Ein brillanter Mathematiker ist er, doziert am Elitecollege Christ Church in Oxford, doch manche halten ihn für seltsam verschroben. Charles Lutwidge Dodgson stottert, trägt Handschuhe, um jeglichen Hautkontakt zu vermeiden, und verbringt seine Freizeit lieber mit Kindern als mit Erwachsenen. Besonders häufig ist er mit Alice Liddell, der Tochter seines Vorgesetzten zusammen. Er lädt sie zu Tee und Ausflügen ein.
Am 4. Juli 1862 tuckert er mit ihr und ihren zwei Schwestern auf der Themse. Auf schläfrigem Fluss gleitet das Boot dahin, Langeweile breitet sich aus, Alice bettelt:
"Eine Geschichte, bitte erzählen Sie uns eine Geschichte!"
Darauf hat der 30-jährige Junggeselle, der unter dem Namen Lewis Carroll schon Nonsensegedichte verfasst hat, nur gewartet. Aus dem Stegreif beginnt er zu erzählen. Von dem Mädchen Alice, das einem weißen Hasen folgt, in ein Kaninchenloch fällt und allerlei merkwürdige Gestalten trifft. Die Zuhörerinnen sind begeistert, besonders Alice, die in dem bizarren Erzählfragment nicht nur sich, sondern auch ihre Katze wiederfindet. Sie will wissen, wie die Geschichte weitergeht. Zwei Jahre später bekommt sie "Alices Abenteuer unter der Erde" zu Weihnachten geschenkt. 1865 erscheint die erste Druckausgabe, der Titel jetzt: "Alice im Wunderland." Rüdiger Steinlein, Experte für Kinder- und Jugendliteratur an der Humboldt-Universität Berlin:
"Der Beginn der deutschsprachigen intentionalen Kinderliteratur ist auch so aus einer mündlichen Erzählung hervorgegangen, nämlich Joachim Heinrich Campes 'Robinson der Jüngere' aus dem Jahr 1779/80. Das war ursprünglich eine Erzählung für seine Zöglinge."
"Alice im Wunderland" wird ein Klassiker der britischen Kinderzimmer, obwohl das Buch voller Wortspiele steckt und der Autor mit abstrakten Begriffen jongliert. Offenbar verstehen selbst ganz junge Leser die Grundaussage sehr wohl: Gegen das exzentrische Verhalten der Fabeltiere setzt sich Alice mit ihrem Schulwissen zur Wehr - und scheitert grandios.
'Wenn ich ein Wort gebrauche', sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, 'dann heißt es genau, was ich für richtig halte - nicht mehr und nicht weniger.' 'Es fragt sich nur', sagte Alice, 'ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.' 'Es fragt sich nur', sagte Goggelmoggel, 'wer der Stärkere ist, weiter nichts.'
Hinter den Explosionen des Komischen lauern Schrecken und Sadismus. Die moralinsaure Kinderliteratur des viktorianischen Zeitalters lässt Lewis Carroll mit "Alice im Wunderland" und auch der Fortsetzung "Alice hinter den Spiegeln" weit hinter sich.
"Da sind Elemente - etwas hochgestochen gesagt - von Identitätssuche drin, ohne dass man sagen könnte, dass das ein gezielter Prozess ist, dass dieses Kind sich dieser Auseinandersetzung jetzt bewusst stellt, es gerät hinein und der Verlauf, der könnte auch so gedeutet werden, dass er Aspekte einer Identitätsdissoziation, Verunsicherung hat, aus der dieses Kind nicht als gestärkte Persönlichkeit hervorgeht, sondern es wacht ja auf am Ende wie aus einem Traum."
Lewis Carroll stirbt am 14. Januar 1898 als hoch angesehener, dank seiner Bücher auch vermögender Mann. Der eigentliche Hype um "Alice im Wunderland" beginnt erst gut 20 Jahre später, als sich in Oxford eine Lewis-Carroll-Fangemeinde etabliert. Mittendrin: Alice Liddell, von Journalisten gejagt. Immer wieder muss sich die alte Dame an die legendäre Themsefahrt vom 1862 zurückerinnern.
"Ich bin es so müde, immer nur Alice im Wunderland zu sein."
Mit der Walt-Disney-Verfilmung von 1951 gelingt "Alice im Wunderland" der internationale Durchbruch. Bis heute wurde das Buch in mehr als 50 Sprachen übersetzt und über 30 Mal verfilmt, zuletzt von Kultregisseur Tim Burton. Mit seinem Meisterstück der sogenannten Nonsenseliteratur, das als frühes Beispiel von "all-age-literature" gelten kann, beeinflusste Lewis Carroll Surrealisten wie André Breton und Louis Aragon, aber auch James Joyce und Virginia Woolf. Literaturwissenschaftler Rüdiger Steinlein:
"Da ist er natürlich nach wie vor aktuell, weil er einer der großen Vorläufer ist neben E.T.A Hoffmann und anderen der explizit kinderliterarischen Fantastik, und Fantastik ist das Erzähl- und Inszenierungsmodell par excellence. Und damit können Sie heute Ihren Reibach machen, wie man sieht an Harry Potter, das ist ja auch natürlich eine fantastische Zwei-oder Mehr-Welten-Geschichte und ohne dass sie dieses Modell bedient hätte, wäre die Frau Rowling, mit Sicherheit nicht in diese Höhen vorgedrungen."
Am 4. Juli 1862 tuckert er mit ihr und ihren zwei Schwestern auf der Themse. Auf schläfrigem Fluss gleitet das Boot dahin, Langeweile breitet sich aus, Alice bettelt:
"Eine Geschichte, bitte erzählen Sie uns eine Geschichte!"
Darauf hat der 30-jährige Junggeselle, der unter dem Namen Lewis Carroll schon Nonsensegedichte verfasst hat, nur gewartet. Aus dem Stegreif beginnt er zu erzählen. Von dem Mädchen Alice, das einem weißen Hasen folgt, in ein Kaninchenloch fällt und allerlei merkwürdige Gestalten trifft. Die Zuhörerinnen sind begeistert, besonders Alice, die in dem bizarren Erzählfragment nicht nur sich, sondern auch ihre Katze wiederfindet. Sie will wissen, wie die Geschichte weitergeht. Zwei Jahre später bekommt sie "Alices Abenteuer unter der Erde" zu Weihnachten geschenkt. 1865 erscheint die erste Druckausgabe, der Titel jetzt: "Alice im Wunderland." Rüdiger Steinlein, Experte für Kinder- und Jugendliteratur an der Humboldt-Universität Berlin:
"Der Beginn der deutschsprachigen intentionalen Kinderliteratur ist auch so aus einer mündlichen Erzählung hervorgegangen, nämlich Joachim Heinrich Campes 'Robinson der Jüngere' aus dem Jahr 1779/80. Das war ursprünglich eine Erzählung für seine Zöglinge."
"Alice im Wunderland" wird ein Klassiker der britischen Kinderzimmer, obwohl das Buch voller Wortspiele steckt und der Autor mit abstrakten Begriffen jongliert. Offenbar verstehen selbst ganz junge Leser die Grundaussage sehr wohl: Gegen das exzentrische Verhalten der Fabeltiere setzt sich Alice mit ihrem Schulwissen zur Wehr - und scheitert grandios.
'Wenn ich ein Wort gebrauche', sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, 'dann heißt es genau, was ich für richtig halte - nicht mehr und nicht weniger.' 'Es fragt sich nur', sagte Alice, 'ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.' 'Es fragt sich nur', sagte Goggelmoggel, 'wer der Stärkere ist, weiter nichts.'
Hinter den Explosionen des Komischen lauern Schrecken und Sadismus. Die moralinsaure Kinderliteratur des viktorianischen Zeitalters lässt Lewis Carroll mit "Alice im Wunderland" und auch der Fortsetzung "Alice hinter den Spiegeln" weit hinter sich.
"Da sind Elemente - etwas hochgestochen gesagt - von Identitätssuche drin, ohne dass man sagen könnte, dass das ein gezielter Prozess ist, dass dieses Kind sich dieser Auseinandersetzung jetzt bewusst stellt, es gerät hinein und der Verlauf, der könnte auch so gedeutet werden, dass er Aspekte einer Identitätsdissoziation, Verunsicherung hat, aus der dieses Kind nicht als gestärkte Persönlichkeit hervorgeht, sondern es wacht ja auf am Ende wie aus einem Traum."
Lewis Carroll stirbt am 14. Januar 1898 als hoch angesehener, dank seiner Bücher auch vermögender Mann. Der eigentliche Hype um "Alice im Wunderland" beginnt erst gut 20 Jahre später, als sich in Oxford eine Lewis-Carroll-Fangemeinde etabliert. Mittendrin: Alice Liddell, von Journalisten gejagt. Immer wieder muss sich die alte Dame an die legendäre Themsefahrt vom 1862 zurückerinnern.
"Ich bin es so müde, immer nur Alice im Wunderland zu sein."
Mit der Walt-Disney-Verfilmung von 1951 gelingt "Alice im Wunderland" der internationale Durchbruch. Bis heute wurde das Buch in mehr als 50 Sprachen übersetzt und über 30 Mal verfilmt, zuletzt von Kultregisseur Tim Burton. Mit seinem Meisterstück der sogenannten Nonsenseliteratur, das als frühes Beispiel von "all-age-literature" gelten kann, beeinflusste Lewis Carroll Surrealisten wie André Breton und Louis Aragon, aber auch James Joyce und Virginia Woolf. Literaturwissenschaftler Rüdiger Steinlein:
"Da ist er natürlich nach wie vor aktuell, weil er einer der großen Vorläufer ist neben E.T.A Hoffmann und anderen der explizit kinderliterarischen Fantastik, und Fantastik ist das Erzähl- und Inszenierungsmodell par excellence. Und damit können Sie heute Ihren Reibach machen, wie man sieht an Harry Potter, das ist ja auch natürlich eine fantastische Zwei-oder Mehr-Welten-Geschichte und ohne dass sie dieses Modell bedient hätte, wäre die Frau Rowling, mit Sicherheit nicht in diese Höhen vorgedrungen."