Der russische Angriff auf die gesamte Ukraine hat in Deutschland zu radikalen Paradigmenwechseln in der Außenpolitik geführt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete eine "Zeitenwende", Deutschland lieferte leichte Waffen und brachte dann auch schwere Waffen auf den Weg.
Und Deutschland diskutiert. Befeuert wurde die Debatte von einem offenen Brief an den Bundeskanzler, in dem sich 28 Intellektuelle am 29.4.2022 gegen weitere Waffenlieferungen wendeten. Eine Eskalation des Konflikts müsse dringend verhindert werden. Ob das durch deutsche Zurückhaltung erreicht werden kann, ist allerdings umstritten.
Ein weiterer Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz setzt die Kontroverse fort. In dem bei „Zeit online“ am 4.5.2022 veröffentlichten Schreiben reagieren Intellektuelle rund um den ehemaligen Grünen-Politiker Ralf Fücks auf das von der Publizistin Alice Schwarzer initiierte Schreiben und sprechen sich ausdrücklich für die Lieferung schwerer Waffen aus.
Ab wann wird Deutschland zur Kriegspartei?
Nach dem Völkerrecht dürfe man einem angegriffenen Staat Waffen liefern, sagte der Politikwissenschafter Thomas Jäger am 3.5.2022 im Deutschlandfunk. Damit werde man nicht zur Kriegspartei. Es gebe dabei auch keine Unterscheidung zwischen Waffen zur Verteidigung oder zum Angriff. Und auch Soldaten der Ukraine an militärischem Gerät zu trainieren, sei rechtlich vermutlich vertretbar.
Diese Auffassung vertritt auch Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD): "Ich gehe davon aus, dass weder diese Ausbildung dazu führt noch die Lieferung von Waffen, sondern wenn wir Soldatinnen und Soldaten entsenden würden in die Ukraine, das wäre ein ganz klares Zeichen. Das werden wir aber auch nicht tun. Das wird nicht geschehen."
Ob Deutschland oder die NATO zur Kriegspartei werden, hänge aber ohnehin vor allem von Putins Willkür ab, meint Thomas Jäger: „Die Interpretation des russischen Präsidenten kann aus allem einen Kriegsgrund machen.“ Putin könne dabei beispielsweise auch die Wirtschaftssanktionen oder ein Öl-Embargo zur Argumentation nutzen. Die Haltung und Handlungen der deutschen Regierung seien daher in dieser Frage zweitrangig.
Wann Deutschland zur Kriegspartei werde, "wird der Kreml entscheiden, nicht wir", sagte auch Alice Schwarzer am 2.5.2022 im Deutschlandfunk. Schwarzer ist Herausgeberin der Zeitschrift Emma und hat den offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz mit verfasst. Dieses Risiko müsse man sehr ernst nehmen, auch weil es einen Atomkrieg nach sich ziehen könne.
Das oberste Ziel der Politik müsse sein, eine Eskalation zwischen NATO-Staaten und Russland* zu vermeiden, sagte auch der Politikwissenschaftler Johannes Varwick am 27.4.2022 im Deutschlandfunk. Deutschland verfolge auch zwei weitere legitime Ziele, nämlich die Ukraine zu unterstützen und Russland einen hohen Preis zahlen zu lassen, doch diese Ziele müssten untergeordnet werden. Die Lieferung von Panzern sei ein Schritt in "eine Involvierung in diesen Krieg", die er durchaus kritisch sehe.
Kapitulation oder Kampf um jeden Preis?
Im offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz hatten die Unterzeichner auch argumentiert, dass Widerstand irgendwann aufhören müsse, wenn dafür sonst zu viel Leid erzeugt werde. Es sei bewundernswert, wie die ukrainischen Streitkräfte die russische Armee gestoppt hätte, sagte Alice Schwarzer, eine der Unterzeichnerinnen, im Deutschlandfunk. Der Preis dafür sei allerdings sehr hoch. Schwarzer führte unter anderem an, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren die Ukraine nicht verlassen dürfen. Man müsse sich fragen, wie man diesen extrem hohen Preis klein halten könne.
Die Ukraine müsse sowohl jegliche humanitäre Hilfe bekommen als auch Defensivwaffen, Waffen zum Angriff solle Deutschland aber nicht liefern, sagte Schwarzer. Das könne das Drama weiter eskalieren. Sie fordere die Ukraine damit keineswegs zu einer Kapitulation auf. Vielmehr müsse eine Verhandlung mit beidseitigen Kompromissen gesucht werden.
Anders äußerte sich der Autor und Filmemacher Alexander Kluge am 29.4.2022 im Deutschlanfunk. „Kapitualiton ist nichts Böses, wenn es den Krieg beendet“, sagte Kluge, der ebenfalls zu den Erstunterzeichnern des offenen Briefes gehört. Man müsse so schnell wie möglich und um jeden Preis Frieden schließen.
"Ohne unsere Waffenlieferungen wäre der Krieg wahrscheinlich schon entschieden worden", sagte der Politikwissenschaftler Johannes Varwick im Deutschlandfunk. Die Frage sei, ob man den aussichtslosen Kampf der Ukrainer am Laufen halten wolle. Russland sei weit überlegen und zu allem entschlossen. Russlands Kriegsziele seien relativ klar: Es wolle die Ostukraine beherrschen, die Krim halten und eine neutrale und demilitarisierte Ukraine. Das seien die Verhandlungslinien, an denen der Konflikt zumindest eingefroren werden könnte. Am Ende müsse die Ukraine selbst entscheiden, was sie tue oder nicht, so Varwick.
Wenn man der Ukraine aber bei ihrer Verteidigung helfe und Waffen liefere, dann trage man auch Mitverantwortung. Es sei daher auch legitim, Einfluss auf die Strategie der Ukraine zu nehmen. "Ich finde es normal, dass man Partnern Ratschläge gibt, das sollte in der Debatte nicht tabuisiert werden", so Varwick.
Dieser Ansicht hat der Politikwissenschaftler Thomas Jäger im Deutschlandfunk vehement widersprochen. Man dürfe sich von außen nicht das Recht herrausnehmen, den Ukrainern zu sagen, was sie zu tun hätten.
Der russischen Aggression nachzugeben, würde zudem ein fatales Signal senden, kommentierte Daniela Vates, Chefkorrespondentin des Redaktionsnetzwerk Deutschland, am 30.4.2022 im Deutschlandfunk: "Wenn sich der Eindruck verfestigt, man könne sich nehmen, was man will, sofern man nur brutal und skrupellos genug ist, wenn Völkerrecht nicht mehr zählt, wird das der Gewalt kein Ende setzen, sondern Russland eher zur Fortsetzung ermutigen, auch anderswo."
Ist die Ukraine militärisch bereits gerüstet genug?
Russland macht nach über zehn Wochen Angriffskrieg kaum noch Geländegewinne. Vor diesem Hintergrund argumentieren die Verfasser des Offenen Briefes, dass es jetzt so etwas wie einen Status quo geben würde und der Zeitpunkt für Verhandlungen gekommen sei.
„Das ist eine schlicht unzureichende Analyse der Lage im Krieg, die hier vorgenommen wird“, entgegnet der Politikwissenschaftler Thomas Jäger. Russland führe einen Zermürbungskrieg und sei dabei weiter deutlich im Vorteil. Russland zerstöre dabei Infrastruktur, töte Menschen und gewinne auch weiter langsam Gelände dazu. Weder politisch noch militärisch sei die Lage reif für einen Waffenstillstand.
Kann die Bundeswehr weitere Waffen entbehren?
Auch die Frage, wie viele Waffen die Bundeswehr liefern kann, ohne dabei die eigene Einsatzfähigkeit zu stark zu schwächen, wird diskutiert. Schon zu Beginn des russischen Angriffskrieges zog der Inspekteur des Heeres*, Alfons Mais, auf der Plattform Linkedin eine verheerende Bilanz zur Einsatzfähigkeit der Bundeswehr. "Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da“, schrieb Mais. Und: „Die Optionen, die wir der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten können, sind extrem limitiert.“
Dennoch wurde aus Bundeswehr-Beständen Ausrüstung geliefert, gleichzeitig hat die Bundesregierung 100 Milliarden an Sondermitteln für neue Ausstattung angesetzt.
Anfang Mai möchte die Bundesregierung nach einem Bericht der "Welt" eine mittlere einstellige Stückzahl der Panzerhaubitze 2000 aus Bundeswehr-Beständen an die Ukraine liefern. Top-Militärs der Bundeswehr hätten sich gegen diese Entscheidung ausgesprochen, weil die Bundeswehr die Ausrüstung selbst bräuchte.
*Wir haben versehentlich von einer Eskalation zwischen NATO-Staaten und Deutschland geschrieben. Gemeint war eine Eskalation zwischen NATO-Staaten und Russland.
*Wir haben den Zuständigkeitsbereich von Alfons Mais richtiggestellt.