Wolfsburg. Seit dem Expojahr 2000 erstreckt sich direkt neben dem VW-Werk die Autostadt, ein Tochterunternehmen der VW AG. Einerseits ein Eventpark mit Bildungsanspruch rund um das Thema Mobilität, andererseits das Werbe- und Schaufenster des Volkswagen-Konzerns. VW tritt hier selbstbewusst und elegant als Weltmarke auf - in der hohen Eingangshalle hängt ein riesiger Stahlglobus. Während der Mutterkonzern, die VW AG, für 2015 die schlechteste Bilanz der Firmengeschichte präsentiert, ist man in der Autostadt mit den eigenen Zahlen sehr zufrieden:
"Wir hatten insgesamt 2,4 Millionen Besucher - das war damit das besucherstärkste Jahr seit Bestehen der Autostadt. Und das ist natürlich ein großer Erfolg, wenn wir gerade 2015 diesen Besucherrekord verbuchen konnten."
Tobias Riepe ist Sprecher der Autostadt, die sich etwa zur Hälfte aus eigenen Einnahmen und zur anderen Hälfte durch VW finanziert. Jahresetat rund 50 Millionen Euro - geschätzt, denn konkrete Zahlen nennt der Konzern nicht. Die von VW sogenannte Dieselthematik – die betrügerische Abgas-Manipulation bei weltweit elf Millionen Fahrzeugen - ist hier nirgendwo ein Thema. Im Markenpavillon von VW wurde noch im vergangenen Oktober die angeblich so saubere Dieseltechnologie präsentiert. Dieser Teil der Ausstellung ist nun geschlossen. Für die Besucher hier wird der Abgas-Skandal also komplett ausgeblendet.
"Voraussichtlich Mitte des Jahres wird dieser Teil neu eröffnen. Aber ich kann Ihnen noch gar nicht sagen, was dann drin sein wird."
Als Dieselgate im Herbst bekannt wurde, war klar, dass überall im VW-Konzern gespart werden muss - auch in der Autostadt. Das hauseigene Kulturfestival Movimentos beispielsweise fällt in diesem Jahr etwas kleiner aus. Auch andere VW-Institutionen müssen sparen – dem Fußball-Erstligisten VfL Wolfsburg wurden 40 Millionen Euro und damit ein neues Nachwuchsleistungszentrum gestrichen. Ebenfalls dramatisch sieht es bei Einrichtungen aus, die vom Haushalt der Stadt Wolfsburg abhängig sind. Der Autostadt gegenüber liegt zum Beispiel das raumschiffartige Phaeno-Museum. Es zieht vor allem Schülerinnen und Schüler an, die sich spielerisch mit naturwissenschaftlichen Phänomenen beschäftigen. Sie werden von einem Roboter begrüßt:
"Ey - wusstest Du, dass es hier über 300 Exponate gibt? Und das Beste von allen, bin ich."
Allein der prestigeträchtige Bau der Star-Architektin Zaha Hadid kostete die Stadt 2005 mehr als neun Millionen Euro. Und jetzt? Martina Flamme-Jasper, Sprecherin des Museums:
"Es ist der Etat für 2016 noch nicht mal durch bei der Stadt, und wir haben da noch keine Erkenntnisse, wie es mit uns weitergeht. Also das können wir wirklich nicht sagen."
In Wolfsburg, Braunschweig, Salzgitter und Emden ist VW Haupt-Arbeitgeber, die Krise schlägt hier sofort durch. Wolfsburgs Etat ist zu etwa 80 Prozent von VW abhängig. Schon im Oktober wurde eine Ausgabensperre verhängt, der Haushalt für das laufende Jahr erst jetzt verabschiedet. Oberbürgermeister Klaus Mohrs erklärt dazu:
"Wir haben bereits unseren Haushalt sehr stark zurückgefahren. Es gibt jetzt nach der VW-Bilanz keinen Grund, noch stärker zu reagieren in diesem Jahr. Ich gehe davon aus, dass wir noch ein, zwei Jahre mit sehr knappem Haushalt leben müssen."
Folgen für Niedersachsen
Andererseits haben die ertragreichen letzten Jahre die Stadtkassen gut gefüllt. 2014 hatte der Konzern noch elf Milliarden Euro Gewinn verbucht. Gerade die VW-Städte gehören deshalb zu den reichsten im Bundesland. Welches Potenzial - aber auch welches Risiko für die Städte und das Land Niedersachsen hinter den nüchternen Zahlen steckt, zeigt dieser schlichte Vergleich: VW stellt zur Bewältigung des Abgas-Skandals 16,2 Milliarden Euro zurück. Der niedersächsische Landeshaushalt hat ein Volumen von 29 Milliarden Euro. Eine mehrere Jahre andauernde Krise bei VW - eventuell mit Arbeitsplatzabbau - können sich also weder das Land noch die Städte leisten. Direkte Kürzungen durch VW oder indirekte Kürzungen durch ausbleibende Einnahmen haben weitreichende Folgen - für Bauvorhaben, Kultur- oder Sportangebote.
Die nun angekündigte, im Vergleich zu den Vorjahren extrem schlechte VW-Dividende von nur 17 Cent je Vorzugsaktie für 2015 trifft in Niedersachsen vor allem den Bereich Wissenschaftsförderung. Das Land ist im Besitz von 59 Millionen VW-Aktien und hat sich verpflichtet, für die Förderung der Wissenschaft den jährlichen Dividenden-Ertrag aus 30 Millionen Aktien bereitzustellen. Im vergangenen Jahr wurden 4,86 Euro pro Aktie – also 144 Millionen Euro – ausgezahlt. In diesem Jahr sind es nur noch sehr magere 5,1 Millionen Euro.
Zurück nach Wolfsburg. Im Kunstmuseum der Stadt hat am Sonntag die Ausstellung "Wolfsburg Unlimited - eine Stadt als Weltlabor" begonnen. In deren Zentrum: ein originalgetreu aufgebautes Autokino mit Containerbahnhof. Ein düsterer Ort, es wird ein Gangsterfilm gezeigt. Der Künstler – heißt es – habe sich vom Niedergang der US-amerikanischen Autostadt Detroit inspirieren lassen. Als er die Ausstellung plante, war vom Dieselskandal noch nicht die Rede. Ob Wolfsburg Ähnliches droht wie Detroit?
Angeschlagene Reputation in den USA
Kaum ein Industrieprodukt hat den deutschen Ruf in den USA so nachhaltig geprägt wie der VW-Käfer. Seit den frühen 60er-Jahren wurde das spartanische, aber unverwüstliche und sparsame Auto millionenfach auch in Amerika verkauft. Der Käfer illustrierte den deutschen Aufstieg nach dem Krieg, er verkörperte deutsche Ingenieurleistung, Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit - so wie in diesem Werbespot für den amerikanischen Markt, in dem ein Cowboy seine Herde nicht vom Rücken eines Pferdes, sondern vom Fahrersitz eines Käfers aus dirigiert.
"The bug. One of the fastest, strongest, most dependable animals alive.”
VW hatte in den USA Kultstatus erreicht, wenn auch die meisten Amerikaner den luftgekühlten Vierzylinder eher als Zweitwagen denn als Familienlimousine einsetzten. Doch vom Ruf des deutschen Klassikers zehrt die gesamte deutsche Wirtschaft in den USA – bis heute. Die Reputation von Volkswagen ist schwer angeschlagen, seit der Skandal um manipulierte Abgasprüfungen ans Licht der Öffentlichkeit kam.
PBS-Nachrichten, Judy Woodruff: "And now the scandal enveloping Volkswagen. Today, the company said it would recall eleven million Diesel cars worldwide.”
Am 18. September 2015 platzte die Bombe. Die amerikanische Umweltbehörde EPA gab bekannt, dass Dieselmotoren der Baureihe EA 189 über eine Software verfügten, die nur unter Testbedingungen den amerikanischen Umweltauflagen gerecht wurde. Im Alltagsbetrieb wurden weit mehr Stickoxide ausgestoßen als gesetzlich erlaubt. Es handelte sich um einen klaren Betrug. Denn die Software erkannte, ob das Fahrzeug sich auf einem Teststand befand oder auf einer Straße. Dementsprechend wurden die Filterfunktionen an- und abgeschaltet.
Jahrelang blieb diese Software-Manipulation von den amerikanischen Aufsichtsbehörden unbemerkt. Erst 2013 wurden Forscher vom International Council on Clean Transportation, einer Umwelt-Lobby-Organisation mit Sitz in Washington und einem Ableger in Berlin, stutzig, weil die Messwerte von VW-Diesel-Autos in Europa bei Tests von denen im Normalbetrieb abwichen. Die Gruppe tat sich mit Forschern der Universität von West Virginia zusammen, um Tests in den USA durchzuführen, wo die Abgasvorschriften strenger sind. Einer der beteiligten Ingenieure ist John German.
"Der Computer kann auf vielfältige Art erkennen, ob der Wagen sich auf einem Teststand befindet. Die nicht angetriebenen Räder bewegen sich nicht. Das Fahrzeug bewegt sich nicht, und das Steuer bewegt sich nicht."
Untersucht wurden ein Jetta und ein Passat von VW sowie ein BMW X5. Die Ergebnisse waren ein Schock: Der tatsächliche Abgasausstoß des Jetta lag im Normalbetrieb um das 15- bis 35-fache über dem US-Grenzwert, beim Passat um das 5- bis 20-fache. Nur der BMW verhielt sich normal. Die Forscher informierten die Environmental Protection Agency (EPA) und die kalifornische Regierungsberatungskommission CARB, die eigene Untersuchungen einleiteten. Diese Ermittlungen führten dann zu dem Skandal, der VW-Chef Martin Winterkorn letztendlich den Job kostete.
Vier Tage, nachdem die EPA den Vorgang öffentlich gemacht hatte, gab VW zu, dass es in elf Millionen Fahrzeugen weltweit eine Abweichung zwischen den Testergebnissen und dem Stickoxid-Ausstoß im Alltagsbetrieb gibt. Das Vertrauen in die Deutschen war umso stärker beschädigt, als VW zunächst nur von einem technischen Fehler sprach. Es gab laut der kalifornischen CARB-Kommission mehrere Treffen mit Konzernvertretern, bei denen diese versuchten, die verdächtig hohen Abgaswerte auf technische Macken zu schieben. Erst nachdem die EPA drohte, die Zulassung der vor dem Verkaufsstart stehenden neuen VW-Modelle zu verweigern, soll das Unternehmen zugegeben haben, seit 2009 manipuliert zu haben.
Die Reaktion der amerikanischen Justizbehörden ließ nicht lange auf sich warten. Der New Yorker Generalstaatsanwalt Eric Schneiderman erklärte, keine Firma dürfe sich über Umweltgesetze hinwegsetzen und den Verbrauchern falsche Versprechen machen. Auch das Bundesjustizministerium in Washington D.C. kündigte Ermittlungen an.
Im Oktober vergangenen Jahres wurde der damalige Chef von Volkswagen USA vor den Kongress zitiert. Michael Horn wusste, dass er kleine Brötchen backen sollte. Viel Demut, viel Bescheidenheit und das Versprechen, Volkswagen würde die amerikanischen Verbraucher und Behörden nie wieder in dieser Art betrügen.
"Wir haben das Vertrauen unserer Kunden, unserer Händler, Angestellten, der Öffentlichkeit und der Behörden missbraucht. Wir übernehmen die volle Verantwortung für unsere Handlungen und wollen mit den zuständigen Behörden eng zusammenarbeiten bei der Aufklärung. Dieser Ausschuss und die Umweltbehörde ermitteln, und wir sind fest entschlossen, dabei zu kooperieren und die Dinge klarzustellen."
VWs Clean-Diesel-Strategie für die USA
Die Abgeordneten sparten nicht mit Kritik. Der republikanische Abgeordnete Fred Upton hat ein VW-Zulieferwerk in seinem Wahlkreis. Wenn VW bei den Abgaswerten betrüge, stelle sich ihm die Frage, wo Volkswagen noch betrüge? Klären sie das auf, oder verschwinden sie von der Straße, so Fred Upton. VW hatte jahrelang in einer großen Kampagne seine sogenannten Clean-Diesel-Modelle angepriesen. Diese sollten dem Verbraucher gleichzeitig niedrige Verbrauchswerte, schnelle Beschleunigung und ein gutes Umweltgewissen bescheren. Und dies übrigens zu einem um ein Viertel geringeren Fahrzeug-Preis als in Deutschland. Für Volkwagen sind die USA ein schwieriger Markt. Mit der Clean-Diesel-Strategie war VW zum größten Verkäufer von Dieselfahrzeugen in den USA aufgestiegen. Ende 2015 jedoch brach der Absatz rapide ein.
Dazu kam noch ein desaströser Auftritt des neuen VW-Chefs Matthias Müller auf der Detroiter Automesse. Von einem Reporter des öffentlichen Rundfunks NPR nach dem Verhalten von VW gefragt, erklärte Müller:
"Ehrlich gesagt, es war ein technisches Problem. Wir haben einen Fehler gemacht. Wir hatten nicht die richtige Interpretation des amerikanischen Rechts. Aber warum sprechen Sie von einem ethischen Problem."
Weil VW die Regulierungsbehörde angelogen habe, so der Reporter daraufhin. Müller entgegnete:
"Wir haben nicht gelogen. Wir haben die Fragen zunächst nicht verstanden. Und wir arbeiten seit 2014 an einer Lösung des Problems."
Die Verleugnung von zuvor bereits zugegebenen Sachverhalten löste in den USA eine Welle der Empörung aus. Müllers Rundfunk-Auftritt war umso verheerender, weil er kurz vor seinem Treffen mit der Chefin der mächtigen amerikanischen Umweltbehörde, Gina McCarthy, stattfand.
Möglichkeit der Flut von US-Sammelklagen
Doch seitdem scheint es - zumindest bei der juristischen Aufarbeitung - voranzugehen. Die größte Gefahr für Volkswagen in den USA - eine unabsehbare Flut von Sammelklagen und teuren Mammutprozessen - ist vorerst gebannt: Das Bezirksgericht in San Francisco genehmigte in der vergangenen Woche den Entwurf eines Vergleiches zwischen Volkswagen, dem Justizministerium, der Umweltbehörde EPA und mehreren hundert Sammelklägern. Die vorläufige Einigung umfasse Rückkäufe und mögliche Reparaturen der manipulierten insgesamt ca. 580.000 Diesel-Fahrzeuge sowie eine substanzielle Entschädigung für Dieselbesitzer, teilte der Richter des Bezirksgerichts in San Francisco, Charles Breyer, mit. Im Gespräch ist eine Entschädigung von bis zu 5.000 Dollar für die amerikanischen VW-Dieselkäufer. Anders als in Deutschland wird den Kunden in den USA übrigens zugestanden, dieses Angebot anzunehmen oder den Wagen zurückzugeben. Zudem ist ein Umweltfonds vorgesehen, als Ausgleich für die Umweltschäden, die die VW-Diesel angerichtet hätten.
Bezirksrichter Breyer hatte für den Fall, dass VW keine fristgemäße Einigung mit den Klägern erreicht, mit einer Prozesseröffnung bereits in diesem Sommer gedroht. Das wäre für den Konzern ein schlechtes Szenario gewesen, weil die Möglichkeit außergerichtlicher Vergleiche dadurch verloren gegangen wäre. VW hat zur Bewältigung des Abgasskandals in der Bilanz 2015 16,2 Milliarden Euro als Rückstellung ausgewiesen. Vorstandschef Matthias Müller nach der Sitzung des Aufsichtsrats vergangenen Freitag:
"Darin enthalten sind alle Belastungen, die sich per heute seriös abschätzen lassen, also insbesondere Rückstellungen für anstehende technische und kundenbezogene Maßnahmen, Rückkäufe sowie Rechtsstreitigkeiten."
Bezirksrichter Breyer beraumte für den 19. Mai eine weitere Anhörung an; bis zum 21. Juni sollen die Streitparteien eine detaillierte Einigung vorlegen. Das US-Justizministerium betonte, dass es sich bislang nur um einen teilweisen Kompromiss handelt. Die Ermittlungen des Ministeriums würden fortgeführt. Außerdem klagen vor einem New Yorker Gericht noch mehrere amerikanische Bundesstaaten auf Schadensersatz. Auch auf amerikanischer Seite ist die Affäre für VW also noch lange nicht ausgestanden, die bisherigen Rückstellungen dürften kaum ausreichen.
Zusammenhalt innerhalb des Konzerns bröckelt
Die Lage von VW zur diesjährigen Bilanz- und Investorenkonferenz ist weiterhin angespannt. Auch hierzulande. Denn auch der viel beschworene Zusammenhalt innerhalb des Konzerns bröckelt. Es wird – sind sich Insider sicher - eine Diskussion mit den Betriebsräten über Stellenstreichungen bei der Kernmarke VW geführt werden müssen. Es ist verständlich, dass die Beschäftigten in dieser Situation kritisch aufgenommen haben, dass die Vorstände und Aufsichtsräte angesichts der schlechtesten Firmenbilanz der Konzerngeschichte nur auf allenfalls 39 Prozent ihrer Boni verzichten wollen - und das nur vorläufig. Die schlechte Stimmung schwappt nun in die laufenden Tarifverhandlungen über. Die IG Metall fordert für die 120.000 VW-Beschäftigten fünf Prozent mehr Lohn und Gehalt. Die Mitarbeiter seien nicht bereit, für den Abgas-Skandal bezahlen zu müssen. Gesamtbetriebsratschef Bernd Osterloh:
"Ich sage das hier einmal ganz deutlich: Falls die Arbeitgeberseite glaubt, Lohnverzicht predigen zu müssen, wird sie sehr schnell erkennen, wie es mit unserer Kampfbereitschaft steht."
Chancen für deutsche Kunden
Hinzu kommt, dass nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland und Europa spezialisierte Anwaltskanzleien tausende Mandate einsammeln - zur Vertretung der Rechtsansprüche unzufriedener Kunden und Anleger gegenüber VW. Auch wenn Sammelklagen in Deutschland nicht vorgesehen sind und sich sowohl die Umweltauflagen als auch die Rechtssysteme stark unterscheiden, sieht der Berliner Anwalt Christopher Rother auch für Kunden hierzulande gute Chancen für einen Vergleich mit dem Konzern:
"Mein Eindruck ist, dass die deutschen Kunden sich das nicht gefallen lassen werden. Sondern, dass die deutschen Kunden die Lösung, die dort in den USA von Volkswagen freiwillig angeboten wurde, als Blaupause nehmen für eine Lösung, die hier gefunden werden kann und auch gefunden werden muss."
Und auch die Anleger sehen sich getäuscht - ihr Vorwurf: Die VW AG - vor allem der frühere Finanzvorstand und heutige Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch - hätte viel zu spät über die Risiken informiert. Spätestens am 3. September hätte die gesetzlich vorgegebene Gewinnwarnung erfolgen müssen – und nicht, wie geschehen, erst am 18. September als die US-Behörden an die Öffentlichkeit gingen. Danach sackte der Aktienkurs um etwa ein Drittel ab.
Der Stuttgarter Rechtsanwalt Andreas Tilp vertritt mit Kollegen allein 278 Großinvestoren aus aller Welt, ferner über 1.000 Kleinanleger. Wer im Einzelnen im Konzern was gewusst habe, das sei für die Fragen der Haftung nicht wesentlich, sagt er. Das Unternehmen als juristische Person hafte – egal, wer im Einzelnen den Betrug ausgeführt habe.
"Nach der Rechtsprechung ist es so, dass ein Unternehmen nicht nur Kenntnis hat im juristischen Sinne, wenn es der Vorstand weiß, sondern es reicht, wenn sogenanntes aktenmäßig festzuhaltendes Wissen vorhanden ist, also Wissen, das von besondere Bedeutung ist auch unterhalb einer Ebene des Vorstandes. Und dann wird ein Unternehmen, die juristische Person, so behandelt, als ob die juristische Person, also die VW AG, das gewusst hätte. Und da fühlen wir uns 100-prozentig auf der sicheren Seite."
Bislang hat die VW-Spitze beteuert, die früheren Vorstandsmitglieder - darunter Martin Winterkorn - hätten von den Abgas-Manipulationen nichts gewusst und seien selbst betrogen worden. Nun zeichnet sich ab, dass diese Verteidigungsstrategie ins Leere läuft.
Der NDR berichtete Anfang dieser Woche, dass Manager in der Motorenentwicklung bereits im November 2006 erste Weichen für die Manipulationen gestellt hätten, dass ein großer Kreis von Personen eingeweiht gewesen sei und man im Konzern bis zur Aufdeckung des Abgasskandals durch die amerikanischen Behörden einige Gelegenheiten verstreichen ließ, sich zum Betrug zu bekennen. Ein Zögern, das den Weltkonzern nun sehr teuer zu stehen kommt.