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Wachstum in Volkswirtschaften
"Wir wachsen mit der gleichen Dynamik wie früher"

Deutschlands Wirtschaft wachse, doch anders als gemeinhin angenommen, sagte der Politikwissenschaftler Kay Bourcade im Dlf. Problematisch sei, dass politische Versprechen an die Idee eines exponentiellen Wachstums geknüpft worden seien - und dann nicht eingelöst wurden.

Kay Bourcarde im Gespräch mit Birgid Becker |
    Containerschiffe kurz nach Sonnenuntergang im Hamburger Hafen am Terminal Burchardkai
    Trotz sinkender Wachstumsraten könne man, wenn man hinter die Raten schaue, feststellen, dass sich dort ein ganz stabiles lineares Wachstum verberge, sagte Kay Bourcade im Dlf. (dpa / Daniel Reinhardt)
    Birgid Becker: Eine Gruppe junger Wissenschaftler – zum Teil Ökonomen, zum Teil Juristen – stellt der gängigen Wachstumsbetrachtung ein Misstrauensvotum aus und wirbt dafür, Wachstum ganz anders zu betrachten. Ganz anders heißt in diesem Fall zunächst: mathematisch anders. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass es ein Irrtum ist, Wachstum – so wie es meist gemacht wird – als exponentiellen Verlauf zu betrachten. Wie Wachstum nach seiner Meinung betrachtet und bemessen werden sollte, habe ich vor der Sendung Kay Bourcarde erklären lassen. Er hat ein Buch mit dem Titel "Die Scheinkrise" geschrieben, in dem es um eine andere Wachstumsbetrachtung geht.
    Kay Bourcade: Wenn wir uns angucken, wie das Wachstum in der Bundesrepublik, aber auch in anderen entwickelten Volkswirtschaften in den letzten 60 Jahren gewachsen ist, dann stellt man fest, dass es nicht diesen Normalfall gegeben hat - nämlich dass man grundsätzlich unter normalen Bedingungen davon ausgeht, wir haben konstante Wachstumsraten - sondern wir haben ja schon im Grunde seit 50, 60 Jahren sinkende Wachstumsraten. Und das wirkt erst mal so, als hätten sich die Rahmenbedingungen verschlechtert, als würde unser Wachstum immer mehr an Dynamik verlieren. Tatsächlich aber kann man, wenn man hinter die Wachstumsraten schaut, feststellen, dass sich da ein ganz stabiles lineares Wachstum verbirgt. In Deutschland beispielsweise ist das Inlandsprodukt jedes Jahrzehnt konstant um etwa 300 Milliarden Euro gewachsen – zu Wirtschaftswunderzeiten genauso wie heute. Das heißt, hinter diesem absinkenden, relativen Wachstum in Prozentraten finden wir ein ganz stabiles, lineares Wachstum, das, anders als es sonst den Eindruck hat, eben nicht danach aussieht, als würde es uns ökonomisch immer schlechter und schlechter gehen.
    Exponentielles oder lineares Wachstum
    Becker: Und trotzdem gehen die Ökonomen ja von etwas aus, das exponentielles Wachstum genannt wird. Können Sie diesen Unterschied so erklären, dass das auch jemand versteht, der in der siebten Klasse mit dem Thema Mathematik abgeschlossen hat?
    Bourcade: Ja, das klingt zugegebenermaßen auf Anhieb etwas mathematisch trocken. Also wenn wir von exponentiellem Wachstum reden, dann sprechen wir eben von einem Wachstum um konstante Prozentraten. Das bedeutet beispielsweise jedes Jahr ein Wirtschaftswachstum von zwei oder drei Prozent. Wenn Sie sich anschauen, wie das Bruttoinlandsprodukt sich entwickeln würde, wenn Sie ein solches exponentielles Wachstum haben, dann sehen Sie da grafisch dargestellt eine immer steiler ansteigende Kurve.
    Wenn Sie hingegen ein lineares Wachstum haben, dann haben Sie konstante absolute Beträge, wie gesagt, 300 Milliarden Euro etwa pro Jahrzehnt. Ein solches lineares Wachstum führt aber, weil der Ausgangswert, das Bruttoinlandsprodukt, durch vorausgegangenes Wachstum immer weiter angestiegen ist, führt das dazu, dass die Prozentraten quasi mathematisch zwangsläufig immer weiter zurückgehen. Nicht, weil unsere ökonomischen Rahmenbedingungen jetzt zwingend schlechter werden, sondern einfach weil wir von einem höheren Niveau aus wachsen. Wir haben im Grunde bei linearem Wachstum, wie das Wort schon sagt, linear, haben Sie eine schnurgerade Linie. Bei exponentiellem Wachstum haben Sie eine Kurve.
    Das heißt, wenn Sie sich anschauen, wie unsere Erwartungen gewesen wären in den 70er-Jahren, dann wäre das im Grunde bis heute eine immer steiler ansteigende Kurve. Und wenn Sie sich dann anschauen, wie die Entwicklung tatsächlich war, dann sehen Sie eben diese schnurgerade Linie, die dann hinter dem exponentiellen, dem erwarteten exponentiellen Wachstum immer weiter zurückbleibt.
    Politik habe soziale Einschnitte mit einem Versprechen verbunden
    Becker: Nun geht es Ihnen aber nicht um ein mathematisches Problem. Es geht Ihnen darum, dass aus diesem Betrachtungsirrtum, wie Sie glauben ihn entdeckt zu haben, ein politisches Problem erwächst.
    Bourcade: Genau. Es geht uns im Grunde um eine zusätzliche Erklärung auch für die Krise, in der sich die etablierte Politik heute befindet. Diese Krise hat ihren Anfang nämlich wahrscheinlich dann schon vor 20 Jahren genommen. Sie werden sich erinnern, da war die Diskussion in Deutschland ja geprägt von Ruckreden und der Debatte um die Agenda 2010, und damals hat die Politik damit begonnen, die Bewältigung vieler politischer Herausforderungen von einer zentralen Formulierung abhängig zu machen: Erst müssen wir unserer schwächeren Wirtschaft neuen Schwung verleihen, dann schaffen wir auch alles andere. Die Logik dahinter war, dass wir mit höherem Wachstum den Sozialstaat finanzieren können, unsere Infrastruktur ausbauen, konsequenten Umweltschutz betreiben oder Armut und Ungleichheit bekämpfen. So, und dahinter steckt aber genau diese Vorstellung, dass Volkswirtschaften typischerweise wachsen und man zu diesen konstanten Prozentraten zurückkehren kann. Wir gehen von einer bestimmten Wachstumsdynamik als Normalfall aus und bauen auch darauf blind schon Vorhaben auf, die empirisch betrachtet aber gar nicht existiert hat, und das Problem dabei ist jetzt, dass die Politik viele der sozialen Einschnitte der vergangenen zwei Jahrzehnte ja mit einem Versprechen verbunden hat: Wir muten euch heute etwas zu, aber wir tun das, damit es morgen allen besser geht, weil wir dann wieder höheres Wachstum haben, das beispielsweise die Armut senkt und höhere Löhne für die breite Masse bringt. Jetzt kamen aber diese höheren Wachstumsraten nicht, konnten in einer linear wachsenden Volkswirtschaft auch langfristig gesehen auch gar nicht kommen, und dementsprechend konnten auch die dahinterstehenden Wahlversprechen nicht eingelöst werden. Dementsprechend sind dann auch viele darauf basierende Vorhaben gescheitert oder konnten zumindest nicht so funktionieren, wie man sich das erhofft hat.
    "Wir fokussieren uns ganz stark auf diese Wachstumsrate"
    Becker: Ihr Buch, das Sie gemeinsam mit einem Co-Autor geschrieben haben, heißt "Die Scheinkrise", und im Untertitel stellen Sie die These auf, dass es uns besser gehe, als je zuvor und wir dennoch das Gefühl haben zu scheitern. Dieses stete Gefühl des Scheiterns, das haben wir deshalb, weil wir von vornherein die Ausgangslage falsch betrachtet haben. Das glauben Sie.
    Bourcade: Na ja, wir haben ja nun unseren ökonomischen Erfolg daran festgemacht im Wesentlichen, wie sich unsere Wirtschaft langfristig entwickelt, und wir gehen grundsätzlich erst mal davon aus, dass wenn wir ökonomisch gleich erfolgreich sind wie in der Vergangenheit, dass dann die Wachstumsrate in etwa gleich bleibt. Das kann man sich im Grunde ja so vorstellen wie ein umgekehrtes Fieberthermometer: Wenn die Wachstumsrate sinkt, ist das ein Anzeichen dafür, dass in ökonomischer Hinsicht irgendetwas nicht stimmt und wir gegensteuern müssen. So, das heißt, wir fokussieren uns ganz stark auf diese Wachstumsrate und übersehen das dahinterliegende, ungeheuer stabile lineare Wachstum, das, wie gesagt, heute genauso stabil und genauso hoch ist wie noch zu Wirtschaftswunderzeiten. Das heißt, wir wachsen mit der gleichen Dynamik wie damals, wie vor 50 Jahren, wie vor 30 Jahren, wie vor 20 Jahren, nur ist diese Dynamik eben eine lineare und keine exponentielle, und das verleitet dann zu der Einschätzung, dass es uns im Grunde von der Wachstumsdynamik aus betrachtet immer schlechter geht.
    Becker: Nennen Sie doch Beispiele für eine falsche Politik, die aus einer falschen Annahme heraus folgt.
    Bourcade: Ein sicherlich sehr prägnantes Beispiel ist die Riesterrente. Die wurde ja eingeführt, um als Ausgleich zu den verschiedenen vorherigen Reformen im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung einen Ausgleich fürs Rentenniveau zu bringen, und das Versprechen, was damit verbunden war, war, wenn ihr hier in die Riesterrente einzahlt, könnt ihr das ausgleichen, das setzt aber voraus, dass das Geld, was in die Riesterrente eingezahlt wird, am Kapitalmarkt angelegt und da exponentiell vermehrt wird. Das ist ausdrücklich auch in einem Rechenbeispiel von der Bundesregierung so drin. So, ein solches exponentielles Wachstum des angelegten Vermögens kann aber nur funktionieren in einer grundsätzlich auch exponentiell wachsenden Realwirtschaft, und die gab es nicht, und dementsprechend mussten auch die Zinssätze langfristig sinken, und sie werden auch künftig weiter sinken. Also wir reden jetzt nicht von einer Niedrigzinsphase, sondern die Zinssätze folgen dem linearen Wachstum der Realwirtschaft und werden dementsprechend auch künftig immer niedriger sein, und dementsprechend kann die Riesterrente nicht das abwerfen, was ursprünglich, als sie mal installiert worden war, vorgesehen war.
    Politikverdrossenheit als Folge unerfüllter Erwartungen
    Becker: Sie gehen ja auch von sehr weitreichenden Folgen aus von diesem Wachstumsirrtum. Folgen, die reichen bis zum Erstarken der Rechtsparteien.
    Bourcade: Also wir schreiben ja nicht, dass diese Fehlannahme jetzt die Ursache dafür gewesen ist, sondern das ist eine aus unserer Sicht zusätzliche Perspektive, die man da mit reinnehmen muss. Man muss sich klarmachen, die Politik hat ja ganz viele ihrer Reformen mit einem Versprechen verbunden. Sie hat es mit dem Versprechen verbunden, dass sich die teilweise ja doch tiefen Einschnitte ins soziale Netz auszahlen werden, und viele dieser Versprechen, die damals gemacht worden sind, auch nicht in böser Absicht gemacht worden sind, aber die konnten nachher nicht eingelöst werden, weil das höhere Wachstum eben nicht gekommen ist, in einer linear wachsenden Volkswirtschaft gar nicht kommen konnte. Das ist sicherlich ein Grund dafür, wie gesagt, einer unter vielen, ein Grund dafür, dass eine gewisse Politikverdrossenheit eingetreten ist, weil Versprechen nicht erfüllt werden, erfüllt werden konnten.
    Becker: Was man aber auch sagen muss, Herr Bourcade, man braucht schon ziemlich viel Selbstbewusstsein, wenn man sagt, wie Sie das tun, alle anderen irren, aber Sie haben den Irrtum erkannt, oder Sie sagen ja auch in Ihrem Kapitel, dass es da um einen Irrtum geht, der Karriere gemacht hat. Also woher kommt dieses Selbstbewusstsein?
    Bourcade: Es ist nicht so, dass wir jetzt den Irrtum in dem Sinne entdeckt hätten. Also es sind die ersten Wissenschaftler schon in den 90er-Jahren, Ökonomen, die darauf hingewiesen haben, dass moderne Volkswirtschaften eben einer anderen Wachstumsdynamik folgen als gemeinhin angenommen wird. Das, was wir jetzt in diesem Buch in der Form erstmalig gemacht haben, ist, zu sagen, wir stellen das jetzt in einen größeren gesellschaftlichen Kontext, wir schauen, was es bedeutet, wenn eine Gesellschaft vom Grundsatz her davon ausgeht, sich exponentiell entwickeln zu können, daran auch politische Vorhaben ausrichtet und ihren Erfolg in ökonomischer Hinsicht misst und dieses exponentielle Wachstum dann aber einfach nicht eintritt, empirisch nachweisbar nicht eingetreten ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.