Mario Dobovisek: Mehr als 10.000 Menschen fanden seit 2014 den Tod. Die Rede ist von einem anderen Konfliktgebiet, nämlich dem in der Ostukraine. Ab kommender Nacht soll eine Waffenruhe dort herrschen. Darauf haben sich die Regierung in Kiew und die prorussischen Kämpfer im Osten des Landes geeinigt. Wieder einmal, muss man an dieser Stelle sagen, denn Waffenruhen gab es schon häufiger. Immer wieder wurden sie gebrochen, und der Konflikt ging weiter. Florian Kellermann berichtet.
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Am Telefon begrüße ich Gerhard Simon, Historiker, Ukraine-Experte an der Universität Köln. Guten Tag, Herr Simon!
Gerhard Simon: Guten Tag!
Dobovisek: Der Kriegszustand in der Ukraine ist also beendet, eine neue Waffenruhe vereinbart. Wie sehr lässt Sie das auf Entspannung, auf Frieden hoffen?
Simon: Wenig. Wir haben ja, das wurde ja auch schon in dem Korrespondentenbericht gesagt, und Sie haben es wiederholt, wir haben ja solche Waffenruhen schon mehrfach erlebt. Teilweise waren sie zugeschnitten auf Festtage oder auf den Beginn des Schuljahrs. Gehalten hat keine dieser Waffenruhen. Vielleicht muss man aber immer auch an Wunder glauben, und insofern bin ich geneigt, zunächst einmal auch positivem Zweifel zu folgen.
Aber zu unterstellen, dass wir uns dem Ende des Krieges im Osten der Ukraine nähern, ist mehr als naiv, insbesondere, wenn man sich die gesamtpolitische Entwicklung vor Augen führt. Erstens ist der Krieg eskaliert durch die Marineaktivitäten im Asowschen Meer an der Straße von Kertsch. Mehr als 20 ukrainische Seeleute sitzen in Haft, Sie haben es gehört. Sie selbst, diese Seeleute, bezeichnen sich als Kriegsgefangene, was von russischer Seite bisher nicht anerkannt wird. Das ist die eine Sache.
Die andere Sache ist, wir stehen drei Monate vor der Präsidentenwahl in der Ukraine. Die russische Politik ist darauf angelegt, Poroschenko zu schaden. Und auch deswegen ist mit einem Frieden oder auch nur einem stabilen Waffenstillstand kaum zu rechnen, denn das würde ja Poroschenko unterstützen.
Dobovisek: Jetzt gilt aber zunächst, die Waffenruhe unbegrenzt. Das ist ja schon mal was Neues. Bisher war sie ja meistens begrenzt.
Simon: Nein, das hat es auch schon öfter gegeben. Das ist nicht ganz neu. Auch früher haben einige dieser Waffenruhen angeblich unbegrenzt gegolten.
"Die Menschen, die dort leben müssen, sind zu bedauern"
Dobovisek: Es geht ja darum, die kritische Infrastruktur instand zu setzen, das beteuern beide Seiten. Wie wichtig ist das für die Menschen im Osten der Ukraine?
Simon: Die Menschen im Osten der Ukraine, die im Kriegsgebiet leben, sind also nur zu bedauern, und Hilfsaktionen gibt es zwar, aber die können auch nicht von ferne so etwas wie ein normales Leben im Kriegsgebiet wiederherstellen. Die Menschen also, die dort leben müssen, auch natürlich die Soldaten, die dort im Einsatz sind, sind zu bedauern, insbesondere in dieser Winterzeit. Aber das wissen alle, sowohl in der Ukraine als auch in Russland erstaunlicherweise. Bei uns wissen es sehr wenige. Es ist ja doch immer wieder erstaunlich, wie viele Friedensfreunde wir bei uns haben, und wie wenig diese unsere deutschen und europäischen Friedensfreunde sich interessieren für den Krieg im Osten der Ukraine.
Dobovisek: Wie sollte sich das ändern?
Simon: Ich fürchte, das wird sich überhaupt nicht ändern in absehbarer Zeit. Der Krieg dauert jetzt seit vier Jahren, und wie gesagt, ein Ende ist kurzfristig nicht abzusehen. Auf keinen – also meine Einschätzung –, jedenfalls nicht vor den Wahlen, Präsidentschaftswahlen Ende März in der Ukraine. Was danach sein wird, hängt natürlich auch von den Wahlergebnissen ab in der Ukraine. Sollte es zu einer neuen politischen Führung in Kiew kommen, dann kann es sein, dass die Koordinaten sich verändern. Aber darüber können wir jetzt eigentlich nichts sagen.
"Eropäische Union ist auch nur begrenzt handlungsfähig"
Dobovisek: Sie haben ja über die Eskalation des Krieges gesprochen, des Konfliktes. Jetzt hat Russland auf der annektierten Krim entlang der Grenze zur Ukraine einen 60 Kilometer langen Zaun errichtet. Es sei notwendig, die Bevölkerung vor der Regierung in Kiew zu schützen. Was bedeutet das?
Simon: Das bedeutet eigentlich auch nichts Neues. Es gab auch bisher eine rigoros bewachte Grenze an der administrativen Grenzlinie zwischen der Halbinsel Krim und dem ukrainischen Festland. Dieser Zugang zur Krim war nur sehr begrenzt möglich, und so wird es sicher auch in Zukunft bleiben. Mir scheint, dass diese Errichtung eines Grenzzauns, von dem die Russen jetzt sprechen, mehr eine psychologische Wirkung haben soll.
Dobovisek: Das kritisiert die EU scharf. Der Zaun sei völkerrechtswidrig, schaffe weitere Fakten. Wie sollte die EU reagieren?
Simon: Das schafft weitere Fakten, zum Beispiel ein anderes Faktum, um in die gleiche Richtung zu argumentieren, derzeit sind nach Erkenntnissen des ukrainischen Geheimdienstes etwa 11.000 russische Soldaten im Osten der Ukraine im militärischen Einsatz. Eine doch sehr eindrucksvolle Zahl.
Aber auch das ist eine Tatsache, ein Faktum, das bei uns wenig Resonanz findet. Und die Europäische Union ist natürlich auch nur begrenzt handlungsfähig. Das Einzige, was wir haben, ist das sogenannte Minsker Format oder das Normandie-Format in Form eines Gesprächsforums in Minsk. Das gibt es seit mehreren Jahren. Viel hat sich nicht bewegt. Auf der anderen Seite muss man wahrscheinlich diplomatisch daran festhalten, solange man nichts anderes hat. Was anderes wäre, das ist von ukrainischer Seite vorgeschlagen worden, eine große UN-Friedenstruppe im Osten der Ukraine, um dann den Krieg zu beenden und den Frieden vorzubereiten. Russland ist nicht bereit, auf einen solchen Vorschlag einzugehen.
"Keine süßlichen Redensarten, keine Umarmungspolitik"
Dobovisek: Jetzt fordert der Außenpolitische Sprecher der SPD eine neue Russlandpolitik. Die bisherigen Dialoge hätten in der Substanz nichts gebracht, sagt er, denn Russland bewege sich in entscheidenden Fragen wie eben im Ukraine-Konflikt überhaupt nicht. Schluss mit den alten Männerfreundschaften à la Schröder, sagt er, mehr klare Kante gegenüber Moskau. Ganz so, wie Heiko Maas es als Außenminister angehe. Liegt er damit richtig?
Simon: Ja. Ich glaube, das ist der einzige gangbare Weg. Wir, das heißt Deutschland und die Europäische Union, haben jahrelang versucht, sozusagen halb die Augen zu schließen vor dem, was da passiert in der Hoffnung, dass man mit halb geschlossenen Augen mehr sieht. Es zeigt sich aber, dass das nicht funktioniert. Und irgendwann muss man doch, wenn eine Politik nichts bringt, überlegen, dass man sie ändert.
Dobovisek: Sanktionen gibt es ja bereits. Mehr Peitsche als Zuckerbrot?
Simon: Vor allen Dingen mehr klare Worte, keine süßlichen Redensarten, keine Umarmungspolitik, keine naiven Erwartungen gegenüber Russland. Das wäre schon mal was. ich meine, Worte sind ja auch Politik, und Worte sind sehr wichtig, nicht zuletzt auch, denke ich, um in Deutschland die öffentliche Meinung ein wenig in eine andere Richtung zu bewegen. In Russland wird das durchaus zur Kenntnis genommen. Es ist nicht so, dass den Russen das alles egal ist, wie hier über ihr Land gesprochen wird. Auch Putin ist da ziemlich sensibel. Und insofern finde ich klare Kante... – das heißt ja nicht Abbruch des Dialogs, natürlich nicht. Wir haben ja gar keine andere Möglichkeiten als den Dialog.
"Amerikanische Russland-Politik ist sehr ambivalent"
Dobovisek: Gibt es denn überhaupt noch einen Dialog? Wenn man sich da die militärischen Ebenen anguckt, da ist mir aufgefallen, dass Wolfgang Ischinger, der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, neulich erst gesagt hat, die Situation zwischen Russland und den USA sei viel gefährlicher als im Kalten Krieg, weil es kaum noch Dialog auf den Arbeitsebenen gebe. Wie schätzen Sie das ein?
Simon: Sie sprechen jetzt von Russland und den USA. Das ist ja sozusagen eine andere Ebene.
Dobovisek: Aber vielleicht die viel wichtigere Ebene, weil wir alle davon abhängen?
Simon: Was zwischen Russland und den USA wirklich läuft, das ist meine Vermutung, das wissen wir nur zum Teil. Ich habe den deutlichen Eindruck, dass es da natürlich den offenen Kanal gibt und die Dutzenden von Tweets, die der amerikanische Präsident absetzt. Meine Vermutung ist allerdings, dass es auch noch andere Kanäle gibt. Was auf denen wirklich läuft, wissen wir nicht.
Die amerikanische Russland-Politik ist ja sehr ambivalent. Auf der einen Seite gibt es diese sogenannte Männerfreundschaft zwischen Trump und Putin, auf der anderen Seite gibt es eine sehr scharfe Sanktionspolitik, die vor allen Dingen vom amerikanischen Parlament, aber auch von vielen anderen außerhalb des Parlaments in Washington gestützt wird. Man hat ja manchmal den Eindruck, der Präsident macht die eine Russland-Politik, und das amerikanische Parlament, teilweise plus State Department, Außenministerium, macht eine andere Russland-Politik. Ich finde das sehr schwer zu durchschauen. Und wer mal die – einmal hat der eine die Oberhand, mal der andere.
Dobovisek: Wir halten also fest, klare Kante, mehr klare Kante gegenüber Russland. Gerhard Simon, Ukraine-Experte an der Universität Köln. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Simon: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.