Archiv

VW-Skandal
"Solche Dinge geschehen ja nicht im stillen Kämmerlein"

Wenn VW nach dem Skandal ernsthaft einen Neuanfang wolle, dann werde der Rücktritt von Martin Winterkorn nicht der einzige bleiben, sagte Helmut Becker, Ex-Chefvolkswirt bei BMW, im DLF. Grundsätzliche Schwachstellen des Konzerns seien der US-Markt und die innere Organisation.

Helmut Becker im Gespräch mit Bettina Klein |
    Ein VW Golf in bei einer Abgasuntersuchung in Hörselberg bei Eisenach
    Ein VW Golf in bei einer Abgasuntersuchung in Hörselberg bei Eisenach (imago stock & people)
    Bettina Klein: Helmut Becker ist ehemaliger Chefökonom von BMW, einem anderen Autokonzern bekanntlich. Er arbeitet heute am Institut für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation in München. Ich habe ihn vorhin nach der Aussage von Martin Winterkorn gefragt, er habe von all den Vorgängen keine Kenntnis gehabt und sei sich keines Fehlverhaltens bewusst. Wie glaubwürdig ist das?
    Helmut Becker: Ich möchte mir nicht anmaßen, Herrn Winterkorn jetzt die Ehrlichkeit beziehungsweise die Ehrbarkeit von Herrn Winterkorn in Zweifel zu ziehen. Wenn er das so sagt, dann müssen wir das erst mal so im Raum stehen lassen. Die Insider meinen, dass das eigentlich nicht ganz möglich sein kann, weil das ist ja nicht das Werk eines Einzelnen, dass man eine solche Konfiguration in der IT herstellt, sondern da gehört eine Abteilung dazu und da gibt es einen Abteilungsleiter und einen Bereichsleiter und da gibt es einen Entwicklungsvorstand. Solche Dinge geschehen ja nicht im stillen Kämmerlein, sondern das wird natürlich von unten nach oben getragen, und ob Herr Winterkorn dann tatsächlich keine Kenntnis hat oder keine Kenntnis davon haben wollte - es soll ja nun auch Fälle geben, wo man eigentlich gewisse Dinge gar nicht wissen will, wenn man verantwortlich ist, um dann hinterher zu sagen, nein, ich wusste es nicht ...
    Klein: Trifft da möglicherweise die schöne Regel zu, wozu hat man denn die zweite oder dritte Reihe und die ist dann dafür da, sich die Hände schmutzig zu machen und über die Methoden möglicherweise die Chefs gar nicht zu informieren.
    Becker: Vielen Dank. Sie geben die Antwort, die ich Ihnen hätte geben sollen. Die haben Sie jetzt selber gegeben.
    Klein: Das heißt, Sie würden das auch für möglich halten, dass das dem Karriereverständnis von bestimmten Leuten in der zweiten Reihe entspricht?
    Becker: Aber selbstverständlich. Hinzu kommt noch, dass natürlich Volkswagen auf dem US-Markt eine äußerst schwache Position hat, und jeder, der dort für Marktgewinne und für Absatzzuwächse sorgt, der rückt natürlich in der Hierarchie beziehungsweise in der Wahrnehmung der Vorgesetzten nach oben. Das muss man dazu sagen. Das ist natürlich ein Anreiz gewesen, gerade sich auf dem US-Markt zu profilieren.
    Klein: Wir haben jetzt einen Rücktritt gesehen, den von Martin Winterkorn. Kann jetzt alles andere so bleiben wie es ist, oder was muss strukturell passieren, damit so etwas nicht mehr vorkommen kann?
    Becker: Das Bauernopfer an der Spitze alleine wird es nicht machen, sondern man wird da natürlich auch noch ein bisschen tiefer gehen. Wenn man wirklich einen Neuanfang will, muss der Neuanfang natürlich über die gesamte Entwicklung sich erstrecken, die mit dieser Abgasgesetzgebung und mit dem Handling der Motoren und der Einsteuerung von bestimmten Aggregaten zu tun hat. Das heißt, man wird da auch weiter in die Tiefe gehen müssen, und hinter Winterkorn oder unter Winterkorn gibt es ja noch bestimmte Verantwortliche. Das ist der Entwicklungsvorstand und und und und und. Wenn es wirklich mit dem Neuanfang ernst ist, dann wird das nicht der einzige Rücktritt bleiben können.
    Klein: Die Frage ist ja, wie man in Zukunft verhindert, dass solche Art von offensichtlich kriminellen Machenschaften ausgeschlossen werden können.
    Becker: Ja nun. Zum Teil kann man das natürlich auch dadurch verhindern, erst mal, dass die Unternehmenskultur oder die Unternehmensethik auf diesem Feld gestärkt wird. Das heißt, die Unternehmen haben ja auch bestimmte interne Kontrollmechanismen oder Gebote oder Verbote, dass solche Dinge einfach unterbleiben, schlicht und ergreifend.
    Klein: Und die funktionieren bei VW nicht?
    Becker: Ja nun, es ist ja nicht so, als ob irgendeiner im stillen Kämmerlein gesagt hat, wie kann ich dem Unternehmen was Gutes tun, ich informiere zwar meine Vorgesetzten nicht, aber ich drehe jetzt an diesem Schalter herum und dann erreiche ich, dass genau das passiert, was jetzt in Frage steht, sondern das ist ja nicht das Werk eines Einzelnen, der von sich aus das gemacht hat, sondern der hat ja auf Befehl gehandelt.
    Klein: Und das muss noch herausgefunden werden, wer jetzt den Auftrag gegeben hat.
    Becker: Sie sagen es. Genau, genau. Das hat der Herr Weil heute noch gesagt. Wir müssen da noch mal genau hinschauen, wie das Ganze abgelaufen ist.
    Klein: Der Ministerpräsident von Niedersachsen.
    Becker: So ist das. Jawohl!
    "Der VW hat ungelöste Baustellen"
    Klein: Schauen wir noch mal auf diese Sonderkonstruktion, den Sonderfall VW und diese enge Verquickung von Politik und Wirtschaft, die wir dabei haben. Die "Süddeutsche Zeitung" etwa schreibt heute, das große Problem von Volkswagen ist, dass der Konzern inzwischen unregierbar geworden ist. Das Sagen haben einige wenige, alle anderen sind Befehlsempfänger. Zweifel oder gar Widerspruch sind unerwünscht. Das Blatt weist auch darauf hin, dass die Gewerkschaften ohnehin ganz eng mit dem Management verbandelt sind. Vor diesem Hintergrund muss man auch sagen, dass es ein Defizit gibt bei Volkswagen, was Aufsicht und Kontrolle angeht?
    Becker: Das ist in der Tat so, aber das ist nicht neu. Das ist ja schon bemängelt worden bei der Auseinandersetzung Piëch gegen Winterkorn. Das hat ja Piëch eigentlich Winterkorn vorgeworfen. Oder man hat dem Herrn Winterkorn das angekreidet, dass der Volkswagen-Konzern offensichtlich Schwachstellen hat, richtige Schwachstellen, Baustellen, die er nicht gelöst hat. Dazu gehört der US-Markt und dazu gehört die innere Kostenstruktur oder die innere Organisation dieses Konzerns und dazu gehört genau das, was Sie gesagt haben. Es ist ein Unternehmen, das eigentlich nur von ganz wenigen Personen geführt wird, und es ist ein Unternehmen, das seit seiner Gründung - und das muss ich dazu sagen; auch dieses Wissen der Öffentlichkeit geht ja völlig unter - ein Gewerkschaftsunternehmen ist. Das war die Organisation "Kraft durch Freude" im Dritten Reich, die für die Gründung dieses Unternehmens verantwortlich war, und seit diesem Zeitpunkt damals hat die Gewerkschaft sozusagen den Zugriff auf die Führung und auf das, was bei Volkswagen passiert. Das ist seit 1938 so.
    Klein: Nun haben wir allerdings einen Neuanfang gehabt nach 1945.
    Becker: Ja. Da hat sich aber nichts geändert daran. Im Gegenteil: Dann hat das dem Staat gehört und, wenn Sie so wollen, der Herr im Haus blieb weiterhin der Betriebsrat.
    Klein: Unabhängig jetzt von der Kritik an VW, müssen Sie auch zugestehen, dass die Autobranche insgesamt unter dem Schutz auch der Politik steht, weil sie eine so große Bedeutung hat und weil auch unheimlich viele Arbeitsplätze davon abhängen? Diese Frage ist ja aufgekommen, als es darum ging, dass möglicherweise diese mangelhaften Kontrollen schon lange bekannt sind.
    Becker: Im Grundsatz stimme ich Ihnen zu, was die Verbundenheit oder die enge Beziehung zwischen der Lobby der Automobilindustrie und dem Gesetzgeber betrifft. Das heißt, die ganzen Testzyklen, wie wir sie jetzt in Brüssel oder früher hier in Deutschland im KBA für die Automobilindustrie zur Messung von Abgasen und Verbräuchen und so weiter aufgesetzt haben, sind in engster Abstimmung mit der Branche, mit den Betroffenen selber gemacht. Diese gesetzlichen Regelungen in Europa, noch mal, entsprechen dem, was die Branche eigentlich will, und tun der Branche möglichst wenig weh. Und jetzt kommt Ihre Frage: Natürlich wird sich das jetzt ändern. Das ist der Schaden, der von Volkswagen auf die gesamte Autoindustrie in Europa und natürlich in Deutschland, wenn Sie so wollen, überschwappen wird.
    Klein: Die Kontrollen werden strenger, aber ja auch im Interesse der Autofahrer und zum Beispiel auch der Umwelt.
    Becker: Selbstverständlich. Natürlich wäre das im Interesse der Umwelt. Aber jeder Autofahrer weiß oder hat gewusst in der Vergangenheit, dass die Werte, die Verbräuche beispielsweise, die ja nun eins zu eins gekoppelt sind an die Emissionen, dass die Verbrauchswerte, die ihnen die Hersteller in die bunten Prospekte geschrieben haben, mit den Verbrauchswerten, die sie als Autofahrer tatsächlich im richtigen Fahrbetrieb erlebt haben, eigentlich relativ wenig zu tun haben. Das wird Ihnen jeder Autofahrer bestätigen. Da wird man in Zukunft ein bisschen genauer hinschauen, um da realistischere Verfahren einzuführen, was letztendlich dazu führt, dass hinterher wir bessere Autos haben als das, was wir jetzt haben. Insofern ist das Ganze natürlich auch im Sinne der Umwelt und der Verbraucher.
    Klein: ... sagt Helmut Becker über die jüngsten Entwicklungen beim Volkswagen-Konzern. Er war früher Chefökonom bei BMW.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.