Wissenschaftler kommen üblicherweise auf Tagungen zusammen. Sie berichten dort ausführlich über ihre neusten Forschungen, konträre Debatten sind selten. Ganz anders in Jena. Das Wissenschaftskolleg "Postwachstumsgesellschaften" der Universität hatte zum Hearing eingeladen: Experten hatten kurz und knapp Antworten auf vorgegebene Fragen zu geben, die dann diskutiert wurden. Zum Beispiel nach der Demokratie an sich und ihrem Grad der Gefährdung. Für Professorin Tine Stein, Politikwissenschaftlerin an der Kieler Uni, sind Merkmale wie eine ähnliche Bildung, aber auch eine ähnliche Haltung zur Demokratie ausschlaggebend. Der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das einst unter dem Begriff "Homogenität" zusammengefasst.
"Darunter versteht er einen gewissen sozialen Ausgleich – auch in ökonomischer Hinsicht. Er versteht darunter aber auch ein Wir-Bewusstsein, eine Solidarität. Und schließlich: Es bedarf einer bestimmten Haltung der Bürgerinnen und Bürger, einer – man könnte sagen – demokratischen Sittlichkeit, den anderen / die andere als womöglich Gegner zu sehen, aber nicht als einen Feind zu erachten, den es zu vernichten gilt, sondern jemand, den man in seiner politischen Meinung respektiert."
Was tun? Die Ober- und Mittelschicht zum Verzicht auffordern?
Woran aber liegt es, dass es auch hierzulande zumindest verbale Ansätze für Mord und Totschlag gibt und dadurch demokratische Regeln abgelehnt werden?
Professor Ingolfur Blühdorn leitet das Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit an der Uni Wien. In seinen Augen sei das Demokratieverständnis vergangener Jahrzehnte zu einer leeren Hülse geworden.
"Mein Ausgangspunkt ist immer das, was für die sozialen Bewegungen in den 70er- und 80er-Jahren, in entstehenden grünen Parteien die idealisierten Formen von partizipatorischer, egalitärer Demokratie das Projekt waren. Und dieses Projekt hat sich offensichtlich entleert."
Jedenfalls fühle sich die junge Generation nicht mehr vertreten. Die Hülse der Demokratie blieb bislang mehr oder minder erfolgreich durch ein imperiales Wachstum erhalten, weil einiges vom Reichtum der Oberschicht nach unten umverteilt wurde und so auch die Unterschicht in die Gesellschaft integriert blieb.
"Aber dieses Wachstum ist nicht mehr da, und das verstärkt sozusagen den Umverteilungsdruck von unten nach oben. Und verstärkt den Exklusionsdruck: In unseren Postwachstumsgesellschaften wird Exklusion zum zentralen Problem und zum zentralen Strukturmerkmal, denke ich."
Was tun? Die Ober- und Mittelschicht zum Verzicht auffordern? Wie im November 1973 autofreie Sonntage durchsetzen? Sich prinzipiell vom Wachstum verabschieden? Tine Stein nennt das eine naive Idee: "Gesellschaften brauchen eine gewisse Dynamik, um sich überhaupt immer wieder neu zu regenerieren und erfinden zu können. Die Vorstellung einer stabilen Gesellschaft, die sich mit dem bescheidet, was da ist, wird dazu führen, dass die Gesellschaft zurückfällt."
Nicht mehr die Wirtschaft setzt die Vorgaben für die Gesellschaft
Und zwar im soziokulturellen Sinne; die Ausstattung mit noch mehr Konsumgütern ist dagegen nebensächlich. Und so ging es bei den Debatten in Jena um eine neue Art des Wirtschaftens, deren eine Idee bereits in der Weimarer Republik entstand: die Wirtschaftsdemokratie.
"Wirtschaftsdemokratie würde in der Konsequenz heißen, dass sehr viele Entscheidungen, die jetzt entscheidungsverschlossen sind in der Ökonomie - also: Was soll mit welchen Mitteln wozu produziert werden? – politisiert werden und entscheidungsoffen sind."
Nicht mehr die Wirtschaft setze also die Vorgaben für die Gesellschaft; das Verhältnis werde vielmehr umgekehrt, sagt Hearings-Gastgeber Klaus Dörre; der Jenaer Soziologieprofessor ist zugleich Sprecher des Kollegs "Postwachstumsgesellschaften". Wirtschaftsdemokratie sei eine langwierige Folge tief greifender Veränderungen und brauche vor allem "neue Eigentumsformen: Verwandlung von Unternehmen in Mitarbeitergesellschaften und die Maximierung von Partizipation auf den unterschiedlichsten Stufen, vom Arbeitsplatz über das Unternehmen bis in die Gesellschaft. Dass bei Wahlen nicht mehr nur Parteien und ihre Programme zur Abstimmung stehen, sondern Planungsalternativen, die im Kleinen Schwerpunkte setzen. Also es gibt eine Variante, für die man die Ressourcen einsetzen kann, dann gehen andere Dinge nicht; es gibt eine Variante B, für die man Dinge einsetzen kann, dann gehen andere Dinge nicht."
Dass das gar nicht so fern der Realität ist, erfuhr Dr. Hans-Jürgen Urban vom Vorstand der IG-Metall während der Finanzkrise. Der Plan: Vergeben wir Finanzmittel, durchaus in dreistelliger Milliardenhöhe, aus einem öffentlichen Fond – vorausgesetzt, sie halten einem sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitscheck stand.
"Das würde bedeuten, all die Diskussionen um die ökologischere Verträglichkeit von Produktion, von Produkten und so weiter jetzt endlich ernst zu nehmen. Zweite Kondition: Wo öffentliches Geld fließt, muss öffentliches Eigentum entstehen und öffentlicher Einfluss institutionalisiert werden. Also nicht die Vorstellung: Wir geben Geld, und dann hauen wir wieder ab. Und die dritte Auflage, um Geld zu erhalten, war die Verpflichtung der Unternehmen zu einem Feedback der strategischen Entscheidungen mit der Gesellschaft."
Ein Kompass soll entstehen
Das habe ihm zu Beginn der Krise ein paar Einladungen bei Arbeitgeberkonferenzen eingebracht. Als allerdings das Gelddrucken begann und erste Anzeichen einer Erholung einsetzten, versiegte das Interesse der Wirtschaft. "Das halte ich aus. Aber auch in den eigenen Reihen, die Bereitschaft dieses Konzept zu diskutieren – fast wieder bei null."
Trotzdem wird weiter an Konzepten gearbeitet. Wie müssen die Märkte beschaffen sein? Brauchen wir den besonders anfälligen Finanzmarkt? Lösen wir ihn doch einfach auf! provozierte Hartmut Rosa, Jenaer Soziologieprofessor. Das muss nicht sein, antwortete Michael Krätke, Professor für Politische Ökonomie an der Uni Lancaster. Kredite wurden einst durch persönlich verbürgte Wechsel vergeben. Davon haben uns Finanzmärkte befreit.
"Was wir nicht brauchen, sind jede Menge von Finanzprodukten, mit denen diese in Waren verwandelt werden, und zwar in einer Weise, dass sie völlig unkontrollierbar, undurchsichtig sind und ausschließlich nur noch dazu dienen, Differenzgewinne zu machen. Das wäre pragmatisch machbar, schon heute, durch einfache Gesetzgebung."
Jedenfalls theoretisch. Das Jenaer Kolleg will in den kommenden Jahren über beschreibende Theorien hinausgehen und praktikable Ansätze unterbreiten: Ein Kompass soll entstehen, wie neue Formen von Wirtschaft und Gesellschaft aussehen könnten und welche Schritte dazu nötig wären. Was letztlich spürbare Folgen für alle hätte, prophezeit Klaus Dörre.
"Wirtschaftsdemokratie würde auch heißen, dass der Zeitanteil, den jeder einzelne aufwenden kann für Arbeit an der Demokratie und am Gemeinwesen, vergrößert werden muss – was umgekehrt heißen würde, dass der Anteil für Erwerbsarbeit im Verhältnis dazu reduziert werden müsste. Der Gesellschaft würde dann auf keinen Fall die Arbeit ausgehen, weil: Die Arbeit an der Demokratie ist unendlich."