Die Fußnote Nummer 36 hat es in sich. Ein Sohn des wegen Korruptionsvorwürfen abgesetzten Präsidenten des Leichtathletik-Weltverbandes, Lamine Diack, soll im Vorfeld der Vergabe der Olympischen Sommerspiele 2020 mit türkischen Vertretern über einen Sponsorendeal in Höhe von vier bis fünf Millionen Dollar verhandelt haben. Die Türken hätten sich nicht darauf eingelassen. Die Japaner hingegen hätten das Geld bezahlt. Lamine Diack, damals auch Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, habe deswegen nicht Istanbul, sondern Tokio unterstützt. Der Präsident des türkischen Olympischen Komitees, Uğur Erdener, will aber keine Unregelmäßigkeiten erkennen.
"Die Türkei wurde nicht benachteiligt. Der Bericht thematisiert das nicht."
Erdener bestreitet auch, dass der Bericht einen Hinweis auf Japan beinhalte.
"In diesem Bericht gibt es keinerlei Hinweise auf Japan. Es gibt keine Anschuldigung und auch nicht die kleinste Notiz darüber, dass irgendwelche Vereinbarungen getroffen wurden."
Keine Beweise für unrechtmäßiges Verhalten Japans
Uğur Erdener kann der Bericht der unabhängigen Kommission der Welt-Anti-Doping-Agentur aber kaum entgangen sein. Der Präsident des türkischen Nationalverbandes wurde ein Jahr nach der Vergabe der Olympischen Sommerspiele an Tokio in den Vorstand des IOC gewählt. 2013, als die Abstimmung stattfand, war er noch ein einfaches Mitglied. Er weiß, dass damals Mitglieder des Istanbuler Bewerberteams wegen eines Sponsorendeals angesprochen wurden, sagt er. Aber sie hätten das Angebot abgelehnt. Es gebe keine Beweise dafür, dass sich Japan unrechtmäßig verhalten habe. Deswegen werde die Türkei keine Beschwerde beim IOC einlegen.
"Ich war während des gesamten Bewerbungs- und Vergabeprozesses dabei und verfüge als Vorstandsmitglied des IOC über detaillierte Informationen in dieser Sache. Insofern sage ich: Solange es keine Belege und Beweise gibt, kann niemand jemanden verdächtigen oder beschuldigen."
Auch wenn der ehemalige Leichtathletik-Präsident Diack wegen eines in seinem Sinne zustande gekommenen Sponsorendeals für Japan gestimmt haben sollte, so Erdener, könne seine Stimme nicht das Abstimmungsergebnis beeinflusst haben. Denn er habe wie jedes IOC-Mitglied nur eine Stimme gehabt. Istanbul hatte 36, Tokio 60 Stimmen erhalten. Der renommierte türkische Sportjournalist Murat Ağca will auch nicht von einer Benachteiligung der Türkei sprechen, aber ganz unproblematisch findet er die Vorgänge nicht.
Frage nach ethischem Verhalten
"Ungerecht würde ich nicht sagen, aber die Frage ist, ob das alles ethisch einwandfrei war. In der finalen Abstimmung hat Istanbul gegen Tokio eindeutig verloren. Die Stimmen der IOC-Mitglieder aus dem Lager der Leichtathletik hätten das Ergebnis nicht beeinflussen können. Aber aus ethisch-moralischer Sicht hätte einiges anders laufen müssen. Schließlich hat aber das IOC Untersuchungen angeordnet."
Ağca ist einer der wenigen türkischen Sportjournalisten, die regelmäßig über die Olympischen Spiele berichten. In der türkischen Öffentlichkeit wird dieses Thema nicht diskutiert, auch gibt es keine Diskussionen in den Medien, sagt er. Das ist ungewöhnlich; denn die türkischen Medien und Öffentlichkeit sind normalerweise sehr empfindlich, wenn es um eine mögliche Benachteiligung geht. Den Kenner der türkischen Sportseele, Murat Ağca, überrascht diese Ruhe nicht.
"Die türkische Sportberichterstattung lebt nur von Fußball. Über die Olympiavergabe gab es nur einige Notizen in den Zeitungen. Dass sich niemand in der Türkei über das Thema aufregt, kann auch mit der Ruhe des türkischen Olympischen Komitees zu tun haben. Deswegen haben die Medien das Thema auch nicht weiter aufgegriffen. Und die Menschen wissen gar nichts darüber."
Ağca kann verstehen, dass der Präsident des Türkischen Olympischen Komitees nicht gegen das IOC, in dessen Vorstand er selbst sitzt, vorgehen möchte. Aber die Türkei sollte die angeordnete Untersuchung aufmerksam verfolgen, sagt er.
"Ich finde, die Türkei sollte nicht zu passiv sein, sondern bei der Untersuchung wenigstens als Nebenklägerin auftreten."