Bei einem Amoklauf in den USA wurden erneut unschuldige Zivilisten getötet. In der texanischen Kleinstadt Uvalde hatte ein 18-Jähriger in einer Grundschule 19 Kinder und zwei Lehrerinnen erschossen.
US-Präsident Joe Biden sprach sich nach der Tat für eine Verschärfung des Waffenrechts aus: „Als Nation müssen wir uns fragen, wann in Gottes Namen wir der Waffenlobby die Stirn bieten werden“, sagte er in einer emotionalen Rede an die Nation. Durchsetzen konnten sich die Unterstützer einer Verschärfung bisher nicht. Auch Barack Obama scheiterte an diesem Vorhaben. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie liegen sowohl in der Rechtssprechung des obersten Gerichts als auch in der Urerfahrung der Vereinigten Staaten.
Auf welche Gesetzesgrundlage stützt sich der Waffenbesitz in den USA?
Das Recht auf privaten Waffenbesitz wurde wenige Jahre nach der Gründung der Vereinigten Staaten in einem Verfassungszusatz als Grundrecht verankert - im so genannten Second Amendment. Dieser zweite Zusatzartikel der Bill of Rights wurde 1791 verabschiedet. Dort heißt es: „A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed.“
Der Satz klingt bereits im Original verklausuliert. Und er wird in der deutschen Übersetzung nur dann klarer, wenn man ihn teilweise interpretiert. Das hat die US-amerikanische Botschaft in Deutschland in einem offiziellen Dokument getan: „Da eine gut ausgebildete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates erforderlich ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“
Das Kernproblem der Debatte um Waffenbesitz ist die Interpretation der US-amerikanischen Verfassung: Zunächst lag der Fokus auf dem Begriff "Miliz", also dem dem ersten Teil des Satzes. "Man hat diese Klausel eher in Zusammenhang mit dem Artikel eins der Verfassung gesehen und hat sich auf diesen ersten Teil der Klausel bezogen: diese wohlregulierte Miliz, und hat das vor dem Hintergrund eines Umsturzes verstanden. Eine Art Absicherung der Einzelstaaten gegen einen starken Bundesstaat mit einer starken Armee, der in die Souveränität der Einzelstaaten eindringen könnte“, sagt die Verfassungsrechtlerin Paulina Starski, Professorin an der Universität Graz.
„Das Second Amendment entstand während des Unabhängigkeitskrieges gegen die Engländer, als die Amerikaner eben mit Milizen gegen die Engländer kämpften“, erklärt Walter Grünzweig, Professor für amerikanische Literatur und Kultur an der Technischen Universität Dortmund. Erst im Laufe der Zeit verschob sich der Fokus auf den zweiten Teil - auf "people". Im Laufe der Zeit wurde das Second Amendment zunehmend zum Recht jedes Einzelnen, Waffen zu tragen, uminterpretiert. „Und es gibt leider eine ganze Reihe von Gerichtsbeschlüssen des Supreme Court, die das bestätigen", so Grünzweig weiter.
Supreme Court griff in Gestaltungsrecht ein
Über die Jahrzehnte gab es auf Bundesebene mehrere Gesetze, die den Waffenbesitz einschränkten: zum Beispiel 1934 das Verbot von Maschinenpistolen, wie sie die Mafia benutzt hatte, 1968 die Einführung eines Mindestalters von 21 und das Besitzverbot für überführte Verbrecher sowie für psychisch kranke Menschen.
2008 griff der Oberste Gerichtshof in die Diskussion ein. Die Richter des Supreme Court erklärten damals das restriktive Waffengesetz im politisch selbständigen Washington D.C. für verfassungswidrig. Dreh- und Angelpunkt sei der Zweite Verfassungszusatz, sagte das Gericht:
„Wir sind der Ansicht, das vom District of Columbia ausgesprochene Verbot des Besitzes von Handfeuerwaffen verstößt ebenso gegen den Zweiten Verfassungszusatz wie die Bestimmungen, die die Aufbewahrung funktionierender Waffen in Privatbesitz zum Zweck der Selbstverteidigung verbieten.“
Mit dieser Grundsatzentscheidung erklärte das Gericht somit privaten Waffenbesitz zum Grundrecht. An die Stelle der kollektiven Verteidigung gegen einen Bundesstaat oder die frühere Kolonialmacht trat das Recht auf individuellen Waffenbesitz zur Selbstverteidigung.
Diese Einschätzung nutzen Bundesstaaten seitdem, um eigene Waffengesetze zu erlassen. Einige gelten als äußerst lax, wie etwa in New Hampshire, South Carolina – oder auch in Texas. Hier ist seit dem 1. September 2021 das Tragen von Waffen in Texas ohne Genehmigung erlaubt. Der zu diesem Zeitpunkt noch amtierende republikanische Gouverneur Greg Abbott hatte das entsprechende Gesetz unterzeichnet. Demzufolge darf in der Öffentlichkeit eine Waffe tragen, wer mindestens 21 Jahre alt ist und keiner ausdrücklichen Beschränkung zum Tragen von Waffen unterliegt.
Und bereits 2016 war in Texas ein weiteres umstrittenes Waffengesetz in Kraft getreten: Studenten mit einer Waffenlizenz dürfen seitdem bewaffnet zur Vorlesung kommen. Das soll potenzielle Amokläufer abschrecken. Es trat ausgerechnet am 50. Jahrestag der ersten Massenschießerei an einer Universität in Kraft. Am 1. August 1966 erschoss ein Student 16 Menschen – und zwar an der University of Texas in Austin.
Warum gibt es keine Verschärfung des Waffenrechts?
Das Massaker hat die langanhaltende Debatte um Waffenbesitz erneut angefacht. Bundesweite Gesetze, die den Zugang zu Waffen zu erschweren, gibt es bis heute nicht. Ein US-Präsident kann im Alleingang keine tiefgreifenden Veränderungen durchsetzen. Der Kongress muss mitziehen. Doch für weitreichende Gesetzesänderungen fehlen den Demokraten die nötigen Stimmen. Vor allem viele Republikaner lehnen schärfere Regulierungen ab.
Obamas Vorstöße blieben ohne Wirkung
Nach dem Massaker an einer Grundschule im US-Bundesstaat Connecticut 2012 strebte der damalige US-Präsident Barack Obama mit einer Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz von Joe Biden, damals US-Vizepräsident, eine Verschärfung des Waffenrechts an. Zu deren Vorschlägen gehörten Verkaufsverbote für halbautomatische Waffen, die viele Schüsse in kurzer Zeit ermöglichen, und Magazine mit hoher Schusszahl. Auch sollten Waffenkäufer künftig strenger überprüft werden. Doch Obamas Vorstoß blieb ohne Wirkung. Im Kongress widersetzen sich vor allem die Republikaner Einschränkungen beim Waffenrecht.
Joe Biden hatte sich auch in seinem Wahlkampf der US-Wahl 2020 für eine Verschärfung des Waffenrechts in den USA stark gemacht – anders als sein Vorgänger Donald Trump, der sich für das Tragen von Waffen stark machte.
Im April 2022 unterzeichnete Präsident Biden sechs Dekrete, stellte unter anderem schärfere Regeln für sogenannte Geisterwaffen vor, die als Bausätze online bestellt werden können und keine Seriennummern tragen. Dabei stößt er immer wieder auf den entschiedenen Widerstand der oppositionellen Republikaner.
Die Suche nach Lösungen wird auch dadurch erschwert, dass es zwei gesetzliche Ebenen gibt: die Bundesebene, die von Washington aus regiert wird und Bestimmungen für alle US-Amerikaner schaffen kann. Und parallel die Ebene der insgesamt 50 Bundesstaaten, die, anders als die Länder in Deutschland, gesetzlich große Gestaltungsfreiheiten haben – auch im Strafrecht.
Welche Rolle spielt die National Rifle Association (NRA)?
Die NRA ist eine selbstbewusste, nach eigenen Angaben über fünf Millionen Mitglieder starke und von der Waffenindustrie finanziell geförderte Lobby-Organisation. Sie brandmarkt jeden Versuch, das Waffenrecht einzuschränken, als Verstoß gegen die verfassungsmäßigen Freiheitsgrundsätze.
Wayne LaPierre, stellvertretender Vorsitzender und Geschäftsführer der NRA, formulierte es in einer Rede vor Journalisten einmal so: Das einzige, was einen Bösewicht mit einer Schusswaffe aufhalten würde, sei ein guter Mensch mit einer Schusswaffe. Das Problem seien nicht die Pistolen und Gewehre, sondern die Medien. Einerseits verherrlichten sie durch Videospiele Gewalttaten, andererseits dämonisierten sie US-amerikanische Schusswaffenbesitzer.
Nach dem Amoklauf von Las Vegas mit 59 Toten am 1. Oktober 2017 und dem Schulmassaker von Parkland am 14. Februar 2018 schien die NRA unter Druck zu geraten. Mehrere große Unternehmen wie der Autoverleiher Hertz oder der Software-Hersteller Symantec kamen dem Boykottaufruf unter dem Hashtag #NRABoycot nach und beendeten ihre Zusammenarbeit mit der NRA. Der damalige republikanische Präsident Donald Trump kündigte an, gegen den tödlichen Missbrauch von Schusswaffen an amerikanischen Schulen vorzugehen.
Doch im Monat nach Parkland sammelte die NRA 2,4 Millionen Dollar ein - so viel Geld wie in keinem anderen Monat in den 18 Jahren davor. Und auch politisch machte die NRA ihren Einfluss wieder geltend. Als "Vorgehen gegen tödlichen Missbrauch von Schusswaffen" machte Trump einen Vorschlag: Lehrer sollten bewaffnet und an der Waffe trainiert werden - nur solle niemand wissen, welche Lehrkräfte tatsächlch eine Waffe hätten. Genau das ist ein alter Vorschlag der NRA - ein "guter Mensch mit einer Schusswaffe" eben.
Trump wiederholte auch die Argumentation von Wayne LaPierre. Zwei Beispiele:
Wayne LaPierre: Es sollte für einen Verrückten nicht leichter sein, in einer Schule herumzuballern als in einer Bank, in einem Juweliergeschäft oder auf einer Hollywood-Gala.
Donald Trump: „Ich möchte, dass meine Schulen so gut beschützt werden wie meine Bank.“
Donald Trump: „Ich möchte, dass meine Schulen so gut beschützt werden wie meine Bank.“
Wayne La Pierre: „Wir müssen unsere Schulen sofort wappnen und sicherer machen.“
Donald Trump: „Wir müssen unsere Schulen wappnen und dürfen sie nicht durchlässiger machen.“
Donald Trump: „Wir müssen unsere Schulen wappnen und dürfen sie nicht durchlässiger machen.“
Welche Mentalität steht hinter der Verteidigung des Rechts auf Waffen?
Die große Emotionalität, mit der in den Vereinigten Staaten über Waffen und deren Kontrolle gestritten wird, hat tief in der Geschichte verankerte Ursachen. Dass der Besitz einer Waffe zu den Grundrechten gehört, halten längst nicht mehr alle für zeitgemäß.
„Ein Waffenbesitzer zu sein, ist ein wichtiger Teil ihrer Identität. Das ist kein Werkzeug oder so. Die Waffe definiert sie", sagt Juliana Horowitz vom renommierten Forschungsinstitut „Pew Research Center“. Sie hat in einer aufwendigen Studie das Verhältnis der Amerikaner zu ihren Waffen untersucht.
„Für Waffenbesitzer ist das Recht auf Waffen genauso wichtig wie Redefreiheit oder andere Freiheiten, die Menschen haben. Bei denen die keine Waffen besitzen, ist das anders. Die halten alles andere für zentral. Nur eine Waffe ist für sie keine bedeutende Freiheit, die jeder haben sollte.“
Die Waffenverkäufe in den USA schnellten kurz vor der 59. US-Präsidentschaftswahl in bisher nicht dagewesene Höhen. So wurden im Juni 2020 nach Schätzungen¹ von Analysten der gemeinnützigen Journalisten-Agentur "The Trace" über 2,6 Millionen Schusswaffen in den USA verkauft. Die Gründe dafür sind vielfältig: Neben den Unsicherheiten infolge der Coronakrise, den Black-Lives-Matter-Protesten und drohenden Unruhen im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahl sorgte auch die Furcht vor einer möglichen Anpassung des Waffenrechts nach der Wahl für ein drastisches Ansteigen der Waffenverkäufe. So waren auch schon vor und nach den Wahlen von Barack Obama zum US-Präsidenten stark steigende Waffenverkäufe zu verzeichnen. Im April 2022 lagen die Waffenverkäufe nach Schätzungen bei rund 1,35 Millionen verkauften Schusswaffen.
Somit besitzen 30 Prozent aller Amerikaner eine Schusswaffe, 40 Prozent leben in einem Haushalt, in dem es ein Gewehr oder eine Pistole gibt. Etwa die Hälfte der weißen Männer besitzt eine Waffe. Bei Frauen und nicht-weißen Männern ist es ein Viertel. Die Waffenlobby versucht, sich eine neue Zielgruppe zu erschließen und versucht mithilfe von Influencerinnen in den sozialen Medien, Pistolen an junge Frau zu bringen. Eine von ihnen: Amy Robbins mit ihrer Internetshow „Not your average gun girl“, „Nicht dein Durchschnitts- Pistolenmädchen“. Sie hat ein eigenes Label für Sportmode – und die Models tragen schon mal eine Pistole im Leggins-Bund – so wie sie selbst auch.
Um aber die Emotionalität zu erklären, mit der darüber diskutiert wird, gilt es drei Urerfahrungen der amerikanischen Entwicklung genauer anzuschauen - Urerfahrungen, die sich praktisch in die DNA des „Amerikanerseins“ eingebrannt hat:
1. Die Besiedlung des amerikanischen Westens: Menschen auf sich allein gestellt, Waffen als Lebensversicherung.
2. Der Kampf um die Unabhängigkeit: Britische Kolonialherren, die das Waffenmonopol für sich beanspruchen.
3. Die tief religiösen frühen Einwanderer, die wegen ihres Glaubens zu Hause in Europa unterdrückt und verfolgt. Christen, die sich gegen neue staatliche Tyrannei verteidigen können wollen.
2. Der Kampf um die Unabhängigkeit: Britische Kolonialherren, die das Waffenmonopol für sich beanspruchen.
3. Die tief religiösen frühen Einwanderer, die wegen ihres Glaubens zu Hause in Europa unterdrückt und verfolgt. Christen, die sich gegen neue staatliche Tyrannei verteidigen können wollen.
Es zeigen sich zudem unterschiedliche Entwicklungen zwischen Stadt und Land, sagt Stephen Halbrooke, Jurist und Waffenhistoriker. Auf dem Land hat etwa die Hälfte aller Erwachsenen, egal welcher Herkunft oder Hautfarbe, ein Gewehr oder eine Pistole. In der Stadt sind es weniger als ein Viertel. Zwei Drittel der Waffenbesitzer sagen, sie wollen sich selbst verteidigen. Bei Frauen ist es meist das einzige Motiv, eine Pistole zu kaufen. Männer wollen damit auch jagen und als Sport schießen.
Drei Viertel der Waffenbesitzer sagen: Sie ist wichtig für meine Freiheit.
Und doch sind Mentalitäten nicht festgeschrieben. Nach dem Schulmassaker in Parkland/Florida ging nicht nur ein weiterer Aufschrei durchs Land, sondern Hunderttausende Jugendliche gingen auf die Straße. Sie sagten: Schluss mit euren alten Geschichten. Sorgt dafür, dass Waffen von der Straße kommen, Waffenbesitz reglementiert wird. Wir wollen sicher leben. „Wir sind Zeugen für den Beginn einer Revolution. Das ist nur der Anfang. Niemand sollte glauben, das war’s schon. Vor allem nicht die Politiker, die von der Waffenlobby unterstützt werden“, sagte der damals 17-jährige David Hogg, der zum eloquenten Aushängeschild der Schülerproteste wird. Das Thema Waffen wurde so von einem Tag auf den anderen zum Generationenkonflikt.
(cwu, mit afp, dpa, ap)