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Wachstumshilfe für verletzte Nerven

Neurophysiologie. - Nervenschäden sind notorisch schwer zu heilen. Durchtrennte Fasern jenseits von Gehirn und Rückenmark lassen sich zwar heutzutage flicken, ihre Funktion kann aber nicht vollständig wiederhergestellt werden. Wissenschaftler aus den USA haben jetzt eine neue Reparaturmethode für periphere Nerven entwickelt.

Von Marieke Degen |
    Die Versuchsratten krabbeln leichtfüßig über ein langes, schmales Brett, und balancieren geschickt ein dünnes Drahtseil entlang. Für den Neurowissenschaftler George Bittner von der Universität von Texas in Austin ist das ein Riesenerfolg. Denn zwei Wochen vorher hatte er den Ischiasnerv der Ratten durchtrennt.

    "Im Ischiasnerv laufen ein paar Millionen Nervenzellen parallel. Wenn man bei einer Ratte den Ischiasnerv komplett durchtrennt, kann sie das Bein von der Verletzung abwärts weder bewegen noch spüren."

    Trotzdem sind die Ratten nach ein paar Wochen wieder munter in ihrem Käfig herumgeklettert. Ihr Ischiasnerv war fast vollständig wieder zusammengewachsen - dank einer neuen Behandlungsmethode, die George Bittner und sein Team entwickelt haben.

    "Wenn ein Patient einen peripheren Nerv verletzt hat, dann nähen Chirurgen die beiden Nervenenden mit einem ganz feinen Faden wieder zusammen. Das ist heute Standard. Der Nerv bekommt dadurch aber nur 15 bis 25 Prozent seiner ursprünglichen Funktionsfähigkeit zurück. Bei den Ratten haben wir jetzt zusätzlich eine Reihe von Substanzen auf die verletzte Stelle gegeben. Die Nervenzellen haben sich schneller und besser erholt – und zwar bis zu 80 Prozent."

    Die Substanzen helfen dem Nerv dabei, wieder richtig zusammenzuwachsen. Von Natur aus klappt das nämlich nicht besonders gut. Wenn ein Nerv durchtrennt ist, dann werden die beiden Enden ziemlich schnell versiegelt, so dass sie sich nicht mehr richtig miteinander verbinden können. Nervensignale werden kaum noch weitergeleitet - auch dann nicht, wenn der Nerv zusammengeflickt worden ist. Genau das soll der Chemikaliencocktail aus Austin offenbar verhindern. Das Geheimnis liege in der richtigen Reihenfolge, sagt George Bittner.

    "Zuerst tragen wir eine salzhaltige Lösung auf die Nervenenden auf. Sie verhindert, dass sich die Enden verschließen. Danach nähen wir die Enden zusammen und spülen die Stelle ein paar Minuten mit einer Substanz namens Polyethylenglycol – sie sorgt dafür, dass die beiden Stücke wieder zu einem durchgängigen Strang zusammenschmelzen."

    Bei Ratten hat die Methode gut funktioniert. Aber funktioniert sie auch beim Menschen? Das kann im Moment noch keiner sagen. Giorgio Terenghi ist Biologe an der Universität von Manchester, er beschäftigt sich ebenfalls mit verletzten Nerven. Bei Menschen, sagt er, sehen solche Verletzungen ganz anders aus als bei Ratten.

    "Da ist zum Beispiel die Größe der Verletzung. Bei Ratten liegen zwischen den Nervenenden maximal 1,5 Zentimeter. Wenn sich Menschen verletzen, fehlt schon mal ein Stück von vier oder fünf Zentimetern. Nerven wachsen mit einer Geschwindigkeit von einem Millimeter pro Tag. Beim Menschen würde es also mindestens 40 Tage dauern, bis die Nervenenden wieder zueinander gefunden hätten. Bis dahin ist der Teil der Nervs, der vom Nervensystem abgeschnitten worden ist, längst abgestorben. Das ist ein praktisches Problem, das gelöst werden muss."

    George Bittner arbeitet bereits daran: Mit bestimmten Medikamenten, sagt er, könne man die Nervenstücke tagelang am Leben erhalten. Giorgio Terenghi verfolgt da einen anderen Ansatz. Er überbrückt die Nervenenden mit einem Röhrchen. Das Röhrchen ist mit körpereigenen Stammzellen ausgekleidet. Mit Hilfe der Stammzellen sollen die Nervenenden viel schneller wieder zusammenwachsen. Bei Ratten habe das auch schon gut funktioniert.

    "Welche Methode wirklich die beste ist, wissen wir aber erst, wenn wir sie am Patienten testen. Well, you never know until you try","

    sagt auch George Bittner. Er will seinen Chemikaliencocktail so bald wie möglich bei verletzten Menschen ausprobieren. Der große Vorteil: Alle Wirkstoffe sind schon zugelassen, sie werden schon bei Operationen verwendet – nur eben nicht in dieser Kombination.

    ""Das ist eine wesentlich bessere Ausgangslage, als wenn wir unbekannte Substanzen benutzen würden, von denen keiner weiß, welche Schäden sie womöglich anrichten könnten."