieren die Unternehmen moralisch.
    Simon: Herr Thielemann, die US-Behörden sind der Manipulation auf die Spur gekommen. Sind die deutschen und die europäischen Behörden nicht kritisch genug gegenüber den Autobauern und vor allem der Automacht Deutschland?
    Thielemann: Das kann natürlich sein. Das kann auch eine Rolle spielen. Aber das ist wiederum eine Spekulation. Da wird vielleicht nicht ganz so vehement nachgeschaut. Auch da übertüncht, übertrumpft die Wettbewerbsfähigkeit alles andere. Möglich ist das durchaus.
    "Die Anreize sollten Kern der Compliance sein"
    Simon: Sie sagen, die Anreizsysteme sind falsch. Kann man gegensätzlich auch sagen, der Druck ist heute so groß auf zum Beispiel international operierende Autokonzerne, dass die möglicherweise gar nicht viele Möglichkeiten haben, als manchmal am Rande der Legalität oder, wie in diesem Fall, illegal zu operieren?
    Thielemann: Ich würde das jetzt nicht so formulieren. Es gibt bestimmt auch die Möglichkeit, das zu unterlassen, und zwar ohne gravierende Folgen. Aber es ist doch mehr als eine Versuchung eigentlich. Wie gesagt, diese Systeme werden etabliert, weil die Aktionäre das so wollen. Damit wird weitergeschraubt an der Schraube, wettbewerbsfähig zu sein, und zwar auch und gerade auf dem sogenannten Market for Corporate Control. Das ist der Kapitalmarkt. Und darum: Ich glaube nicht, dass es da ein unternehmensindividuelles Entrinnen gibt, sondern ich glaube, das bedarf der Regulierung, und das wäre eigentlich im Interesse eines Managements und der Beschäftigten eines Unternehmens im Gesamten, wenn die Beschäftigten und das Management verantwortungsvoll agieren möchten. Dann läge das in seinem Interesse, diese Regulierung zu haben, begrenzen wir die Boni. Ein wenig ist es ja bereits bei den Banken passiert. Ich glaube, das ist nicht nur ein reines Bankenproblem.
    Simon: Sie glauben wirklich, man würde über die Anreize, nicht über Compliance, aber über die Anreizveränderungen es hinbekommen, dass solche Geschichten wie jetzt bei VW nicht mehr passieren?
    Thielemann: Ja. Aber natürlich: Die Anreize sollten eigentlich Kern der Compliance sein. Die spielt da aber überhaupt keine Rolle. Die Anreize unterlaufen ja die sanften Compliance-Maßnahmen oder die harten Compliance-Maßnahmen. Da gibt es dann die Mitarbeiter, die entlassen werden. Man hat natürlich die Anreize so etabliert, dass derjenige, der das nicht macht, das Nachsehen hat. Nein, die Anreizsysteme sind teilweise das Compliance und das Compliance selbst wiederum bedarf der Regulierung.
    Aber was hinzukommt ist schon auch eine genuine Kulturfrage, nämlich auf den Hochschulen wird den Absolventen, vor allen Dingen den betriebswirtschaftlichen Absolventen ja beigebracht, dass es ganz normal ist, dass man nur in Chancen und Risiken denkt und nicht in genuiner Verantwortbarkeit des Handelns. Auch von dieser Seite wird eine Unkultur etabliert, die hoch fragwürdig ist.
    Simon: Zum VW-Skandal um geschönte Prüfergebnisse bei Dieselfahrzeugen in den USA war das der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann von der Denkfabrik Menschliche Marktwirtschaft in Berlin. Herr Thielemann, vielen Dank.
    Thielemann: Vielen Dank auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.